Wenn Angst das Leben beherrscht
Rund 15 Prozent der Menschen leiden unter Angstzuständen. Oft werden diese erst gar nicht erkannt und bleiben lange unbehandelt, so wie bei Bella H.* Die 58-Jährige ist gerade daran, sich aus dem Schatten dieser Krankheit zu lösen.
Text: Roland Grüter, Illustrationen: Elke Ehninger
Die Kehrseite der Freiheit ist Angst», schrieb einst US-Schriftstellerin Marilyn Ferguson. Ihr Merksatz verweist darauf, wie eng diese Werte miteinander verbunden sind. Denn Angst schützt uns zwar vor lebensgefährlichen Torheiten, vor Schmerz und Verletzungen. Doch ebenso häufig kann sie uns davon abhalten, wichtigen Lebensträumen nachzustreben. Vieles lassen wir unversucht, weil wir um unser Ansehen oder die Zukunft bangen. Angst wird hier zu einem verhängnisvollen Kompass. Sie führt uns in Sackgassen, an deren Ende Unglück oder zumindest Unerfülltheit stehen. Erst wenn wir diese überwinden und jenen Werten nachleben, die uns tatsächlich wichtig erscheinen, öffnet sich für uns die Freiheit. Und damit das wahre Leben.
Angst kennen alle – auch jene, die sich selbst als furchtlos bezeichnen. In der Regel sind wir ihr nicht schutzlos ausgeliefert. Wir können ihr allerlei entgegenstellen: die Erfahrung etwa, dass selbst bangste Momente selten in Katastrophen enden. Manchmal lenken wir uns ab, rufen Freunde oder Bekannte an, um der Bangnis zu entfliehen. Oder wir sprechen uns selbst Mut zu und flugs, beruhigt sich unser Gefühlschaos wieder. Der rasende Puls ebbt ab, der stockende Atem beginnt zu fliessen, und wir können Gedanken, die uns eben noch erschaudern liessen, verträglicher einordnen. Ende gut, alles gut.
Rund 15 Prozent der Menschen geht diese Fähigkeit jedoch ab. Sie vermögen ihre Ängste nicht zu bändigen. Für Betroffene sind sie der blanke Horror, aus dem sie nicht selbst herausfinden. Oft sind es Kleinigkeiten, ja sogar nur Gedanken, die für sie existenziell bedrohlich scheinen – sie führen im Extremfall zu Panikattacken, in denen alle Emotionen komplett aus dem Ruder laufen. Spätestens dann wird der an und für sich gesunde Angstmechanismus zur krankhaften Überreaktion.
In Passivität erstarren
Betroffene richten in der Folge oft ihr gesamtes Leben darauf aus, jene Situationen zu vermeiden, die ihre Angstzustände auslösen. Ältere Menschen, die einmal gestürzt sind, erstarren beispielsweise in Passivität, da sie jeder Schritt neuerlich ins Elend führen könnte. Also besser sitzen bleiben. Andere trauen sich nicht mehr vor die Tür, weil für sie allein der Gedanke an Menschenmassen, die sie dort erwarten könnten, unerträglich scheint. Wieder andere können kaum mehr Tram oder Bahn fahren, weil ihnen die Enge den Atem nimmt. «Die Gefühle, welche die Angst in mir bewirkt, lassen sich nur schwer beschreiben», sagt Bella H.*, die seit Kindheit an Angstzuständen und Panikattacken leidet: «Werde ich von ihr gepackt, spüre ich nur noch Enge. Ich kann kaum mehr geradeaus denken, verliere die Kontrolle über mich.» Ihr Gesicht versteinert sich, während sie nach den treffenden Worten für das emotionale Desaster sucht, dann sagt sie: «Angstzustände sind wie Sterben – zumindest stelle ich mir das so vor.»
