Von Menschen und Mäusen
Der Traum von ewiger Jugend ist so alt wie die Menschheit. Wissenschaftliche Fortschritte wecken die Hoffnung auf mehr Lebensjahre und -qualität. Doch in der Longevity-Forschung ist bei weitem nicht alles Gold, was glänzt.
Text: Marc Bodmer, Illustrationen: Maggie Stephenson
Ist Altern eine Krankheit? Diese Frage steht für Forschende im Zentrum des Hypes um Longevity, Neudeutsch für Langlebigkeit. Die Idee dahinter: Wenn Altern eine Krankheit ist, dann lässt sich auch eine Heilmethode dagegen finden. Ist es aber eine irreversible Entwicklung des Lebens, dann eben nicht.
Für die Forschung im Bereich Longevity ist die Definition, dass Älterwerden eine Krankheit ist, von fundamentaler Bedeutung. Wer in den USA ein Medikament auf den Markt bringen möchte, muss nämlich den Nachweis erbringen, dass dieses zur Linderung oder gar Heilung einer Erkrankung beiträgt und keine schädlichen Folgen nach sich zieht.
Zerfall der Zellen
Dank Fortschritten in der Genetik hat die These, Altern als Krankheit zu betrachten, ein neues Momentum erhalten. Der britische Biogerontologe Aubrey de Grey ist überzeugt, dass der erste Mensch, der 1000 Jahre alt werden wird, bereits geboren ist. Er erachtet den Glauben an das Altern als eine Art Massenhypnose. David A. Sinclair, Professor für Genetik an der renommierten Universität Harvard in Boston, arbeitet daran, den Zerfall der Zellen auf molekularer Ebene zu verhindern. Ermöglicht wird dies durch Enzyme, die Reparaturen an der DNA, der Erbinformation von Lebewesen, vornehmen. Sinclair konnte nachweisen, dass ältere Mäuse durch die Anregung bestimmter Enzyme jünger werden und 20 Prozent länger leben.
«Der erste Mensch, der 1000 Jahre alt werden wird, ist bereits geboren.»
Die Ergebnisse aus der Forschung wecken Hoffnung. Hoffnung auf eingesundes, langes Leben. Wissenschaftler wie Sinclair betonen wohl, dass regelmässiges Training und eine Reduktion der aufgenommenen Kalorien ebenfalls zum Weg der ewigen Jugend gehören. Doch die Vorstellung, einfach eine Pille zu schlucken, ist da weit verlockender. «Hoffnung ist ein Riesentreiber – ähnlich wie in der Finanzindustrie», sagt Harry Büsser, Wirtschaftsjournalist und langjähriger Kenner der umtriebigen Branche, die dem Tod ein Schnippchen schlagen möchte. «Den Wunsch, schnell reich zu werden, kennen praktisch alle. Beim Longevity-Geschäft ist es die Hoffnung, nicht zu sterben.»
So werden denn auch munter Tabletten und Kapseln geschluckt. Multimillionär Bryan Johnson investiert jährlich zwei Millionen Dollar in seine Unsterblichkeit und nimmt täglich rund 100 Pillen zu sich. Der 47-jährige Biohacker, der sich als «professioneller Verjüngungsathlet» bezeichnet, ist überzeugt davon, dass sich sein Körper dank seinen Interventionen um fünf Jahre verjüngt hat. Zukunftsforscher Ray Kurzweil begnügt sich mit 80 Tabletten. Auch Anti-Aging-Buchautorin Nina Ruge schluckt «einige», darunter auch das Diabetes-Medikament Metformin, dessen lebensverlängerndes Potenzial in einer grossen Studie in den USA geklärt wird. «Mir dauert es allerdings zu lange, bis die Studie ausgewertet sein wird», sagte Nina Ruge in einem Interview. «Und da dieses Anti-Diabetes-Mittel sehr gut verträglich ist, nehme ich es jetzt schon.» Dass Versuche mit Mäusen auch gezeigt haben, dass Metformin zu Muskelschwund führen kann, scheint dabei in den Hintergrund zu rücken.
