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Turnfest im Wandel der Zeit

Das Eidgenössische Turnfest ist der grösste Sportanlass der Schweiz. Am 13. Juni beginnt in Aarau die 76. Ausgabe. In der 187-jährigen Geschichte spiegeln sich manche gesellschaftlichen Entwicklungen.

Text: Fabian Rottmeier

Fit+Fun»: Was hätten wohl die 60 Studenten aus Aarau, Baden, Zofingen, Basel, Bern und Zürich von diesem Plauschwettkampf gehalten, die 1832 den Eidgenössischen Turnverein gründeten? Vermutlich nichts. Damals zählte nicht «Fit+Fun», sondern der Gedanke, «dem Vaterlande nützliche Bürger zu erziehen, und zwar als feste Stützen sowohl für die Zeit des Friedens als auch für die Zeit der Not». So zumindest stand es im Einladungsschreiben. Frauen spielten keine Rolle.

Die 187-jährige Geschichte, die das Eidgenössische Turnfest (ETF) seither geschrieben hat, ist auch ein Zeitzeugnis für den Wandel in der Gesellschaft. «Wenn man auf dem Stand von früher verharrt wäre, gäbe es das ETF wohl nicht mehr – und viele Turnvereine ebenso wenig», sagt Ruedi Hediger, Geschäftsführer des Schweizerischen Turnverbandes (STV) und OK- © Keystone / Photopress Archiv / Str Mitglied des ETF 2019. Der Turnsport entwickle sich ständig weiter und sei dadurch attraktiv geblieben, sagt er in der Zurlinden-Villa, dem Aarauer Hauptsitz des STV.

Wandel der Gesellschaft

Am 76. Eidgenössischen Turnfest, das vom 13. bis 23. Juni zum siebten Mal in Aarau stattfindet, können im Gegensatz zu früher alle gleichzeitig teilnehmen: Kinder und Jugendliche, junge und alte Erwachsene oder Menschen mit einer Behinderung. Rund ein Drittel der 67 000 Turnerinnen und Turner sind unter 18 Jahre alt. Eine Zahl, die zeigt, dass Turnvereine bei weitem nicht so verstaubt und überaltert sind, wie viele denken.

Heute ist das ETF der grösste Sportanlass der Schweiz und findet alle sechs Jahre statt: 150 000 Besucherinnen und Besucher werden erwartet. Lange war es ein überschaubares Fest gewesen. Anfangs jährlich ausgetragen, dauerte es 42 Jahre, bis die Zahl der Teilnehmer die 1000er-Marke knackte. 1912 waren erstmals über 10 000 Sportler zugegen – und als Premiere durfte eine Gruppe Frauen teilnehmen, wenn auch nur für ein einstündiges Schauturnen. Es sollten 20 weitere Jahre vergehen, bis 1932 auch die weibliche Bevölkerung ihr eigenes nationales Turnfest hatte, wie im Buch «Die Eidgenössischen Turnfeste 1832–2002» zu lesen ist.

Der Eidgenössische Turnverein (ETV) hatte die Frauen eigentlich ins ETF integrieren wollen, doch der Frauenturnverband lehnte ab. Man befürchtete, dass die Darbietungen in der Masse von Männerwettkämpfen untergehen würden – und einigte sich auf separate Frauenturntage eine Woche vor dem grossen Turnfest.

5000 Turnerinnen kamen damals nach Aarau. Bundesrat Giuseppe Motta malte sich in seiner Ansprache aus, dass «die Anmut der Jungfrauen später in der Schönheit der Mütter und in der Kraft ihrer Kinder erblüht». Das erklärte Ziel der Frauenturntage: «die Erhaltung der spezifisch weiblichen Art», wie es noch in der Festzeitung von 1959 hiess. Es gab weder Wettbewerbe noch Preise, was jedoch von vielen Turnerinnen begrüsst wurde.

Namenlose Bestleistungen

Ein besonders absurdes Beispiel lieferte die Ausgabe von 1951: die Bestleistungen der Leichtathletinnen wurden zwar ausgerufen – aber ohne Namen! Der Frauenturnverband befürchtete weiterhin, dass ambitionierter Sport dem weiblichen Körper schaden könnte. Und man dürfe die Frau nicht zum Kampf und zum Egoismus verführen, hiess es. Wettbewerbe für Frauen wurden erst 1972 eingeführt – nicht zuletzt deshalb, weil der internationale Turnverband gedroht hatte, den ETV ansonsten auszuschliessen. 1985 fusionierten die beiden Verbände zum Schweizerischen Turnverband. Und doch dauerte es noch elf Jahre, bis 1996 Frauen und Männer erstmals gleichzeitig und miteinander am ETF ihre Wettkämpfe bestritten! 1991 war dieses Unterfangen noch an «organisatorischen Gründen» gescheitert.

