Getrost dem Ende entgegen
Am 6. Dezember 2019 starb Leni Altwegg mithilfe von Exit in ihrer Zürcher Alterswohnung. Die 95-jährige pensionierte Pfarrerin machte daraus kein Geheimnis. Was früher ein Tabu war, ist heute selbstverständlicher geworden.
Von Usch Vollenwyder
Leni Altwegg war bereit. Im vergangenen Mai war sie 95 Jahre alt geworden. Die körperlichen Gebresten hatten zugenommen, im Juli wurde Lungenkrebs diagnostiziert. Im November schrieb sie einen Zusatz zu ihrem Lebenslauf, den sie schon zwei Jahre zuvor verfasst hatte: «Ich habe bereits weitgehend von Bezugspersonen, Freundinnen und Freunden Abschied genommen und es genossen: Man hört nie so viele Nettigkeiten über sich selber wie bei dieser Gelegenheit! Exit ist organisiert. Dem Ende sehe ich getrost, ja erlöst entgegen.»
Leni Altwegg, eine der ersten Pfarrerinnen im Kanton Zürich und in der Schweiz, starb am 6. Dezember 2019 in ihrer Wohnung im Tertianum Segeten in Zürich Witikon. Dort hatte sie die letzten Jahre gelebt. Neben dem Freitodbegleiter von Exit waren ihre Patentochter Ruth Dold-Altwegg und ihre langjährige Freundin Ruth Straub bei ihr. In der Todesanzeige steht: «… auch an ihrem Lebensende fühlte sie sich von einem liebevollen Umfeld getragen. Sie war erleichtert, ihr Leben und ihr Sterben im Rahmen von Exit abschliessen zu können.»
«Leni war eine mutige und unabhängige Frau», schaut ihre engste Bezugsperson Ruth Dold zurück. Auf der Kanzel und in ihrem Privatleben bezog sie Stellung gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Mit ihrem Engagement in der Anti-Apartheid-Bewegung setzte sie ein Zeichen für Gleichberechtigung und Geschwisterlichkeit. Einengende Strukturen und Hierarchien lehnte sie auch in der Kirche ab. Sie ging beharrlich ihren Weg und stand zu ihren Entscheidungen. «Sie wollte, dass Exit in der Todesanzeige erwähnt wird», sagt Ruth Dold. Eine Todesanzeige sollte – für alle lesbar – an der Informationstafel im Tertianum Segeten ausgehängt werden. «Ihr Sterben mit Exit sollte kein Geheimnis sein.»
Die Statistik zeigt: Wie Leni Altwegg starben 2018 insgesamt 905 Menschen mithilfe von Exit. Ihr Durchschnittsalter betrug knapp achtzig Jahre. Rund ein Viertel von ihnen litt an Mehrfacherkrankungen, meist verbunden mit fortgeschrittenem Alter. Die meisten starben in ihrer Wohnung. 122 Personen, dreizehn Prozent, beanspruchten eine Freitodbegleitung im eigenen Zimmer ihres Alters- oder Pflegeheims. Gegen zwanzig Sterbewillige mussten ihre gewohnte Umgebung verlassen, weil Sterbehilfe in den Räumen ihrer Institution nicht erwünscht oder zugelassen ist. In diesen seltenen Fällen stellt Exit ein Sterbezimmer zur Verfügung.
Jede Institution entscheidet selber
Beihilfe zum Suizid ist gemäss Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches nicht strafbar – sofern sie nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. In der Öffentlichkeit ist der begleitete Suizid mit einer Sterbehilfeorganisation breit akzeptiert. Eine nationale Regelung gibt es nicht. Immer mehr Kantone erlassen deshalb eigene Richtlinien. Der Zürcher Stadtrat erlaubte bereits im Jahr 2000 Sterbehilfe in den städtischen Alters- und Pflegeheimen. In der Regel entscheidet jede Institution selber, ob sie in ihren Räumen Freitodbegleitungen zulassen will oder nicht. Exit geht davon aus, dass inzwischen rund die Hälfte assistierten Suizid erlauben.
«Zwar steht die palliative Betreuung unserer Gäste im Mittelpunkt, aber begleiteter Suizid ist gestattet», sagt Jan Hollenstein, Geschäftsleiter des Tertianums Segeten: «Vorrang hat das Selbstbestimmungsrecht jedes und jeder Einzelnen.» Ein internes Positionspapier, an dem Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Berufsgruppen mit- gearbeitet haben, regelt den Umgang mit dem begleiteten Suizid in den Tertianum Wohn- und Pflegezentren. Jeder Gast werde bereits beim Eintrittsgespräch darauf angesprochen; kaum je bekämen sie negative Reaktionen zu hören – im Gegenteil: «Die klare Position und Transparenz werden geschätzt», sagt Jan Hollenstein.
