Glück am Gätziberg
Heidi Räss-Sonderegger kam am Gätziberg oberhalb von Altstätten SG zur Welt und blieb ihr ganzes Leben dort. Auf dem Schulfoto von 1957 sitzt die Drittklässlerin vorne in der Mitte.
Unser Schulhäuschen am Gätziberg oberhalb von Altstätten SG war winzig. Es umfasste ein einziges Schulzimmer für die Gesamtschule der ersten bis achten Klasse sowie eine kleine Wohnung für den Lehrer. Auf dem Foto von 1957 sitzen in der ersten Reihe der einzige Erstklässler als Zweiter von links und rechts aussen einer meiner beiden Brüder. Ich selbst bin die Grosse vorne in der Mitte mit der Kurzhaarfrisur. Meine Zöpfe durfte ich zum Glück schon in der ersten Klasse abschneiden.
Bereits meine Eltern hatten die Schulbank in diesem Schulhaus für die katholischen Kinder gedrückt. Die evangelischen Schülerinnen und Schüler besuchten ein anderes Schulhaus, das für mich eigentlich näher lag. Auf dem Schulweg kamen wir täglich daran vorbei und spielten oft mit den reformierten Gspänli. Wir Kinder hatten im Gegensatz zu den Erwachsenen keine Berührungsängste, aber damals waren getrennte Schulen für beide Konfessionen selbstverständlich. Auch eine Heirat mit einem «Andersgläubigen» sahen Eltern gar nicht gern. Wirklich, waren das noch Zeiten!
«Heufrei» bei schönem Wetter
Unser Lehrer war ein eleganter Bündner namens Alois Candreia, frisch vom Seminar. Während er mit den einen etwas besprach, sollten die anderen still für sich arbeiten, was selten klappte. Schulstoff waren vor allem die Grundlagen Lesen, Schreiben und Rechnen. Im Sommer gingen die Grossen nur am Morgen und die Kleinen nur am Nachmittag zur Schule. Die meisten stammten aus Bauernfamilien, die froh waren, dass die Kinder bei schönem Wetter «heufrei» hatten und daheim helfen konnten.
Für den Religionsunterricht gingen wir zu Fuss eine halbe Stunde nach Altstätten hinunter. Ebenso für die Handarbeit – natürlich nur die Mädchen, die Buben hatten frei. Wie das Foto zeigt, liefen im Sommer alle barfuss und wir Mädchen trugen eine Schürze. Angestrickte Ärmel machen deutlich, wie bescheiden wir damals lebten und wie sparsam man mit Kleidern umging. War ein Rock etwas kurz, lag das sicher nicht an der Mode…
Kulturschock in der Sek
Die meisten meiner Kameradinnen absolvierten die acht obligatorischen Schuljahre und arbeiteten danach im Service oder in einem Haushalt. «Mädchen heiraten ja sowieso bald», hiess es. Ich war eine der wenigen aus meiner Schule, die nach bestandener Prüfung drei Jahre lang die «Sek» im Kloster Maria Hilf in Altstätten besuchen konnte. Unter den «Stadt-Meitli» hatte ich anfangs einen kleinen Kulturschock: Plötzlich waren meine Mitschülerinnen Töchter von Ladenbesitzern oder des Zeitungsredaktors, da konnte meine Garderobe natürlich nicht mithalten.
Internatsschülerinnen und Externe sassen in verschiedenen Klassen, da die Klosterfrauen, die uns unterrichteten, unseren «weltlichen Einfluss» fürchteten. Dass ich meinen halbstündigen Schulweg im Winter oft in Skihosen zurücklegte, gefiel den Schwestern gar nicht. Hosen für Frauen und erst recht Jeans waren damals noch undenkbar.
Nach einem Welschlandjahr wäre ich gerne Verkäuferin geworden, doch zu jener Zeit kamen gerade die Selbstbedienungsläden auf. Mein Vater, als Strassenwärter Kantonsangestellter, riet mir zu einer einjährigen Ausbildung als Betriebsassistentin bei der Post. Die PTT genoss als Arbeitgeberin hohes Ansehen und zahlte schon während der Lehre gut. Am Geldschalter erhielten wir zudem Risikozulage und auch Früh- und Spätschichten wurden extra entlöhnt. Natürlich läuft heute so vieles, was wir damals von Hand erledigten, in den modernen Verteilzentren ganz automatisch.
Von der Post auf den Bauernhof
Mir gefiel mein Beruf, da ich gerne mit Menschen arbeite. Vom Dienst am Schalter kannten mich auch viele Leute im Städtli. Wo man zum Einsatz kam, konnte man nicht selbst wählen, der Arbeitsort wurde uns zugeteilt. Später absolvierte ich die Bäuerinnenschule und gab meinen Beruf auf. Nach der Heirat übernahmen mein Mann und ich den Bauernhof, der bereits meinen Grosseltern gehört hatte, und zogen vier Kinder gross.
Wer «bauert», muss mit Leib und Seele dabei sein und Freude an der Arbeit haben. Das gilt heute noch viel mehr als früher. Unterdessen haben Sohn und Schwiegertochter den Hof übernommen und wir leben im Stöckli etwas unterhalb, wie früher schon meine eigenen Eltern. Uns dünkt dies eine gute Mischung aus Nähe und Distanz: Wenn nötig können wir bei den Jungen einspringen, führen aber doch unser eigenes Leben.
Seit vielen Jahren bin ich auch als Laienseelsorgerin in unseren Altersheimen im Einsatz – eine befriedigende Tätigkeit, die meinem Leben Struktur gibt. Mein Mann geht im Sommer z’Alp, das ist seine grosse Leidenschaft. Ich selbst bleibe gerne daheim. Weiter als mit den Ministrantinnen und Ministranten nach Rom bin ich nicht gereist. Das Meer habe ich nie gesehen. Hier am Gätziberg hat es mir nie an etwas gefehlt. Es gibt sicher spannendere Lebensgeschichten als meine, aber ich bin sehr zufrieden damit. Mein Glück ist, dass ich noch so viele Aufgaben und genügend Kraft dafür habe.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger
Der Artikel Anno dazumal über Heidi Räss-Sonderegger hat mich (Jg. 1964) über die eigene Jugendzeit nachdenken lassen. Materiell um Welten weniger opulent als die heutigen Jungen. Dennoch blicke ich nicht unzufrieden zurück. Es war schön und ich würde meine Jugend gerne wieder im gleichen Stil erleben. Auch der Mangel an Reisen erachte ich nicht als Hadicap. Zufriedenheit ist weit wichtiger. Das stahlt der Artikel über Heidi Räss-Sonderegger aus und das gefällt mir.