Gegenstände sind Brücken zu anderen Menschen und Zeiten. Sie halten Erinnerungen und Gefühle wach. Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber weiss um ihre Bedeutung und ihren emotionalen Wert.
Was zeichnet Menschen aus, die Lieblings- oder Erinnerungsgegenstände aufbewahren?
Bereits ein Baby ertastet seine Umgebung, es entdeckt neue Formen und Gegenstände. Diese Verbindung mit der gegenständlichen Welt bleibt ein Leben lang erhalten, und viele der Dinge, denen wir im Laufe der Jahre begegnen, werden uns wichtig. Darum bin ich fast sicher, dass jeder Mensch Dinge aufbewahrt – auch wenn einige sie vielleicht nur in der Erinnerung speichern.
Was zeichnet diese Gegenstände aus?
Sie markieren wichtige Phasen, Ereignisse und Übergänge im Leben. Der vertraute Teddy eines kleinen Kindes ist mehr als ein Teddy – er vermittelt Sicherheit in einer sich verändernden Welt. Die Erinnerung an ihn bringt dieses Gefühl von Geborgenheit zurück. Andere Gegenstände halten die Verbindung zur ersten Liebe, zu einer verstorbenen Person, zu früheren Generationen oder auch zu einem anderen Ort aufrecht. Sie rufen Erinnerungen und Gefühle hervor, die man noch nicht loslassen möchte. Mit solchen Dingen lässt sich das eigene Leben zeitlich und räumlich wie auf einem Koordinatennetz ordnen und strukturieren. Manchmal braucht es dazu nicht einmal Worte: Ich weiss von einer Familie, die jedes Jahr zu Weihnachten einen ganz bestimmten Gegenstand an den Baum hängt – als Erinnerung an ein früh verstorbenes Geschwisterchen.
Stechen aus diesen vielen Möglichkeiten besondere Gegenstände hervor?
Es sind in der Regel einfache, ganz gewöhnliche Gegenstände. Sie bekommen ihre Bedeutung erst durch den Wert, der ihnen die betroffene Person zuweist. Für diese sind sie emotional wichtig. Häufig sind es Erinnerungsgegenstände aus der Kindheit. Es kann aber auch eine Uhr, ein Ring oder ein besonderes Kleidungsstück sein. Fast immer sind es Gegenstände aus dem Alltag der Menschen, die man tragen und mitnehmen kann. Ein Auto zum Beispiel ist eher die Ausnahme.
Gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen?
Frauen sind wahrscheinlich näher an Alltagsgegenständen, da sie immer noch häufiger für die praktische Lebensgestaltung zuständig sind als Männer. Männer wiederum hängen eher an typisch männlichen Erinnerungsstücken – man denke nur an die Aktivdienstgeneration, die sich kaum von Tornister und Karabiner trennen konnte. Das zeigt auch, dass solche Gegenstände nicht nur einen persönlichen Wert haben, sondern auch in einem historischen Kontext stehen und dem Zeitgeist unterworfen sind.
Bleiben Dinge im Laufe des Lebens immer gleich wichtig?
Gegenstände aus der Kindheit haben eine herausragende Bedeutung. Später hebt man sich Stücke aus der Teenagerzeit auf – Kleider, Accessoires, Schuhe, Schallplatten, Erinnerungen an wilde Zeiten. Im aktiven Berufsleben geht das Interesse an solchen Dingen meist zurück und erwacht erst wieder, wenn Kinder und später Enkel kommen: Viele Eltern und Grosseltern bewahren in einer Schachtel Erinnerungen an deren Kleinkinderzeit auf.
Und im Alter?
Mit zunehmendem Alter werden viele Dinge entweder noch wichtiger oder wieder wichtig. Gegenstände aus früherer Zeit geben Kontinuität und Trost in einer Phase, in der sich vieles verändert: Man wird schwächer und vergesslicher, verliert immer mehr Freundinnen und Bekannte und muss vielleicht den Umzug in ein Heim planen. In diesem Umbruch vermitteln lieb gewonnene Gegenstände das Gefühl, dass man nach wie vor dem Leben zugewandt und zugehörig ist.
Sollte man sich im Alter nicht gerade von Dingen trennen?
Gerade weil man viele Dinge loslassen muss, sind solche Gegenstände wichtig! Die glücklichsten alten Menschen sind diejenigen, die sich mit etwas beschäftigen können – auch mit ihrer Vergangenheit. In den Gegenständen um sie herum bleibt ihr Leben sichtbar. ❋
© zVg
Prof. Dr. Walter Leimgruber (61)
studierte an der Universität Zürich Geschichte, Volkskunde und Geografie, arbeitete als Ausstellungsmacher und als Redaktor beim Schweizer Fernsehen und war Kurator im Schweizerischen Landesmuseum. Walter Leimgruber leitet das Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Kulturerbe, Museen und materielle Kultur.