Wenn die Eltern alt und die erwachsenen Kinder älter werden, beginnt die letzte Phase in dieser lebenslangen Beziehung: Eltern müssen Unterstützung annehmen, Kinder Verantwortung übernehmen. Wichtig ist die Begegnung auf Augenhöhe.
Warum der Fisch schwimmt? Wo der Nikolaus wohnt? Weshalb die Nachbarin einen so grossen Buckel hat? Ihr Vater wusste auf alles eine Antwort. Und ihre Mutter nahm sie tröstend in die Arme, wenn Schulkameraden sie wegen ihrer Brille hänselten oder sie um die Kälblein trauerte, die beim Metzger auf ihren Tod warteten. Franziska K. erlebte eine glückliche Kindheit. Dann kam die Pubertät. Franziska K. wandte sich von ihren Eltern ab, fand sie spiessig und langweilig und zog bald schon von zu Hause aus. Sie heiratete und wurde Mutter von Zwillingen. Ihre Eltern freuten sich über ihre Grosselternschaft. Die Generationen lebten ein friedliches Nebeneinander. Bis am Pfingstsonntag 2010. Da realisierte Franziska, dass auch ihre Eltern älter werden:
„Pfingsten war Tradition: Da traf sich unsere Familie – die Eltern und wir Geschwister – zum jährlichen Fischessen am Murtensee. Schon beim Mittagessen klagte meine Mutter über Zahnschmerzen. Auf dem Weg zur Schiffstation blieb sie auf einmal stehen und hob die Hand zu ihrem Mund. Als sie sie öffnete, lag darin ein goldenes Zahnimplantat. Das kleine Gewinde schimmerte im Sonnenlicht. Wie ein Blitz durchfuhr mich in diesem Moment der Gedanke: Meine Eltern sind verletzlich. Sie werden nicht immer gesund, stark und vital bleiben.„
Franziska K. (58)
Bettina Ugolini, Pflegefachfrau und Diplompsychologin am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich, weiss aus zahlreichen Beratungen: «Vielfach gibt es diesen Moment, in dem erwachsene Kinder plötzlich realisieren, dass der sichere Hafen aus ihrer Kindheit schwindet. Dass ihre Eltern fragil werden und über kurz oder lang Unterstützung brauchen.» Es sei der Moment, in dem für die Eltern-Kind-Beziehung – nach der Verbundenheit in der Kindheit, der Distanz während der Pubertät und der Unabhängigkeit – noch einmal eine neue Phase mit veränderten Rollen beginne.
Diese letzte Phase kann viele Jahre dauern, da sich aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung die gemeinsame Lebenszeit von erwachsenen Kindern und ihren alten Eltern verlängert. Spätestens wenn körperliche Einschränkungen, eine beginnende Demenz oder der Tod des Vaters oder der Mutter die bislang selbstständige Lebensführung der alten Eltern beeinträchtigen, sind Söhne und Töchter neu gefordert. Studien der emeritierten Psychologieprofessorin und Generationenforscherin Pasqualina PerrigChiello zeigen, dass erwachsene Kinder in der Regel gerne bereit sind, ihre Eltern zu unterstützen und ihnen bei der Alltagsbewältigung zu helfen.