Bella H. sitzt im Salon der Privatklinik Clienia Littenheid, einer Fachinstanz für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie wirkt angespannt, hält ihre Beine geschlossen, die Hände hat sie sittsam auf die Knie gelegt. Ihre blonden Haare sind am Hinterkopf streng zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt ein klassisches Ensemble, wenig Make-up und ausgewählten Goldschmuck – nichts verweist darauf, dass das Leben der 58-Jährigen vor sechs Wochen neuerlich aus dem Ruder gelaufen ist und sie dringlich auf die Hilfe der Psychiater und Psychologinnen angewiesen ist.
Gründe für ihre Krise aber gibt es zuhauf. Ihr Vater war Alkoholiker, die Mutter gebeutelt vom Zweiten Weltkrieg. Sie trug ihre Ängste von der Steiermark mit in die Schweiz und heiratete hier einen Mann, der zwar eine Einkunft, aber keine Liebe für sie hatte. Sie lehrte ihre vier Töchter, wie düster und gefährlich die Welt ist. Und schwieg, wenn der Vater seinen Lebenshass an seinen beiden Jüngsten ausliess, seine Schimpftiraden auf sie niederprasseln liess. Du Saugoof. Du Dubel. Du Nichtsnutz. Die kleine Bella lag oft genug mit aufgerissenen Augen unter ihrer Bettdecke und wartete, bis der Hass des Vaters verebbt war, in der Hoffnung, dass sie dieses Mal davon verschont blieb.
Angst und Terror
17-jährig beschloss sie, dem Terror zu entrinnen – sie wollte Mutter werden und zu ihrem Freund ziehen. Doch ihr Freund wollte für sie und das Kind nicht aufkommen. Und als Bella sich seinem Willen widersetzte, begann der Mann ihr nachzustellen. Er verfolgte sie, manipulierte das Auto, hielt sie darin gefangen, seilte sich sogar auf deren Balkon ab, drohte ihr mit immer neuen Übergriffen, bis sie neuerlich um ihr Leben fürchtete – und erst Ruhe war, als sie den Freund anzeigte und dieser ins Gefängnis kam.
Bella H. wurde zum zweiten Mal Mutter, sie heiratete einen erfolgreichen Banker mit Haus und teuren Autos. Endlich schien sie jene Liebe gefunden zu haben, die sie sich so sehr herbeigesehnt hatte. Doch auch diese Glücksphase riss jäh ab. Bella entdeckte, dass ihr vermeintlicher Mustergatte sie betrog, im Rotlichtmilieu verkehrte und einen Grossteil seines Vermögens verloren hatte. Es folgte eine lange Kampfscheidung und eine neue Partnerschaft, doch auch diese machte sie nicht glücklich. Während der Berg-und-Talfahrt schaffte sie es dennoch, eine Lehre zur Sattlerin-Tapeziererin abzuschliessen, zwei Kinder grosszuziehen und sich aufrecht zu halten. Andere sahen in ihr eine starke Frau.
Doch wo Bella H. war, da war auch Angst. Lange merkte sie gar nicht, dass ihr Leben davon überschattet wurde. Sie hatte Herzrasen, Nesselfieber, einen Hörsturz, ständiges Unwohlsein, Migräne, Schlafstörungen. Die Ärzte suchten nach körperlichen Ursachen, fanden aber keine. Erst 2001, als sie nach Kanada in die Ferien fliegen wollte und auf dem Weg zum Flughafen von Panik geschüttelt wurde, weil sie in ein Flugzeug steigen sollte, sprach der Notfallarzt aus, was sie noch heute umtreibt: «Sie leiden unter Angststörungen.» Damit hatte sie endlich eine Erklärung, weshalb sie Menschen immer mehr mied, nicht allein im Auto sitzen konnte, sich dabei ungewollt und ungeliebt fühlte wie damals unter der Bettdecke.
