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Der letzte Abschied – Bestattungsformen und Abschiedsrituale

Ein Reihengrab auf dem Friedhof, die letzte Ruhestätte im Gemeinschaftsgrab, die Asche dem Wind überlassen, dem Wasser übergeben, unter einem Baum begraben oder auf einer Bergspitze ausstreuen: Bestattungsformen und Abschiedsrituale sind vielfältig geworden.

Von Usch Vollenwyder

«Meinen Grossvater hatte ich sein Leben lang nur in einer Melker­bluse und am Sonntag im Anzug gesehen. Nun lag er in einem mit weissem Stoff ausgekleideten Sarg, den Kopf auf ein weisses Kissen gebettet und trug ein weisses Rüschchenhemd. Die verwerkten Hände waren übereinandergelegt, darin steckte eine rote Rose. Fremd war er mir. Nicht, weil er tot war. Aber weil er so ganz anders aussah.

Das war 1964. Ich war damals 13 Jahre alt. Grossvater war im Spital gestorben. Dort hatte ihn der Dorfschreiner abgeholt und für den Sarg zurechtgemacht. In der kleinen Stube im gross­elterlichen Bauernhaus wurde er aufgebahrt. Die Beerdigung fand drei Tage später statt. Der Pfarrer kam ins Haus und betete, dann verschlossen Männer in schwar­zen Anzügen den Sarg, trugen ihn hinaus zum Leichenwagen und schoben ihn auf die Lade­fläche unter einen schwarzen Baldachin. Die beiden Pferde trugen Scheuklappen, sie schnaubten und scharrten. Die Familie formierte sich hinter dem Pferdefuhrwerk, dahinter weiter entfernte Verwandte, ehemalige Arbeitskollegen und Nachbarn. Dann setzte sich der Leichenzug in Bewegung, Richtung Friedhof. Überall hielten die Autos an, warteten und liessen uns den Vortritt.

Auf dem Friedhof standen wir am offenen Grab. Wieder betete der Pfarrer. Meine Grossmutter wurde von meiner Patin und der Tante gestützt. Sie weinten, als der Sarg an Seilen ins offene Grab hinuntergelassen wurde. Auch meine Mutter weinte. Überhaupt hatte ich noch nie so viele Menschen gleichzeitig weinen sehen. Das war ungewohnt und tat schrecklich weh. An den Trauergottesdienst in der Fried­hofskapelle habe ich keine Erinnerung. Dafür an das anschliessende Leichenmahl im «Sternen»: Es gab Kartoffelsalat und Hamme. Da wurde glück­licherweise auch wieder gelacht, und Erinnerungen an meinen Grossvater wurden ausgetauscht. Ich weiss noch, dass ich ganz an­dächtig zuhörte und stolz war, dass dieser Mann mein Gross­vater gewesen war.» Heidi Z. (60)

Eine rote Rose liegt auf einem Grabstein
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Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Krankheit und Tod allgegenwärtig. Die Medizin war weniger fortgeschritten, wirksame Medikamente wie das Peni­cillin fehlten. Diphtherie, Lungenentzün­dung, Scharlach und andere Krankheiten führten oft zum Tod. Mütter starben am Kindbettfieber, die Kindersterblichkeit war hoch. Mit gemeinsamen und ver­bindlichen Bräuchen – dazu gehörten die Aufbahrung zu Hause, die Toten­wache, Kondolenzbesuche, der Leichen­zug und die Beerdigungszeremonie auf dem Friedhof – versuchte die Gesell­schaft, dem Tod ein wenig von seinem Schrecken zu nehmen und ihn fassbarer zu machen.

Professionelle Dienstleister

Heute übernehmen nicht nur in den Städten oft Bestattungsfirmen alle die Aufgaben, die früher der Familie und der Dorfgemeinschaft vorbehalten waren. Rund um die Uhr können sämtliche Dienstleistungen rund um den Tod ab­gerufen werden. Jeder Service lässt sich kaufen – von der Sarglegung bis zur Kremation, von der vorgedruckten To­desanzeige bis zum Pfarrer, vom Grab­schmuck bis zum Totenmahl. Der Begeg­nung mit einem toten Angehörigen oder verstorbenen Freund kann problemlos ausgewichen und sämtliche letzten Lie­bes-­ und Freundschaftsdienste können in professionelle Hände delegiert werden.

«Schade», findet die Fährfrau Sabine Brönnimann. Die selbstständige Bestat­terin und Totenrednerin begleitet An­gehörige in Abschied, Tod und Trauer und berät Menschen, die noch zu Leb­zeiten ihre eigene Trauerfeier organisie­ren möchten: «Wo der Tote möglichst schnell aus dem Gesichtsfeld verschwin­den muss, wird Raum frei für wilde Fan­tasien. Was man hingegen benennt und berührt, verliert seinen Schrecken. Wer den letzten Abschied mit möglichst allen Sinnen zu erfahren versucht, wird ihn eher begreifen können.»