Die Gründe für diese Bereitschaft sind unterschiedlich: Zum einen werden Hilfeleistungen aus Verbundenheit, Liebe und Dankbarkeit erbracht, zum anderen wird diese intergenerationelle Hilfe in der Familie gesellschaftlich auch erwartet. Bettina Ugolini, die psychologische Einzel, Gruppen und Familienberatung zu Themen rund ums Leben im Alter anbietet, warnt jedoch vor einem Rollentausch: «Kinder bleiben Kinder – bis zum letzten Atemzug ihrer Eltern.» Kinder in der Elternrolle würden Gefahr laufen, die alten Menschen nicht ernst zu nehmen und besser zu wissen, was für sie gut sei und was sie zu lassen hätten. «Eigentlich meinen sie es gut – und bevormunden damit ihre alten Väter und Mütter»:
„Ich bin meinen beiden Töchtern wirklich dankbar, dass sie uns vor acht Jahren beim Umzug ins Altersheim geholfen haben. Ich bin ihnen auch dankbar, dass sie mir beim Tod meiner Frau so sehr zur Seite gestanden sind. Grundsätzlich freue ich mich über ihre Anteilnahme. Aber dass sie zu wissen meinen, was für mich gut ist, geht mir richtig auf die Nerven – als wäre ich ein Schuljunge und nicht ein gestandener Mann: Trägst du bei dieser Kälte bitte ein Halstuch? Nimmst du den Spazierstock, wenn du nach draussen gehst? Hast du genug getrunken? Nimmst du am Gedächtnistraining im Altersheim teil? Ein bisschen mehr Bewegung würde dir guttun … Manchmal bin ich ganz froh, wenn sie nicht zu häufig zu Besuch kommen. Dann kann ich meinen Tag nach meinem Rhythmus gestalten.„
Frank S. (93)
Unterstützungsaufgaben werden, vor allem von Töchtern, oft auch aus Pflichtgefühl übernommen. Am Anfang sind meist nur kleine Handreichungen nötig – hier einkaufen, dort Rasen mähen, hier die Wäsche bügeln, dort die Fenster putzen. Manchmal wird es jedoch sehr schnell viel mehr, und plötzlich sehen sich erwachsene Kinder und alte Eltern in Rollen, die sie weder geklärt noch gewünscht haben. Damit wächst auch die Gefahr von Überforderung: Man versucht, den wirklichen oder vermeintlichen Erwartungen der Eltern gerecht zu werden, ohne die eigenen Grenzen zu überdenken. Man tut, was man kann – und trotzdem scheint es nie genug zu sein:
„Wie eine Klette hängt meine Mutter an mir. Nach dem Tod meines Vaters war ich gerne bereit, für sie den einen oder anderen Botengang zu erledigen. Ich lud sie häufiger zu uns ein, machte mit ihr Ausflüge und Verwandtenbesuche. Sie sollte sich nicht so allein fühlen. Ich ging mit ihr zum Arzt, erledigte für sie die grösseren Einkäufe und ihre administrativen Aufgaben. Sie telefonierte häufig – und mit der Zeit immer mehr: Könntest du mir den Fernsehapparat neu einstellen? Ich brauche dringend Batterien für das Hörgerät. Am Sonntag möchte ich gerne in den Gottesdienst, dort predigt der neue Pfarrer … Sie telefoniert aber auch, um mir den neusten Klatsch aus der Nachbarschaft zu erzählen oder um etwas völlig Banales zu fragen. Wenn ich dann sage, ich hätte doch auch noch einen Bruder, an den sie sich wenden könne, schweigt sie beleidigt. Und prompt bekomme ich Schuldgefühle.„
Vreni M. (65)
«Die Bedürftigkeit der Eltern löst bei den erwachsenen Kindern zunächst Unsicherheit aus», sagt Bettina Ugolini. Sie müssen akzeptieren, dass ihre einstigen Felsen in der Brandung jetzt selber Unterstützung brauchen. Damit kommen sich in der Regel die Generationen wieder näher; doch eine Rückkehr zur Verbundenheit der Kindheit ist – nach Jahrzehnten der Autonomie – nicht mehr möglich und auch nicht angebracht. Alte Familienmuster und Rollenbilder tragen nicht mehr. «Filiale Krise», nennt die Fachwelt den Prozess, wenn erwachsene Söhne und Töchter ihre Beziehung zu den Eltern neu definieren und entsprechend regulieren müssen. Doch viele Eltern erleben, dass ihren Kindern dieser Reifeprozess nicht gelingt:
„Heute hat mich mein Sohn schon wieder angerufen. Jedes Detail erzählt er mir aus seinem Leben – vor allem von all den Problemen mit seiner geschiedenen Frau. Dass sie immer mehr Geld will. Dass sie seinen Sohn gegen ihn ausspielt. Dass sie ihm Hausverbot erteilt hat. Dass sie aber immer noch sein Auto fährt. Dass er seinem Leben eigentlich geradesogut ein Ende setzen könnte. Ich versuche ihm dann gut zuzureden. Wie es mir geht, fragt er nie. Dabei habe ich selber genug Sorgen mit meinen ständigen Rückenschmerzen und meinem kranken Lebenspartner.„
Susanne G. (74)
«Filial reife Kinder sind aus ihrer Kinderrolle herausgetreten und haben ihr Mutter oder Vaterbild ergänzt. Sie begegnen ihren Eltern auf Augenhöhe», sagt Bettina Ugolini. Das gelingt, wenn die Eltern nicht auf ihre einstige Rolle reduziert, sondern vielmehr als eigenständige Menschen mit einer eigenen Lebensgeschichte wahrgenommen werden. Wenn ihnen als Individuen mit Träumen, Zielen und Wünschen begegnet wird, denen vieles gelungen ist und die auch gescheitert sind. Wenn sie als Frauen und Männer mit einer Biografie gesehen werden, die Respekt und Wertschätzung verdient. «Filial reife Kinder auf Augenhöhe mit ihren Eltern wissen auch, was sie zu geben bereit sind und wo ihre Grenzen liegen.»
