© Fondation Sana

«Ich wollte etwas zurückgeben»

Siegfried Schiesser erhielt kürzlich den Prix Sana. Die Auszeichnung ehrt Persönlichkeiten, die sich unermüdlich für andere Menschen einsetzen. Ein Schicksalsschlag bewog den 64-jährigen Glarner dazu, sein Leben umzustellen – und anderen zu helfen.

Interview: Fabian Rottmeier

Für Mitmenschen Autofahren, Steuererklärungen ausfüllen, Notrufknöpfe und Gärten warten: Weshalb helfen Sie anderen Menschen in Ihrer Freizeit?
Am Ursprung steht ein prägender Schicksalsschlag: Meine Frau verstarb 2006 mit 45 Jahren an Krebs. Unsere Söhne waren damals 6 und 16 Jahre alt. Ich arbeitete bei der Polizei, konnte mein Arbeitspensum zwar in der Folge auf 80 Prozent reduzieren, blieb jedoch bei der Betreuung unseres jüngsten Sohnes auf viel Fremdhilfe angewiesen. Zudem hatte ich durch die Krebserkrankung meiner Frau – mit vielen Fahrten in Spitäler und Arztpraxen – erlebt, wie gross die Dankbarkeit ist, wenn man Freunde und Verwandte hat, die einem in einer solchen Lage helfen und beistehen. Durch diese Erfahrung wollte ich anderen etwas zurückgeben.

Halfen Sie damit auch ein wenig sich selbst – nach Ihrem tragischen Verlust?
Das kann man durchaus so sagen. Ich war grundsätzlich aber schon immer hilfsbereit. Auch mein Umfeld: Meine Eltern und Schwiegereltern, aber auch meine Schwester waren mir wertvolle Stützen, als meine Frau erkrankte. In meinen Freiwilligeneinsätzen habe ich gesehen, dass viele Leute im Alter kein grosses soziales Netz mehr haben, das sie auffängt oder ihnen hilft.

Sie begannen Ihr Engagement 2012, nachdem Sie sich mit 55 Jahren hatten frühpensionieren lassen.
Meinen jüngsten Sohn plagten vermehrt Verlustängste, wenn ich zur Arbeit ausrücken musste. Nach reichlicher Überlegung und einem detaillierten Budget entschloss ich mich deshalb zu diesem Schritt. Per Zeitungsinserat las ich, dass das Schweizerische Rote Kreuz Glarus freiwillige Fahrer sucht. Also meldete ich mich. Ein Jahr später engagierte ich mich zudem bei Pro Senectute Glarus als Helfer für die Steuererklärungen. 2017 schloss ich mich auch noch dem Pro-Senectute-Projekt «Senioren für Senioren» an. Dort verrichte ich Gartenarbeiten, hie und da leiste ich auch Fahrdienste.

Die Gehrten: Regula Meyer (li.), Siegfried Schiesser und Maria Lopez (© Fondation Sana)

Prix Sana – Der Gesundheitspreis für Menschen mit Engagement

Der Prix Sana ehrt jährlich Persönlichkeiten, die sich unermüdlich für andere, oft benachteiligte Menschen einsetzen. Seit 2011 erhielten 33 Personen den mit jährlich 30000 Franken dotierten Preis, der von der Fondation Sana vergeben wird. Die Fondation Sana ist eine gemeinnützige Stiftung im Gesundheitswesen und Hauptaktionärin der Helsana AG. Den «Prix Sana 2022» erhielten neben Siegfried Schiesser aus Ennenda auch Maria Lopez aus Bonvillars und Regula Meyer aus Kölliken.

Weitere Infos und Eingabe für Nominierungen des Prix Sana 2023: prix-sana.ch, Telefon 031 368 15 83

Lassen sich die Menschen, die Sie dabei antreffen, immer gerne helfen?
Ja, und sie sind wahnsinnig dankbar! Sie lassen sich aber nicht von allen helfen: Oft höre ich, dass sie ihren Kindern, die vielleicht nicht gerade in der Gegend leben, nicht zur Last fallen möchten und nicht nach deren Hilfe fragen – oder diese gar ablehnen. Sie hätten sonst ein schlechtes Gewissen.

Wie viele Stunden leisten Sie pro Woche in etwa?
Im November kam ich für Pro Senectute Glarus auf 19 Einsätze und 25 Stunden. Kürzlich zählte ich aus Spass meine Einsätze von «Senioren für Senioren» zusammen: In rund acht Jahren leistete ich 2800 Stunden. Insgesamt habe ich fürs Rote Kreuz und Pro Senectute in rund zehn Jahren über 11000 Stunden gearbeitet. Für meine Fahrdienste fuhr ich dabei 100000 Kilometer weit.