Dubiose Therapien
Doch nicht nur in Pillenform lockt die Unsterblichkeit, auch in verschiedenen Behandlungsmethoden, wie sie in Longevity-Kliniken angeboten werden, die schweizweit wie Pilze nach einem lauen Herbstregen aus dem Boden schiessen. Sie reichen von Blut-Tuning über Energie-Booster-Infusionen zu Kryo- und Rotlicht-Therapien. «Die Forschungsergebnisse, die ins Feld geführt werden, basieren oft auf Tier-Modell-Studien oder insgesamt sehr kleinen mittleren Effekten, deren Übertragbarkeit auf den Menschen und eine nachweislich verlängerte Lebensqualität völlig unklar sind», relativiert Christina Röcke, Co-Direktorin des UZH Healthy Longevity Centers der Universität Zürich die Angebote, die nicht selten ins Geld gehen (siehe Interview unten).
Ähnlich sieht es Finanzjournalist Harry Büsser, der den Longevity-Markt mit den Krypto-Währungen vergleicht: «Gut 90 Prozent dürften unbrauchbar, wenn nicht gar betrügerisch sein.» Und hält dabei die gleiche Empfehlung bereit: «Wenn etwas zu gut tönt, um wahr zu sein, wird es wohl so sein. Eine Wunderpille gibt es nicht.»
Was dann? «Wir alle haben diverse Möglichkeiten, unser Leben und Altern zu gestalten», sagt Christina Röcke. «Diese sind einfach zu haben und oft kostenlos, und wir kennen sie alle: Bewegung, Schlaf, soziale Beziehungen, Ernährung. Das Schöne ist, jede und jeder kann sich überlegen, was ihm oder ihr wichtig ist, und dann möglichst viel Zeit darin investieren.»
Täglich ein Eisbad
Diese Gedanken hat sich Luca Hintermann, Spitex-Pfleger und Personal Trainer, schon in jungen Jahren gemacht. Mit dem Einstieg ins Berufsleben hat der heute 28-Jährige seinen Alltag auf vier Säulen gestellt: «Sport, Ernährung, Regeneration (dabei helfen Eisbaden, Schlaf und Meditation) und als vierten Punkt die mentale Einstellung, das Mindset.» (Das ganze Interview mit Luca Hintermann lesen Sie hier.)
Doch seit Beginn des Jahres hat sich die Priorität für den jungen Vater verschoben: «Unser Baby kommt an erster Stelle.» Hintermann trainiert, wenn die Tochter schläft oder seine Frau sich um sie kümmert. Nach wie vor steigt er jeden Morgen für zwei Minuten ins Eisbad und macht seine Atemübungen. «Der Kontakt mit dem kalten Wasser führt zu einer massiven Ausschüttung von Botenstoffen. Die Wirkung ist sofort spürbar.» Es muss aber nicht Eiswasser sein, bereits ab 18 Grad macht sich der Effekt bemerkbar. «Mit älteren Menschen mache ich oft ein kaltes Fussbad, das hilft auch. Aber: Man sollte keine Kältebäder machen, wenn man krank ist.»
«Gut 90 Prozent der Angebote dürften unbrauchbar sein.»
«Das Gleiche gilt für Intervallfasten, von dem in Anti-Aging-Kreisen immer wieder zu hören ist», sagt Luca Hintermann. Bei der Longevity-Forschung zeigte sich, dass Mäuse, die einen Tag lang kein Futter erhielten, länger lebten, weil in dieser Zeit gewisse Zellabfallstoffe abgebaut wurden. Doch ein Tag in einem durchschnittlichen Labor-Mäuseleben von drei Jahren entspräche rund 27 Tagen bei Menschen, geht man von einer Lebenserwartung von etwa 80 Jahren aus. Von einem solchen Diät-Experiment ist klar abzuraten. «Die Ernährung sollten wir so frisch, unverarbeitet, regional und bunt wie möglich gestalten», empfiehlt Hintermann. «So werden auch die wichtigsten Mikro- und Makronährstoffe eingebunden.»
Positives Altersbild
Für viele ist Longevity eine sexy Bezeichnung für Prävention. Es macht Sinn, Krankheiten vorzubeugen, statt diese zu heilen. Und in diesem Bereich wurden bereits eindrückliche Fortschritte gemacht: 1900 lag die Lebenserwartung eines Neugeborenen bei 32 Jahren. 2021 hatte sie sich mehr als verdoppelt und lag bei 71 Jahren. Nicht zuletzt deshalb wird es schwierig sein, massgebend lebensverlängernde Medikamente zu entwickeln. Und: Im Vergleich zu Mäusen sind menschliche Körper besser in der Lage, ihre DNA zu reparieren und damit Krankheiten wie Krebs vorzubeugen.
