Lebensspiegel: Der liebevolle Blick zurück
Wenn Krankheit und Abhängigkeit den Alltag bestimmen, geht oft das persönliche Würdegefühl verloren. Die Würdetherapie bringt ein Stück Lebensqualität zurück und wird zu einem Vermächtnis für die nächsten Generationen.
Text: Usch Vollenwyder
Ich bin dankbar, dass ich das ganze Leben so gut gemeistert habe. Ich war immer eine selbstständige und freie Denkerin. Ich konnte meine Ansichten vertreten und mit Einsicht reagieren, wenn ich einmal falsch lag. Es ging mir eigentlich alles gut von der Hand. Ich glaube, dass ich eine gute Mutter war. Die Kinder stehen als verantwortungsvolle Menschen mit beiden Beinen im Leben; dazu habe ich meinen Beitrag geleistet. Auch wenn es nicht immer einfach war. Wenn ich etwas erreichen wollte, legte ich eine grosse Ausdauer an den Tag.»
Marianne G.* erzählt von ihrer wohlbehüteten Kindheit in Deutschland, von der unbeschwerten Zeit mit Ausgang und Discobesuchen als Jugendliche und von ihrer Trauer um den Vater, der im Krieg verschollen blieb. Sie schildert die erste Begegnung mit ihrem Mann: «Ich lernte meine grosse Liebe in Deutschland kennen, wo Kurt damals auf Montage war. Es ging alles sehr schnell. Am zweiten Abend fragte mich Kurt bereits, ob ich ihn heiraten möchte.» Das Paar bekam zwei Kinder und hat sechs Enkel. Vor wenigen Wochen kam das zweite Urenkelkind zur Welt.
Die Erinnerungen von Marianne G. sind in ihrem «Lebensspiegel» zusammengefasst, einem mehrseitigen, in verschiedene Abschnitte gegliederten Dokument. Ihr Porträt ziert das Titelbild: eine leise lächelnde Frau mit kurzen, weissen Haaren. Das Foto hatte ihr Mann im vergangenen Herbst während der letzten glücklichen Ferien in Griechenland aufgenommen.
Kurz vor der Rückreise brach die Tumorerkrankung aus. Zurück in der Schweiz folgten Spitalaufenthalte und Chemotherapien. Auf eine weitere Chemotherapie verzichtet Marianne G. Die Familie trägt ihre nicht einfache Entscheidung mit.
Rückblick auf ein reiches Leben
Marianne G. weiss um ihre begrenzte Zeit. Sie verbringt sie daheim, wird umsorgt von ihrem Mann und unterstützt von einem guten Umfeld. Dazu gehört auch das Mobile Palliative Care Team des Spitals Wetzikon, das sie auf das Angebot «Lebensspiegel» hinwies: Eine kompetente Begleitperson würde mit ihr einen Blick auf ihr Leben zurückwerfen, das Gespräch auf Tonband aufnehmen und daraus einen Text verfassen – nicht nur als Kraftspender für sie selber, sondern auch als bleibende Erinnerung für ihre Kinder und Enkel. Marianne G. war neugierig und sagte zu: «Es war richtig schön, sich hinzusetzen und das eigene Leben Revue passieren zu lassen», meint sie.
«Wir bringen das Leben zum Leuchten.»
Tony Styger (Projektleiter der Andreas Weber Stiftung)
«Lebensspiegel – Würde erfahren bei Krankheit und im Alter» ist ein Angebot der Andreas Weber Stiftung in Wetzikon, welche sich für die Lebensqualität schwer kranker und sterbender Menschen in ihrem eigenen Zu hause einsetzt. Notfallseelsorger Tony Styger ist Sekretär und Projektleiter der Stiftung. Er macht immer wieder die Erfahrung, wie schwer kranke Menschen beim Erstellen eines Lebensspiegels aufblühen und die Krankheit in den Hintergrund tritt. «Wir bringen das Leben zum Leuchten», sagt er. Oft höre er dann die Bemerkung: «Ich hatte ein reiches Leben.» Für die Zurückbleibenden sei der Lebensspiegel ein kostbarer Schatz: «Die verstorbene Person bleibt damit noch lebendiger in Erinnerung.»
Daniela Messer, Religionspädagogin in der Pfarrei St. Andreas in Uster, ist bei jedem Gespräch berührt vom Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird: Wie ein bunter Strauss entfalte sich ein fremdes Leben vor ihr. Dass es vom Tod her betrachtet wird, gebe ihm oft eine besondere Tiefe. Für die Seelsorgerin ist es ein Privileg, Menschen in dieser Situation begleiten zu dürfen. In einem ersten Kontakt mit den Betroffenen stellt sie den Ablauf für die Erstellung des Lebensspiegels vor. Danach wird ein Termin für das eigentliche Gespräch vereinbart.