Späte Diagnose
Die Panikattacken mehrten sich, die dunklen Gedanken waren längst zur Normalität geworden. Bella begann eine Psychotherapie, nahm Medikamente ein, die schlimme Momente etwas erträglicher machten. Doch der Erfolg blieb aus. Vor drei Jahren litt sie eine Woche unter unerträglichen Magenschmerzen und sackte beim Hausarzt zusammen. Dieser Vorfall brachte sie zur Einsicht: So kann es nicht weitergehen. Bella H. reiste erstmals nach Littenheid, blieb acht Wochen und verliess die Klinik mit grossem Optimismus, ihr Elend endlich abschütteln zu können. Doch eine Lebenskrise warf sie unlängst neuerlich aus der Bahn und führte sie damit zurück nach Littenheid.
Ist eine Biografie, wie sie die Zürcherin durchlitten hat, für Angsterkrankungen typisch? «Ja», sagt Bernd Ibach, Chefarzt des Zentrums für Alterspsychiatrie und der Privatabteilung der Privatklinik Clienia Littenheid: «Angststörungen können von den Betroffenen selbst, aber auch von Hausärzten verkannt werden und deshalb über Jahre, wenn nicht über Jahrzehnte unbehandelt bleiben. Das hat zum Teil damit zu tun, dass die körperlichen Symptome der Angst mit körperlichen Erkrankungen statt mit psychischen Störungen verbunden werden.» In der Folge versuchten sich die Menschen oft selbst zu helfen, mit Medikamenten oder Alkohol – und gerieten damit in ein zweites Krisenfeld. Auch Depressionen seien oft mit Ängsten oder Angsterkrankungen eng verbunden. «So viel Leid müsste nicht sein», sagt Psychiater Bernd Ibach: «Angststörungen sind in vielen Fällen heilbar.»
Die häufigsten Angststörungen
Bei Angststörungen macht sich die Angst, so wie wir sie kennen, selbstständig und lässt sich kaum mehr regulieren. Die Psychiatrie unterscheidet folgende Krankheitsbilder: Panikstörungen, generalisierte Angststörung, Phobien und posttraumatische Belastungsstörungen.
Panikstörungen: Darunter versteht man panische Angstattacken, die von den betroffenen Personen als lebensbedrohlich empfunden werden. Diese sich wiederholenden Phasen dauern oft nur wenige Minuten. Dabei setzt der Körper einen biochemischen Prozess in Gang, wie ihn sonst höchste Bedrohungssituationen bewirken. Der Körper setzt Unmengen von Adrenalin und Cortisol frei. So rüstet er Hirn, Kreislauf und Muskulatur auf, damit wir umgehend auf die Gefahr reagieren können. Nur: Bei Panikattacken setzt sich dieser Mechanismus ohne äusseren Anlass in Gang.
Generalisierte Angststörungen: Diese sind ebenfalls weit verbreitet. Dieser Zustand wird von ständiger Ängstlichkeit und Besorgnis geprägt, welche die Aussichten auf eine schöne Zukunft trüben. Anzeichen, die darauf verweisen, sind ständige Anspannung, innere Unruhe und immerwährende Nervosität.
Posttraumatische Belastungsstörungen:Sie treten oft nach lebensbedrohlichen Situationen auf, die Betroffene selbst oder bei nahestehenden Personen miterlebt haben: etwa nach Vergewaltigungen, dem unerwarteten Tod eines Partners oder von anderen nahestehenden Personen, in Kriegen oder bei schlimmen Unfällen.
Phobien: Diese beziehen sich auf bestimmte Objekte oder Situationen, die grosse Angst auslösen: eine Spritze zu bekommen, bestimmte Tierarten, enge Räume, weite Plätze etc. Eine Sonderform ist die soziale Phobie. Hier vermeiden Menschen Situationen, die sie mit anderen Menschen zusammenführen: etwa bei öffentlichen Ansprachen, beim Essen im Restaurant oder bei Versammlungen. Betroffene schränken ihren sozialen Umgang beträchtlich ein – der Austausch mit andern wird zur Qual.