Dass in der ETF-Geschichte auch sonst einiges passierte, zeigen folgende Beispiele. Bereits drei Jahre nach der Gründung, 1835, nahm man auch ausländische Turner in die Vereine auf. 1925 warnten die Organisatoren im Festführer vor Geschlechtskrankheiten und vor den Folgen des Alkoholmissbrauchs. 1928 standen in Luzern für die Resultaterfassung fünf elektrische Rechnungsmaschinen bereit. 1948 verlegten die Organisatoren 48 Lautsprecher in den Boden, um die Synchronität der Turnenden zu verbessern. 1978 nahmen aus drei französischsprachigen Kantonen Menschen mit einer Behinderung teil, sechs Jahre später sollte ein neuer Wettkampf einen Begegnungsort für Personen mit und ohne Handicap schaffen. 1991 forderte man die Turngemeinde auf, per ÖV anzureisen, und verbannte Aludosen.

1996 durften alle Teilnehmenden gratis per Zug anreisen, und die Teller für die Verpflegung der Turnerschar bestanden aus kompostierbaren Palmblättern. Und trotzdem: 2013 fiel in Biel 50 Prozent mehr Abfall an als sechs Jahre zuvor in Frauenfeld: 161 Tonnen.

Es turnte die «weisse Armee»

Das Turnfest war lange eine militärische Angelegenheit. Marschübungen, Defilees und das komplett weisse, einheitliche Tenü prägten das Bild. Oberturner kommandierten ihre Kameraden. Nur die Präzision und die Einheit zählten. Stellvertretend dafür sind die allgemeinen Übungen und ihre imposante Kulisse: Tausende, die synchron zur Musik – früher zum Kommando des Fest-Oberturners – auf einer Wiese turnen, geordnet in Reih und Glied. Erst 1967 präsentierte sich das Turnfest moderner, mit mehr Freiheiten bei den Übungen und neuen Wettbewerben. Auch Showeffekte hielten Einzug. Sie waren der Vorgeschmack aufs ETF 1972 in Aarau, an dem zum ersten Mal farbige Trikots erlaubt waren und es Freizeitwettkämpfe ohne Voranmeldung gab. Das Festmotto: «Effort zur Evolution». 1978 trat der BTV Luzern im Sektionsturnen erstmals in gemischter Formation auf. Es gab Höchstnoten für eine Schau, die gemäss der NZZ «den Rahmen des Konventionellen sprengte».

Der einzige Wermutstropfen des Wandels: Die immer grössere Vielfalt an Disziplinen, Spielen und Wettkämpfen ging zu Lasten des Überblicks. Die Allgemeinen Übungen wurden 1991 abgeschafft. Das alte ETF war endgültig Geschichte. Geblieben sind bis heute das Gemeinschaftsgefühl, das nach wie vor hochgehalten wird, ebenso wie der soziale und gesellige Teil rund ums Turnen. In den Anfangsjahren distanzierte sich die Turngemeinde gar bewusst vom Sport. Passend dazu die Worte von Bundespräsident Ludwig Forrer, der 1906 in Bern gesagt hatte: «Ich habe Freude am Sport. Allein, er ist nach seiner Natur einseitig und kostspielig. Darum lob ich mir noch viel mehr das Turnen. Das bildet den Körper allseitig aus, das reinigt den Kopf von den Mücken, das duldet keinen Unterschied zwischen vornehm und gering, das ist demokratisch, das passt für unser Volk.»

8000 Helferinnen und Helfer stehen für die diesjährige Austragung im Einsatz. Über 2300 Vereine nehmen teil – fast 300 mehr als 2013! «Jedes ETF ist ein Höhepunkt in einer Turnkarriere», sagt STV-Geschäftsführer Ruedi Hediger. Für ihn schliesst sich ein Kreis, hatte er doch 1972 in Aarau als Schüler am Wettkampfbetrieb mitgeholfen. Beim nächsten Turnfest 2025 in Lausanne wird er pensioniert sein. Um die Attraktivität des ETF muss er sich offenbar nicht sorgen: «Es war eindrücklich, wie für 2025 mit Luzern und Lausanne gleich zwei Städte um das Austragungsrecht buhlten», sagt er. Das Turnfest lebt weiter, in Aarau, in Lausanne – und in allen Erinnerungen.

Eidgenössisches Turnfest 2019, 13. bis 23. Juni, Aarau. www.aarau2019.ch, Telefon 062 824 20 19.

Dorly Schwegler-Obrist, 78, Geräteturn-Pionierin

Dorly Schwegler (zweite Turnerin von rechts) mit ihren Kolleginnen vom BTV Luzern am ETF 1963.