Ein Bundesgerichtsurteil vom 3. November 2006 hält fest, dass in der Schweiz jedem urteilsfähigen Menschen das Recht zusteht, über Art und Zeitpunkt seines Sterbens selber zu entscheiden. «Wir leben in einer Gesellschaft, die solche Fragen aufwirft. Es liegt in unserer Verantwortung, dass wir uns diesen Fragen stellen, nach Antworten suchen und individuelle Lösungen akzeptieren», sagt Heinz Rüegger, Theologe, Ethiker und Gerontologe. Für den freien wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts Neumünster in Zollikerberg ist es selbstverständlich, dass Heimbewohnerinnen und -bewohnern auch bezüglich ihres Sterbens die gleichen Rechte zustehen wie Menschen, die noch in ihren eigenen vier Wänden leben.
Den Entscheid, mit Exit zu sterben, machte sich Leni Altwegg nicht leicht. Seit sie der Sterbehilfeorganisation beigetreten sei, sei sie ruhiger, sagte sie vor fünf Jahren in einem Beitrag in der Zeitlupe. Sie hoffe aber, dass sie deren Dienste nie in Anspruch nehmen müsse. «Trotzdem ist es für mich eine Art Versicherung, falls das Leben nicht mehr auszuhalten sein sollte.» Eine gewisse Unsicherheit beschäftigte sie bis zuletzt. Sie fragte sich, ob sie sich mit dem selbstgewählten Tod nicht um eine letzte Lebenserfahrung bringen würde. «So lang und so intensiv haben wir immer wieder über diese widersprüchlichen Gefühle diskutiert», erzählt Ruth Dold. Noch zwei Tage vor ihrem Todestag habe ihre Patin am Telefon gesagt: «Du, ich weiss dann nicht, wie mir übermorgen zumute sein wird.»
Niemand stirbt für sich allein
Ruth Dold konnte nur immer wiederholen, was ihrer tiefsten Überzeugung entsprach: «Es ist dein Weg. Es ist deine Entscheidung. Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich begleite dich auf deinem Weg.» Ruth Straub, langjährige Freundin und ebenfalls Pfarrerin, leitete später auf Leni Altweggs Wunsch die Abdankungsfeier in Zürich Witikon. Auch sie wollte ihrer Freundin am Todestag nahe sein. Obwohl sie eine andere Meinung vertritt: «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass im Sterbeprozess wichtige letzte Dinge geschehen können.» Doch sie akzeptierte und respektierte Leni Altweggs Willen: «Mein Dabeisein war die letzte Bejahung ihrer Entscheidung.»
«Niemand stirbt für sich allein.» Dieser vielfach zitierten Aussage ist Heinz Rüegger schon oft begegnet, und im Grundsatz ist er damit einverstanden: «Sterbende müssen ihre Nächsten loslassen, die Zurückbleibenden müssen den Sterbenden gehen lassen.» Nicht einverstanden ist er, wenn mit diesem Argument anstelle der Patientenautonomie die Anliegen, Befürchtungen und Bedürfnisse der Angehörigen ins Zentrum gestellt werden: «Ob jemand nach reiflicher Überlegung den begleiteten Suizid als letzte Lösung sieht oder nicht, ist ganz allein sein Entscheid. Dieses Entscheidungsrecht haben weder die Ärzteschaft noch die Angehörigen, noch die Pflegenden.»
«Das offene Gespräch gibt den Angehörigen die Möglichkeit, sich mit einem solchen Entscheid auseinanderzusetzen. Auch wenn sie ihn nicht gutheissen, können sie ihn vielleicht zumindest verstehen», meint Heinz Rüegger. So würden in der Regel auch keine Schuldgefühle zurückbleiben: «Angehörige denken manchmal, sie hätten für den Sterbewilligen zu wenig getan.» Auch Exit macht seine Mitglieder darauf aufmerksam, wie wichtig der Einbezug der Nächsten ist. Bei den vorgängigen Abklärungsgesprächen ist die Anwesenheit der Angehörigen sogar sehr erwünscht. Nach der Freitodbegleitung bietet die Organisation den Zurückgebliebenen zudem ein Gespräch mit den Sterbehelfenden an, um allfällige Fragen zu klären und das Geschehen Revue passieren zu lassen.