Angststörungen gehören neben Suchterkrankungen und Depressionen zu den weitverbreitetsten psychischen Leiden überhaupt. Dahinter können schlimme Erlebnisse und Konflikte wirken, wie sie Bella H. durchleben musste. Auch die Genetik und körperliche Krankheiten, etwa hormonell aktive Tumore oder eine angehende Demenz, können Angsterkrankungen bewirken (mehr im Interview Seite 15). Die Corona-Krise, der Ukraine-Krieg und die vielen anderen negativen Schlagzeilen, die aktuell die Gegenwart überschatten, drücken den Schaltknopf in entsprechenden Krisen ebenfalls. Im Jahr 2020 sollen gemäss einer australischen Studie depressive Störungen und Angsterkrankungen um 28 beziehungsweise 26 Prozent zugenommen haben. Regierungen in aller Welt müssten dem Trend dringend gegensteuern, etwa mit dem Ausbau von Fachstellen, forderten damals die Forscherinnen und Forscher. Doch ihr Appell blieb ungehört: Psychologen und Psychiaterinnen sind in der Folge komplett ausgebucht, und hilfesuchende Menschen müssen monatelang warten, bis sie bei ihnen unterkommen. Einzig die stationäre Akutversorgung in Kliniken ist mehr oder minder gewährleistet. «Das ist unbefriedigend», sagt Bernd Ibach.
Auseinandersetzung mit Angstsituationen
In der Behandlung bewährt sich nach Ansicht von Bernd Ibach die Kombination von psychotherapeutisch ausgerichteten Methoden und Medikamenten am besten. Darin wird das überreizte Nervensystem als Erstes beruhigt – mit Medikamenten, spezifischen Entspannungsübungen und körperbezogenen Therapien. Parallel dazu werden Patientinnen und Patienten behutsam dazu angehalten, sich mit Situationen oder Objekten auseinanderzusetzen, die ihre Panik oder Ängste auslösen.
In der sogenannten kognitiven Verhaltenstherapie werden Betroffene schrittweise an verursachende Situationen herangeführt. Wer beispielsweise Angst vor Spinnen hat, setzt sich erst mit Gedanken, dann mit Bildern und allenfalls direkt mit den Krabblern auseinander. Durch die Konfrontation wollen Therapeutinnen und Therapeuten alte Schreckensbilder, die mit den Angstquellen verbunden werden, durch andere, realere ersetzen. Im Idealfall erübrigt sich in der Folge eine medikamentöse Behandlung. «Gangbare Wege sprechen wir immer mit unseren Patientinnen und Patienten ab», sagt Bernd Ibach. «Sie entscheiden aktiv mit, wie ihre Therapie gestaltet wird. Nur dadurch lässt sich gewährleisten, dass diese zum Erfolg führt.»
Auf Besserung hofft auch Bella H. Sie ist gerade daran, die Puzzleteile ihres Lebens neu zu ordnen, um den Mechanismus, der ihre Ängste auslöst, besser zu verstehen. Sie ist optimistisch, dass sie schon bald in ein unbeschwerteres Leben starten kann. Dafür hat sie bereits Pläne. Sie will sich einen VW-Bus kaufen, ferne Länder erkunden – und in ihrem Gefährt der wiedergewonnenen Freiheit entgegenbrausen.
* Wir haben den Namen der Patientin zum Schutz ihrer Persönlichkeit geändert.
«Die Menschen sachte heranführen»
Bernd Ibach, Chefarzt des Zentrums für Alterspsychiatrie und der Privatabteilung der Privatklinik Clienia Littenheid, erklärt im Interview, wie sich Angststörungen therapieren lassen.
Das Thema interessiert Sie?
Werden Sie Abonnent/in der Zeitlupe.
Neben den Print-Ausgaben der Zeitlupe erhalten Sie Zugang zu sämtlichen Online-Inhalten von zeitlupe.ch, können sich alle Magazin-Artikel mit Hördateien vorlesen lassen und erhalten Zugang zur Online-Community «Treffpunkt».