Im anschliessenden Dokument versucht Daniela Messer, das Erzählte zu verdichten, den roten Faden zu finden und dabei möglichst nah bei den Aussagen ihrer Gesprächspartnerinnen und -partner zu bleiben. Das Leben in seinen vielen Facetten zu akzeptieren und auch die bitteren Momente zu würdigen, sei das grosse «Plus» des Lebensspiegels, sagt Daniela Messer. Einen feierlichen Moment erlebt sie, wenn sie beim dritten Besuch den Text laut vorliest. Es sei, als würden ihre Zuhörenden dabei einen Blick in den Spiegel werfen: «Das bin ich. So bin ich geworden. Und es war gut, dass ich da war.»
Wissenschaftliches Konzept
«Lebensspiegel» ist ein anderer Name für Dignity Therapy. Diese basiert auf den Forschungsarbeiten des kanadischen Palliativmediziners und Psychiaters Harvey Max Chochinov, der sich intensiv mit den Nöten und Bedürfnissen schwer kranker Menschen auseinandersetzte. Viele seiner Patientinnen und Patienten berichteten nicht nur von körperlichen und psychischen Schmerzen und der da mit verbundenen Abhängigkeit. Sie litten auch unter dem Verlust ihres persönlichen Würdegefühls – häufig ein Grund, um einen begleiteten Suizid in Betracht zu ziehen. 2005 stellten Chochinov und sein Team ein Würde-Modell vor, aus dem sie schliesslich die Dignity Therapy entwickelten: ein die Würde stärkendes Angebot im Rahmen der palliativen Betreuung, im deutschen Sprachraum auch «Würdetherapie» oder «würdezentrierte Therapie» genannt.
«Die positiven Ressourcen – all das, was einmal Freude und Kraft schenkte und damit das persönliche Würdegefühl stärkte – brechen bei einer schweren Krankheit und am Lebensende weg», sagt Peter Muijres, Psychologe und medizinischer Anthropologe mit Forschungsschwerpunkt Dignity Therapy (siehe Interview). Auf so vieles muss verzichtet werden: auf Arbeit und Hobbys, das Engagement für andere, Erlebnisse in der Natur, Begegnungen, Reisen, das Zusammensein mit der Familie und Freunden, auf Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Lebensqualität und Sinnhaftigkeit gehen verloren.
Dort setzt laut Peter Muijres, Doktorand an der Universität Zürich, die Dignity Therapy an: Nicht ein chronologischer Lebenslauf steht dabei im Zentrum, sondern vielmehr Erinnerungen, Erfahrungen, Beziehungen und Interessen. Die vorgegeben Fragen zielen auf die Würde stärkenden Momente im Leben: «Wann fühlten Sie sich am lebendigsten? Worauf sind Sie am meisten stolz? Welches sind Ihre Hoffnungen und Träume für Ihre Angehörigen?» Mit den Erinnerungen werden Emotionen wach, Vergangenes und Erreichtes wird benannt, um es zu würdigen und sich darüber zu freuen. «Würde bedeutet, dass die betroffenen Menschen über ihre Krankheit hinaus wieder in Verbindung kommen mit der Person, die sie waren und werden wollten», sagt Peter Muijres.
Angebot für ältere Menschen
Christoph Schmid war bis zu seiner Pensionierung Ressortleiter Gerontologie bei Curaviva Schweiz, dem Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter. Seither ist er frei beruflich als Dozent und Berater in Alters und Ausbildungsinstitutionen tätig. Er besuchte einen Dignity-TherapyWeiterbildungskurs bei Peter Muijres. Das Konzept der Würdetherapie überzeugte ihn und hat ihn seither nicht mehr losgelassen. Er kennt aus eigener Erfahrung die Kraft der Biografie, von der sich auch in schwierigen Zeiten zehren lässt. Für seine Söhne und Enkel hat er die eigene Lebensgeschichte in Bild und Text festgehalten.
«Es war richtig schön, sich hinzusetzen und das eigene Leben Revue passieren zu lassen.»
Marianne G.