Seit einiger Zeit beobachtet Sabine Brönnimann eine Veränderung im Bestattungswesen: eine Öffnung einerseits und gleichzeitig eine Verunsicherung, welche Formen und Rituale neue Gültig­keit haben. Die Fährfrau möchte Hinter­bliebenen Mut machen, sich auf ihren verstorbenen Angehörigen einzulassen und ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Die Gründerin des Vereins FährFrauen sieht sich als Hebamme am Lebensende. Sie kümmert sich um die Verstorbenen und ebnet den Dableiben­den – wie sie die Hinterbliebenen lieber nennt – den Weg zurück in den Alltag. Dabei bestimmten alle selber, wie nah oder wie fern sie dem Geschehen sein wollten: «Für die einen genügt es schon, wenn sie das Kleid für den Toten aus dem Kleiderschrank wählen können, an­dere möchten bei der Totenpflege und Aufbahrung mithelfen und die Ab­schiedsrituale selber gestalten.»

Stimmungsbild: ein Boot liegt neben Schilf an einem idyllischen Flussufer, ein Zweig rankt oben ins Bild. Zeitlupe
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«Das Telefon meiner Schwägerin kam um neun Uhr vormittags: Oskar war gestorben. Der Tod war keine Überraschung. Ihr Mann war schwer krank gewesen und hatte zu Hause sterben wollen. Sofort fuhren mein Mann und ich ins Nach­bardorf. Gefasst öffnete meine Schwägerin die Tür und liess uns eintreten. Der Arzt war bereits dagewesen und hatte den Totenschein ausgestellt. Meine Schwägerin und ich übernahmen die Totenpflege; Oskar machte es uns leicht: Seine Augen waren geschlossen. Er schien zu schlafen, so friedlich lag er da. Zuerst banden wir mit einer schmalen elastischen Binde seinen Kiefer hoch – heute sind dafür spezielle Kinnstützen im Gebrauch.

Oskar trug bereits Slip und Unterhemd; darüber zogen wir ihm ein weisses Hemd an und den blauen Anzug, den er zur Konfirmation seines jüngsten Sohnes getragen hatte. Dann wuschen wir sein Gesicht, cremten es ein, kämmten ihn und legten seinen Kopf sanft auf das aufgeschüttelte Kissen zurück. Dabei redete meine Schwägerin mit ihm, dankte ihm für die gemeinsame Zeit und die gemeinsamen Kinder und wünschte ihm eine gute Reise in seine neue Welt. Mein Mann informierte in der Zwischenzeit den Dorfschreiner, der gegen Mittag mit dem Sarg kam. Gemeinsam betteten wir Oskar hinein. Es herrschte eine andächtige, beinahe eine heilige Stimmung. Franziska (64)

Dank der heutigen technischen Kühl­möglichkeiten ist es nicht mehr nötig, einen Leichnam bereits nach drei Tagen bestatten zu müssen. Allerdings gilt es, die nach einem Todesfall nötigen Forma­litäten innerhalb einer bestimmten Frist zu erledigen. Da die Regeln über Bestat­tungen und Friedhöfe variieren, emp­fiehlt es sich, bei seiner Wohngemeinde die entsprechenden Informationen ein­zuholen. Für die Beerdigung und die Abschiedsfeier kann man sich dann Zeit nehmen: Wie sollen sie organisiert wer­den? Welche Abschiedsrituale entspre­chen den eigenen Vorstellungen? Wie können vielleicht die Familie, Enkel­kinder und Freunde dabei einbezogen werden?

Bestattungen für jedes Budget

In der Schweiz ist es grundsätzlich überall gestattet, die Asche der Natur zu übergeben und wer nicht will, muss bei einem solchen Ritual auch weder einen Bestatter noch einen Pfarrer oder eine Trauerrednerin beiziehen. Verboten ist lediglich, aus Bestattungen auf öffentlichem Grund und Boden finanziellen Nutzen zu ziehen oder eine nicht lösliche Urne in einem Gewässer zu versenken, in der Erde zu begraben oder irgendwo in der Landschaft auszusetzen.

Solche Bestattungen gibt es mittler­weile in allen Variationen und für jedes Budget: Die Firma urne.ch zum Beispiel bietet Designerurnen auch für zu Hause an, das Unternehmen die­letzte­ruhe.ch organisiert Naturbestattungen von Berg­bach­ über Flug­ und Ballon­ bis hin zu Wasserfallbestattungen, der Bünd­ner Betrieb algordanza.ch stellt in sei­nem hauseigenen Labor Diamanten aus Menschenasche her und in den USA kann die Asche Verstorbener ins All geschickt werden. Während solche Bestattungsformen die Ausnahmen bilden, werden Beisetzungen in Friedwäldern – das sind speziell für Baumbestattungen ausgesuchte Waldparzellen – heute im­mer beliebter.