Der filialen Reife steht die parentale Reife gegenüber: Alte Eltern müssen sich mit ihrer zunehmenden Gebrechlichkeit auseinandersetzen. Sie müssen lernen, die Verantwortung der Kinder anzunehmen und zu tolerieren. Die Praxis zeigt, dass es für alte Eltern am schwierigsten ist zu akzeptieren, dass das Verhältnis von Geben und Nehmen aus dem Gleichgewicht gerät. Plötzlich sind sie es, die mehr Unterstützungsleistungen annehmen sollen, als sie zurückgeben können. Gerade für Menschen, die sich immer selber durchbeissen und nie jemandem zur Last fallen wollten, ist das ein schwieriger Prozess:
„Ich verstehe das nicht: Meinem Vater geht es aufgrund einer chronischen Krankheit immer schlechter und meine Mutter weigert sich, von uns Hilfe anzunehmen. Klar wohnen wir nicht gerade um die Ecke, aber gern möchten wir die Eltern so weit es geht unterstützen. Da sind meine Geschwister und ich uns einig. Aber meine Eltern wollen uns um keinen Preis zur Last fallen. Am Telefon heisst es immer: Jaja, es geht schon. Dabei sehe ich, wie meine Mutter immer dünner und kraftloser wird. Ich habe Angst, dass sie ganz zusammenbricht, wenn mein Vater einmal nicht mehr da ist. Aber können wir ihr unsere Unterstützung aufzwingen? Auch mein Vater meint, zusammen kämen sie ja noch ganz gut zurecht. Ich bin ratlos.„
Flavia G. (49)
Parental reife Eltern wissen um ihre Hilfsbedürftigkeit und akzeptieren die Sorge ihrer Kinder. Filial reife Kinder geben ihren Eltern Zuwendung und Unterstützung – freiwillig und autonom. Geben und Nehmen werden neu austariert. Soll das letzte gemeinsame Wegstück gelingen, ist das offene Gespräch unerlässlich. Das fällt manchmal schwer, und meist muss es von der jüngeren Generation angestossen werden. Die Neuropsychologin Katja Werheid schreibt in ihrem Buch «Nicht mehr wie immer»: «Wirklich erwachsen sind wir erst, wenn wir uns eingestehen, dass die gemeinsame Zeit mit den Eltern endlich ist. Sie aktiv zu gestalten, indem wir möglichst früh miteinander ins Gespräch kommen, ist die wichtigste Voraussetzung, um unsere Elternbeziehung zu vertiefen und Krisen gemeinsam zu bewältigen.»
Bücher
Cornelia Kazis, Bettina Ugolini: «ich kann doch nicht immer für dich da sein». Wege zu einem besseren Miteinander von erwachsenen Kindern und betagten eltern. pendo Verlag, München und Zürich 2008, 270 S., ca. CHF 19.90
Katja Werheid: «Nicht mehr wie immer». Wie wir unsere e ltern im Alter begleiten können. ein Wegweiser für erwachsene Kinder. piper Verlag, München 2017, 206 S., ca. CHF 23.90
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