Wie oft hat Christoph Schmid in seiner Arbeit als Theologe und Gerontologe den Seufzer gehört: «Ich hätte so gerne mehr von meinen Eltern gewusst. Jetzt kann ich sie nicht mehr fragen.» Für ihn ist deshalb der Aspekt der Generativität, wie er in der würdezentrierten Therapie hervorgehoben wird, besonders wert voll: «Der Lebensrückblick der älteren ist ein Vermächtnis für die jüngere Generation.» Menschen an ihrem Lebensende kann der Gedanke trösten, dass sie damit etwas Dauerhaftes hinterlassen. Die Nächsten erhalten ein bleibendes Geschenk.
Christoph Schmid bietet Dignity Therapy als würdezentrierte Biografiearbeit unter dem Titel «Mein Lebensweg» an. Das Angebot wendet sich an alle älteren Menschen, welche sich Gedanken zu ihrem Lebensende machen: «Auch sie haben eine verkürzte Lebensperspektive und fragen sich, wie sie bei ihren Nachkommen in Erinnerung bleiben wollen.» Wann der richtige Zeitpunkt für einen solchen Rückblick sei, lasse sich nicht sagen, meint Christoph Schmid: «Vielleicht sind es gesundheitliche Probleme, Zeichen des Älterwerdens, Einschränkungen, vielleicht der Tod eines lieben Menschen, eine miterlebte Abschiedsfeier oder eine überstandene Krankheit, welche das Anliegen dringlicher werden lassen.»
Ausblick
In der Schweiz ist eine gute palliative Betreuung zwar etabliert, allerdings gibt es erst wenige therapeutische Angebote, welche spezifisch die persönliche Würde stärken. Seit 2016 werden Anwendungsmöglichkeiten und Nutzen der Dignity Therapy hierzulande von Peter Muijres erforscht. Die bisher entstandenen Projekte sind lokal begrenzt, schweizweit noch wenig bekannt, und auch die Finanzierung ist unter schiedlich geregelt. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass Dignity Therapy das Gefühl von Würde verstärkt und die Lebensqualität deutlich verbessert.
«Dignity Therapy vermittelt ein Gefühl von Verbundenheit über Zeit und Raum hinweg», sagt Peter Muijres. «Der Lebensspiegel hat etwas so Friedfertiges», meint Daniela Messer. «Als würde der Blick zurück die Wogen des Lebens glätten.» Für Christoph Schmid ist jedes Leben einzigartig, wertvoll und würdig genug, um in einem Rückblick festgehalten zu werden – nicht nur, wenn der Tod unmittelbar bevor steht. Und Marianne und Kurt G. sind sich einig: «Wir haben so viel miteinander erlebt, so viele Erinnerungen teilen wir! Wir hatten ein schönes Leben.»
*Namen sind der Redaktion bekannt.
Bücher
- Harvey Max Chochinov: Würdezentrierte Therapie. Was bleibt – Erinnerungen am Ende des Lebens. Verlag Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2017, 245 S., CHF 41.90
- Harm-Peer Zimmermann, Simon Peng-Keller (Hrsg.): Selbstsorge bei Demenz. Alltag, Würde, Spiritualität. Mit einem Fach- beitrag von Peter Muijres. Campus Verlag 2021, CHF 56.90
Adressen
- Tony Styger, Projektleiter Lebensspiegel, 8320 Fehraltorf, Mail tony.styger@andreasweberstiftung.ch, Internet andreasweberstiftung.ch
- Christoph Schmid, Mein Lebensweg, Hochwachtstrasse 10, 6312 Steinhausen, Mail schmid-christoph@bluewin.ch, Internet pall-care.ch
Unterstützung finden
Der Hatt-Bucher-Stiftung ist die Würde der älteren Menschen ganz wichtig. Sie unterstützt vielerlei Vorhaben, die darauf abzielen, diese Würde zu erhalten und zu stärken.
So ist sie auch bereit, die sogenannte Dignity Therapy zu fördern. Einerseits können ihr Altersorganisationen und Heime entsprechende Gesuche unterbreiten. Und andererseits können ihr Sozialarbeiterinnen, Beistände, kirchliche Mitarbeitende und weitere Fachpersonen aus dem Altersbereich Gesuche für Einzelpersonen einreichen, die sich eine Dignity Therapy wünschen. Die genauen Voraussetzungen für Gesuche finden sich im Internet unter hatt-bucher-stiftung.ch oder können bei der Gesuchsverantwortlichen der Stiftung, Frau Monika Pfister, erfragt werden.
Telefon: 044 250 44 50, monika.pfister@hatt-bucher-stiftung.ch
Lesen Sie hier das Experten-Interview mit Peter Muijres über die Dignity Therapy: «Das Leben wird wieder bedeutungsvoll»
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