Im Wald: Eine Buche mit moosbewachsener Wurzel, dahinter kleinere Bäume mit frischen grünen Blättern, Frühling. Zeitlupe.
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«Rund um den Baum streuten wir Rosenblätter, gelbe, rote, rosa – in allen Farben. Rosen­blätter fädelten wir auch zu einer Kette auf und schlangen sie um die Urne. Ein grosser Korb mit farbigen Rosenblättern stand neben der ausgehobenen Vertiefung für die Asche meines Vaters im Wurzelwerk der Buche, die wir als unseren Familienbaum auch für die nächste Generation gewählt hatten. Daneben brannte in einem grossen Glas eine Kerze.

Die Ritualbegleiterin hatte uns in dieser Zeit des Abschieds feinfühlig und respektvoll begleitet und mit uns die Baum­bestattung besprochen. Sie sprach über meinen Vater, so wie sie ihn in den Gesprächen mit uns kennengelernt hatte; der Leiter des Friedwalds leerte die Asche zu den Baumwurzeln. Dann nahmen wir Abschied, eine nach dem anderen. Ich hob eine Handvoll Blütenblätter aus dem Korb und gab sie meinem Paps ins Grab. Der Verstärker trug das gemeinsame Lied meiner Eltern ‹Am Himmel stoht es Sternli z Nacht› durch den Wald. Wir weinten, und gleich­ zeitig tanzte der anderthalb­jährige Enkel um den Baum. Es war unendlich traurig. Und doch auch tröstlich.» Nadia (45)

«Rituale geben dem Geschehen eine innere Bedeutung», sagt Fährfrau Sabine Brönnimann. Besondere Rituale würden sich auch bei einer traditionellen Beerdi­gung auf dem Friedhof einbauen lassen: Die Urne im Arm eines Angehörigen oder der Sarg, der von Freunden ge­tragen wird, gäben dem Begriff «jeman­den zu Grabe tragen» seine ursprüng­liche Bedeutung zurück: Bis zuletzt wird der Verstorbene von seinen nächsten Fa­milienangehörigen und Freunden beglei­tet. Liebevolle Details am offenen Grab würden tröstliche Bilder hinterlassen: «Zum Beispiel ist es ein Unterschied, ob die Urne in einem Nylonnetz oder von einem eigenen Schal oder Tuch umhüllt ins Grab gesenkt wird.»

Schliesslich möchte Sabine Brönni­mann auch zum früher so wichtigen gemeinsamen Leichenmahl ermuntern – ob es nun in einem Restaurant oder pri­vat bei jemandem zu Hause stattfindet. Mit einem Lächeln meint sie, dass aus dem oft idealisierten Verstorbenen am Grab beim anschliessenden Zusammen­ sein und Erzählen wieder ein Mensch mit Ecken und Kanten werden würde. Das Leichenmahl habe aber auch noch die tiefere Bedeutung, dass die Hinter­bliebenen für ihren weiteren Weg ge­ stärkt werden sollen: «Trauernde müssen mit der Leere umgehen, die der Ver­storbene hinterlassen hat. Trauern be­deutet deshalb vor allem Beziehungs­ arbeit mit sich selber.»

«Nach der Abdankung in der Kirche luden wir alle Anwesen­ den zu uns nach Hause ein. Auf unserem Rasenplatz machten wir ein grosses Feuer. Würste zum Grillieren lagen bereit, dazu Wein und Bier. ‹Le verre d’amitié›, wie dieses Zusam­mensein im Welschen genannt wird, wäre meinem Freund wichtig gewesen. Ludwig hätte gewollt, dass wir auf ihn anstossen, ihm eine gute Reise wünschen und die Erinnerungen an ihn aufleben lassen. Wir lachten viel in dieser Nacht, alle wussten etwas von Ludwig zu erzählen. Wir fühlten uns als verschworene Gemeinschaft stark, möge kommen, was wolle. Nicht nur ich, sondern auch andere hatten das Gefühl, Ludwig sei mit uns oder würde uns zumindest mit einem leisen Lächeln zusehen.» Christian (53)

Aus Zeitlupe 10/2011.

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  • Memento mori – sei dir deiner Sterblichkeit bewusst: In unserem Themenschwerpunkt widmen wir uns einen Monat lang Themen rund um den Tod und das Sterben. Zum Dossier.
Beitrag vom 11.03.2021
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