«Grosseltern wissen, dass im Leben nicht alles machbar ist»
Psychologin und Psychotherapeutin Hanna Wintsch erklärt, was Grosseltern helfen kann, damit sie nicht in Trauer versinken, wenn ein Enkelkind stirbt.
Eltern verlieren ein Kind, Grosseltern ein Enkelkind. Wie lässt sich das gemeinsam verarbeiten?
Das hängt von diversen Faktoren ab: der Beziehung zwischen den Generationen zum Beispiel. Wo Probleme diese belasten, lässt sich eine so existenzielle Situation kaum gemeinsam durchstehen. Auch andere Faktoren spielen eine Rolle: ob Grosseltern noch im Arbeitsprozess sind, in der Nähe oder weit weg wohnen, ob sie alt und vielleicht gebrechlich sind. Sie können nicht immer verfügbar sein.
Ist die Familie bei Krankheit und Tod nicht eine selbstverständliche Kraftquelle?
Ein familiäres Beziehungsgeflecht kann eine wichtige Ressource sein: Grosseltern sind dann unentbehrliche Hilfe und Unterstützung. Familiäre Beziehungen sind aber auch störanfällig – von allen Seiten. Grosseltern sagen mir oft, sie wagten der jungen Familie kaum zu telefonieren, weil es immer der falsche Moment sei. Umgekehrt mussten wir schon vermitteln, wenn Eltern uns gebeten haben, die Grosseltern sollten weniger zu Besuch kommen.
Warum?
Schuldgefühle und Schuldzuweisungen treten oft bei Unfällen und plötzlichen Todesfällen auf. So gibt es Grosseltern, die überhäufen die Eltern mit Vor-würfen, bürden ihr eigenes Leid und ihre Trauer ihrem Sohn oder der Tochter auf. Diese haben aber mit sich selbst genug zu tun, sie können nicht noch den Schmerz anderer ertragen. Grosseltern müssen ihre Trauer mit Freunden, mit Gleichgesinnten oder mit anderen Verwandten teilen.
Also ist Sensibilität gefragt?
Ja. In einer so schwierigen Situation passieren schnell Verletzungen und Missverständnisse. Man darf nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, darf nicht nachtragend sein. Man muss wissen, dass auch Gereiztheit, Ungeduld, Wut und Ärger zum Schmerz gehören, und soll sie nicht persönlich nehmen. In der Trauer gibt es keinen richtigen Weg; jeder ist individuell. Deshalb ist eine offene Kommunikation so wichtig.
Wie kann diese aussehen?
Indem man versucht, auf einer konkreten, verhandelbaren Ebene zu bleiben. Die jungen Eltern eines schwer kranken Kindes können die Grosseltern fragen: Wo dürfen wir euch einspannen? Wo seid ihr bereit zu helfen? Grosseltern ihrerseits sollen nachhaken: Ich helfe gern, aber darf ich sagen, wenn es mir zu viel ist? Ich bin unsicher, wie ich helfen kann – sagt ihr es mir? Grosseltern haben auch eine wichtige Aufgabe gegenüber gesunden Geschwisterkindern, die oft im Schatten ihres kranken Bruders oder ihrer kranken Schwester stehen und zu kurz kommen.
Grosseltern möchten helfen, geben Rat, kennen diesen Arzt, jene Massnahme …
Sie sollen Eltern in ihrem Prozess und ihrer Trauer respektieren, keine ungefragten Ratschläge erteilen, Therapien und Massnahmen akzeptieren, für die sich die Eltern entschieden haben. Ist die Beziehung gut, gibt es viele Möglichkeiten, den jungen Eltern beizustehen, konkret zu helfen oder auch nur für sie da zu sein und Halt und Trost zu bieten. Im guten Sinn geteilte Trauer, eine tröstende Umarmung, gemeinsames Da-Sein können für beide Seiten hilfreich sein. Zudem können Gross-eltern Wertschätzung und Anerkennung ausdrücken, ihre eigenen rundum belasteten Kinder loben für das, was sie tun, und ihnen sagen: Ihr macht es gut.
Grosseltern sind ja selber voller Trauer und Leid. Was kann ihnen helfen?
Wichtig ist, dass sie zu sich selber Sorge tragen und Dinge tun, die ihnen lieb sind – was auch immer. Dass sie Schritt für Schritt den nächsten Tag anpacken und nicht ständig alle schlimmsten Möglichkeiten vorausnehmen. Und das Wichtigste: Dass sie sich gestatten, auch fröhlich zu sein, zu lachen, sich zu freuen – nicht zuletzt mit den gesunden Geschwistern.
Haben Grosseltern aufgrund ihres Alters besondere Ressourcen?
Grosseltern haben in der Regel gelernt, mit Schicksalsschlägen umzugehen. Vielleicht ist schon ein Partner gestorben, sie haben ein Kind verloren, jetzt noch das Grosskind … Sie wissen, was es heisst, loszulassen und Abschied zu nehmen. Sie haben erfahren, dass im Leben nicht alles machbar ist, dass Dinge geschehen, die sich ihrem Einfluss entziehen. Sie haben eine Perspektive entwickelt: Das Leben geht trotz allem weiter. Sie können mentales Vorbild sein.
Hilft eine religiöse Haltung?
Ein spiritueller Hintergrund ist meist hilfreich. Es gibt aber auch Betroffene, die sich dann von Gott abwenden. Sie quälen sich mit Sinnfragen: Warum unser Kind? Unser Grosskind? Kinder bis etwa acht Jahre – unabhängig davon, ob die Eltern religiös sind oder nicht – haben in der Regel einen selbstverständlichen Bezug zu einer spirituellen Dimension. Für sie ist es weniger schlimm zu sterben als für ihre Eltern. Es ist, als würde eine vorgeburtliche Geborgenheit oder ein Aufgehobensein sie im Leben noch eine Zeit lang begleiten.
Wie kann man lernen, einen solchen Schicksalsschlag in sein Leben zu integrieren?
Wir können unglaublich viel von Kindern lernen. Erwachsene wissen nicht wohin mit ihrer Trauer, und Kinder sagen: Ich habe Hunger. Auch wenn sie todtraurig sind, wollen sie essen, schlafen, nach draussen, in die Schule gehen, gross werden. Sie können uns Vorbild sein: Wir dürfen in Trauer leben, aber nicht darin versinken.
Hanna Wintsch
Dr. phil., ist Psychologin und Psychotherapeutin und spezialisiert auf Notfall- und Traumatherapie. Als Leitende Psychologin am Ostschweizer Kin-derspital St. Gallen arbeitet sie mit krebskranken und traumatisierten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien. Sie war als Projektleiterin, Psychotherapeutin und Ausbildnerin auch in Bosnien, Kosovo und Palästina tätig.
Adresse: Hanna Wintsch, Ostschweizer Kinderspital St. Gallen, Claudiusstr. 6, 9006 St. Gallen, hanna.wintsch@kispisg.ch
Interview aus Zeitlupe 6/16.
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