«Das Eidgenössische Turnfest 1963 war ein Meilenstein für mich. Erstmals überhaupt durften wir Frauen Wettkämpfe im Einzelturnen absolvieren. Noten gabs zwar noch keine, sondern bloss eine Wortwertung, aber das war mir egal. Ich erreichte die Höchstnote ‹sehr gut›. Auf dem Foto sieht man mich und meine Kolleginnen vom BTV Luzern, wie wir vor der Kulisse des Pilatus turnen. Der Verein war ein Vorreiter in Sachen Frauenförderung. Ich hatte früh begonnen, mich für das Geräteturnen einzusetzen. An den Frauenturntagen standen lange nur Leichtathletik und Allgemeines Turnen zur Auswahl. Es war ein langer Kampf bis zur Einführung der Wettkämpfe 1963. Später wurde ich in der Schweiz zur Mitgründerin des Geräteturnens für Mädchen und schliesslich Chefin Geräteturnen beim Schweizerischen Turnverband. Der Breitensport war mir immer wichtig, ich wollte eine Alternative zum Kunstturnen, aber auch einen Raum für ambitionierte Frauen schaffen, die sich körperlich mehr fordern wollten als in einer Damenriege. Heute ist das Geräteturnen auf vielen Ebenen zum Spitzensport geworden, was ich ein wenig bedauere. Ein Grossteil der Turnerinnen von damals hätten heute keine Chance mehr, mitzuhalten. An einem ETF mittendrin zu stehen, war immer eine grosse Befriedigung. Dieses Miteinander und die Freude, zusammen zu turnen, gefiel mir besonders.»

Marcel Girod, 75, Oberturner mit Überzeugung

Marcel Girod (mit Brille) steht 1967 neben Schwingerlegende Karl Meli.

«Achtmal nahm ich bei den ‹Aktiven› am Eidgenössischen Turnfest teil. Unvergessen bleibt mein erstes als Oberturner des TV Veltheim 1967 in Bern. Ich bin der Brillenträger auf dem Foto, neben mir steht unverkennbar die Schwingerlegende Karl Meli. Er hat den gesamten Wettkampf mit uns absolviert, sowohl die Gymnastik, die damals noch Körperschule hiess, als auch das Barrenturnen, bei dem er mehrere Holmen zerbrach. Diese waren damals weit weniger robust als heute. Turnen war sehr militärisch geprägt. Marschübungen gehörten ebenso dazu wie Achtungsstellungen, wenn ich als Oberturner meine Riege beim Kampfrichter anmeldete. Auch das Kommandieren wurde benotet. Zeitgleich war es das erste Turnfest, an dem wir zu Live-Musik turnen durften. Mein Bruder, ein Musiker, begleitete uns am Klavier. Das Instrument übernahm das Kommando. Je nach Akkord wussten wir genau, ob wir uns nach links oder rechts abdrehen mussten. Wir erhielten 49,9 von 50 Punkten! Ich habe vieles erlebt an meinen Turnfesten. Mit 16 trug ich in Basel das Blumenhorn meines Vereins, vier Jahre später diente uns eine Kegelbahn als Schlafplatz. Später nahm ich zudem als Damenriegenleiter teil. Einmal gab ich am Samstagmorgen noch Schulunterricht, bevor mich die Riege für den Wettkampf nach Genf einfliegen liess. 1984 leitete ich als Präsident der Schweizer Jugendturner die Wettkämpfe. Noch mit 53 Jahren turnte ich mit dem TV Stammertal an meinem letzten ETF 1996 in Bern am Barren und hob Steine. Ich freue mich darauf, im Juni als Fan nach Aarau zu reisen.»

„Tag der Generationen„ am Aarauer Turnfest

Erstmals überhaupt in der Geschichte des Eidgenössischen Turnfestes findet am Mittwoch zwischen den beiden Wettkampf-Wochenenden ein «Tag der Generationen» statt. Der Schweizerische Turnverband, der Aargauer Turnverband und Pro Senectute Aargau organisieren diesen Anlass gemeinsam. Die Teilnahme kostet CHF 30.– und beinhaltet ein Mittagessen. Der Zeitplan ist in fünf Blöcke aufgeteilt und bietet parallel sieben Bewegungsmöglichkeiten: Fitness im Wasser oder in der Turnhalle, Nordic Walking, Velotouren, Spiele, Tanzkurse oder Trommeln mit Therapiebällen. Höhepunkt ist vor der Mittagspause der gemeinsame Teil der Teilnehmenden mit den Jugendlichen der Kreisschule Aarau-Buchs, die an diesem Tag im Aarauer Schachen ihren Sporttag absolvieren.

Tag der Generationen, 19. Juni, 9.30 Uhr bis 17 Uhr, Schachen Aarau. Infos/Anmeldung (bis 26. Mai): www.aarau2019.ch/tdg, E-Mail info@aarau2019.ch, Telefon 062 824 20 19.

 

Beitrag vom 22.05.2019