Alles war gesagt
Leni Altwegg und ihre Nächsten hatten sich alles gesagt. Die letzten Vorbereitungen wurden abgeschlossen. Der Lebenslauf war verfasst, viele Briefe hatte Leni Altwegg noch geschrieben, die Heimleitung informiert, mit ihrer Freundin die Abdankungsfeier vorbereitet und das Leichenmahl organisiert. Über die von ihrer Patentochter formulierte Todesanzeige freute sie sich sehr. Sie wusste um den genauen Ablauf der Todesstunde und war darauf vorbereitet. Den Todestag verschob sie, weil sie noch einen Besuch aus ihrem geliebten Südafrika erwartete. Ihre Patin sei in dieser letzten Zeit toleranter, gelassener, weicher geworden, sagt Ruth Dold.
Getragen von einem Urvertrauen, fühlte sich Leni Altwegg in einen Sinnzusammenhang eingebettet und war überzeugt, dass letztlich alles gut kommt. Das Buch von Lorenz Marti «Eine Handvoll Sternenstaub» bedeutete ihr viel. In einem Artikel für die Zeitschrift «Neue Wege» schrieb sie 2014: «Ich finde es überwältigend, dass es mich überhaupt gibt: ein bewegtes Pünktchen auf dem Erdball, der seinerseits ein Stäubchen ist im Weltall, unendlich unwichtig und doch am Leben. Manchmal habe ich ganz konkret das Gefühl, mich in die Wölbung des Weltalls schmiegen zu können, geborgen in einem unerklärlichen Wohlwollen.»
Der letzte Tag brach an. Es war der 6. Dezember, der Nikolaustag. Leni Altwegg war gelassen, heiter, «mit sich im Reinen», sagt Ruth Dold. Beim gemeinsamen Mittagessen hätten sie über alles Mögliche geredet und gelacht; Leni sei wie immer rundum interessiert gewesen. Ruth Straub war überrascht, wie vergnügt ihre Freundin in ihren allerletzten Stunden war: «Sie schien am Punkt angelangt zu sein, wo sie alles losgelassen hatte.» Nach dem Kaffee war es Leni Altwegg selber, die zum Aufbruch mahnte: In einer halben Stunde würde der Freitodbegleiter mit dem Sterbemittel kommen.
Ruth Straub hatte ihre Freundin gebeten, einen Psalm lesen zu dürfen. «Von allen Seiten umgibst du mich und hältst die Hand über mir …» Ruth Dold hielt die Hand ihrer Patin und erhielt ein letztes, ein liebevolles Lächeln. Dann war es vorbei. Ruth Dold, die von Anfang an den Entscheid ihrer Patin mitgetragen hatte, und Ruth Straub, die persönlich einen anderen Weg gehen würde, sind sich einig: «Es war friedlich und stimmig.» Ruth Straub ging nach Hause – Kopf und Herz voll vom Geschehen und froh, dass sie die letzten Stunden ihrer Freundin hatte miterleben dürfen. Ruth Dold blieb, bis Rechtsmedizin und Polizei den Leichnam freigegeben und der Bestatter ihn abgeholt hatte. Dann fuhr auch sie durch die dunkle Nacht nach Hause. Müde, aber mit dem Gefühl: «Es war gut, so wie es war.» ❋
- Adresse: Exit Geschäftsstelle, Postfach, 8032 Zürich, Telefon 043 343 38 38.
- Buch: Lorenz Marti: «Eine Hand voll Sternenstaub», Herder Verlag, Freiburg i.B., 6. Aufl. 2017, 220 S., Taschenbuch.
Aus Zeitlupe 2/20.
- Memento mori – sei dir der Sterblichkeit bewusst: In unserem Themenschwerpunkt widmen wir uns einen Monat lang Themen rund um den Tod und das Sterben. Zum Dossier.
Beihilfe zum Suizid – Stellungnahme von Pro Senectute
Pro Senectute anerkennt das Recht von suizidwilligen Menschen, ihr Leben – auch unter Beihilfe anderer Personen – beenden zu wollen, und respektiert die in der Schweiz dafür festgelegten gesetzlichen Regelungen. Sie setzt sich aber auch für die Stärkung der Suizidprävention von alten Menschen ein, ebenso wie für die Verwirklichung eines flächendeckenden Konzepts der palliativen Betreuung am Lebensende.
Pro Senectute hat für alle Fragen rund um Krankheit und Sterben ein Vorsorgedossier erarbeitet. Mehr Informationen zum Docupass finden Sie hier.