Kommt Ihre eigene Freizeit da nicht zu kurz?
Da meine Partnerin seit dem vergangenen Jahr ebenfalls pensioniert ist, muss ich schon etwas darauf achten, dass wir genügend gemeinsame Zeit haben. Ich möchte mein Pensum etwas reduzieren. Aber das ist gar nicht so einfach, auch wenn ich bereits vor zwei Jahren entschieden habe, keine neuen Aufträge für Gartenarbeiten entgegenzunehmen. Der Zeitbedarf wird pro Person aber auch so immer grösser: einerseits bitten mich die Menschen durch das entstandene Vertrauensverhältnis um immer mehr Arbeiten, andererseits sind sie durch ihr fortschreitendes Alter auch darauf angewiesen. Ich mache mir nicht immer einen Gefallen damit, dass ich schlecht nein sagen kann. (lacht)

Wie wichtig ist der soziale Aspekt bei Ihrer Arbeit?
Häufig ist ein grosses Gesprächsbedürfnis da, wenn jemand alleine lebt und vielleicht manchmal einsam ist. Viele schätzen es, wenn ich mir noch kurz Zeit nehme für einen Kaffee. Ich sehe meine Rolle jedoch beim Anpacken und nicht beim Käffelen. Gerne weise ich dann jeweils auf die sozialen Besuchsangebote von Pro Senectute hin. 

Gewinner des Prix Sana 2022, Siegfried Schiesser aus Ennenda im Kanton Glarus
Siegfried Schiesser nahm die Auszeichnung im November 2022 an einer Preisverleihung entgegen. (© Fondation Sana)

Was gibt Ihnen die Freiwilligenarbeit?
Es macht mir Freude, draussen zu sein und einer körperlichen Beschäftigung nachzugehen. Ein Fitnesscenter brauche ich nicht. Wenn ich zu Hause im Garten auf dem Liegestuhl sitze, dauert es meistens nicht lange, bis ich etwas entdecke, das es noch zu schneiden oder zu machen gibt.

Als Entschädigung erhalten Sie pro Stunde ein paar Franken. Wie hielten Sie sich in all den Jahren finanziell über Wasser?
Ich habe zum Glück ein eigenes Haus und habe immer versucht, so sparsam wie möglich zu leben. Es geht mir gut dabei. Ich bin zufrieden. Durch die Fahrspesen kommt auch noch etwas zusammen.

Was ist Ihre Motivation, anderen bei einer mühsamen Angelegenheit wie der Steuererklärung zu helfen?
Die Kopfarbeit hat mich daran gereizt. Heute weiss ich, dass ich damit vielen älteren Menschen ein paar Sorgen nehmen kann. Manche rufen mich an, bevor sie die Steuerunterlagen überhaupt erhalten haben. Sie wollen sich vergewissern, dass ich ihnen auch im neuen Jahr wieder damit helfe. Die Leute bringen die Unterlagen jeweils bei Pro Senectute vorbei oder schicken sie ein. In den meisten Fällen sind alle Dokumente vorhanden. Nach ein bis zwei Stunden ist meine Arbeit getan. Bei einem Hausbesuch habe ich aber auch schon einen hohen Stapel an Kuverts angetroffen und musste jedes einzeln durchgehen. 

Wie haben Sie davon erfahren, dass Sie für den Prix Sana nominiert worden sind?
Durch meinen Bruder, der mich anrief, um mir mitzuteilen, dass er mich für eine Nominierung angemeldet habe. Etwa zwei Monate später meldete sich die Fondation Sana, die Organisatorin des Preises, bei mir. Ich sei in der engeren Auswahl und man würde sich gerne mit mir treffen, hiess es. Eine der drei Personen, die zu Besuch kam, war Moderatorin Sandra Studer, die ich natürlich von ihrer Arbeit am Fernsehen kannte. Nach dem Gespräch stand für das Trio fest, dass ich, als eine von drei Personen, den Prix Sana 2022 erhalten soll.

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?
Sie freut mich sehr. Ich war völlig überrascht. Wahnsinn, dieses Preisgeld! Mir ging es bei meiner Freiwilligenarbeit immer ums Helfen – das war stets meine Motivation. Ein Danke am Ende reicht mir. Es wäre schön, wenn durch diese Berichterstattung weitere Menschen zu Freiwilligenarbeit motiviert würden. Die einen geniessen das Pensionsalter durch Nichtstun, die anderen so wie ich durch ehrenamtliche Tätigkeiten.

Und wobei lassen Sie sich selbst helfen?
Hmmh … da kommt mir jetzt gerade nichts in den Sinn … Ich bin schon ziemlich selbstständig, koche und wasche selbst und wollte meinen Söhnen damit immer ein Vorbild sein. Als gelernter Elektromechaniker bin ich auch handwerklich gut unterwegs.

Lust auf Freiwilligenarbeit? Hier erfahren Sie mehr über die Einsatzmöglichkeiten bei bei Pro Senectute.

Siegfried Schiesser im Videoporträt

Beitrag vom 09.12.2022

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