Einen gar kontraproduktiven Aspekt der aktuellen kommerziellen Longevity-Angebote hebt Christina Röcke vom Healthy Longevity Center hervor: «Sie zementieren nahezu alle negative Altersstereotype», sagt sie. «Dabei haben diverse Studien gezeigt, dass ein positives Altersbild Menschen bis zu siebeneinhalb Jahre länger leben lässt – im Durchschnitt.» Zum Altern gehört mehr als Krankheit und Verlust. Es sind die Jahre der Erfahrung, des Genusses, der Freundschaften, des Beisammenseins. Kurz: für manche die besten Jahre des Lebens.
Das Blaue auf Erden
Rund um den Globus verteilt finden sich fünf Gebiete, in denen Menschen deutlich länger leben als der Durchschnitt. Ihre Ernährung und moderate Kalorienzufuhr tragen massgebend dazu bei.
Die sogenannten Blauen Zonen sind Gebiete auf der Welt, in denen Menschen überdurchschnittlich lange und gesund leben. Zu ihnen gehören Loma Linda in Kalifornien, Okinawa in Japan, die Barbagia-Region auf Sardinien, Italien, Ikaria in Griechenland und die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica. Trotz der geografischen Unterschiede gibt es bemerkenswerte Gemeinsamkeiten in den Lebensweisen und insbesondere in der Ernährung der Menschen in diesen Gebieten.
Ein zentrales Merkmal ist die pflanzenbasierte Ernährung. Die Bewohnenden der Blauen Zonen konsumieren überwiegend Gemüse, Obst, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte und Nüsse. Fleisch wird in sehr geringen Mengen gegessen, häufig nur ein paar Mal im Monat. Stattdessen dienen Hülsenfrüchte wie Bohnen, Linsen und Kichererbsen als primäre Proteinquellen.
Ein weiteres gemeinsames Element ist die moderate Kalorienzufuhr. In Okinawa beispielsweise hört man mit dem Essen auf, wenn man zu 80 Prozent satt ist, eine Praxis, die als «Hara Hachi Bu» bekannt ist. Gesunde Fette, wie Olivenöl in Ikaria und Sardinien, sind ein wichtiger Bestandteil der Ernährung. Sie sind reich an Omega-3-Fettsäuren, die die Herzgesundheit und Entzündungshemmung stärken.
Wichtig sind auch die sozialen Strukturen. Die Menschen in den Blauen Zonen leben in engen Gemeinschaften. Sich gegenseitig zu unterstützen und auszutauschen gehört zum Alltag. Diese engen Bindungen tragen zur mentalen Gesundheit bei und reduzieren Stress, was sich wiederum positiv auf die Lebensqualität und Langlebigkeit auswirkt.
Bloss nicht sterben
Dem Tod ein Schnippchen schlagen möchten die Longevity-Anhängerinnen und -Anhänger. Dafür sind sie bereit, sich strikten Diäten und Therapien zu un-terziehen. Wir stellen hier fünf bekannte Persönlich-keiten vor, die Unsterblichkeit erlangen möchten.
Bryan Johnson (47), Unternehmer
Einer der wohl radikalsten Verfechter der Anti-Aging-Bewegung ist der US-Unternehmer Bryan Johnson, Gründer von diversen Technologie-Unternehmen, Guru des «Don’t Die»-Trends und Millionär. Geschätztes Vermögen: 400 Mio. Dollar. Seit 2021 hat er das «Project Blueprint» für sich ins Leben gerufen, bei dem er sich an ein striktes Diät- und Trainingsregime hält und es sich 2 Mio. Dollar pro Jahr kosten lässt. Dazu gehört, dass er täglich rund 100 Pillen schluckt und auch Bluttransfusionen von seinem Sohn erhielt.
Ray Kurzweil (76), Computerwissenschaftler und Futurologe
Der Wissenschaftler geniesst weltweit einen guten Ruf für seine präzisen Prognosen. So hielt er bereits 2005 fest, dass Computer 2029 «die Intelligenz von Menschen erreichen werden». Seit 2012 arbeitet er für Google als leitender Wissenschaftler im Bereich künstliche Intelligenz. Für Kurzweil gibt es keinen Grund, nicht über 120 Jahre alt zu werden. Er ist überzeugt, dass schon bald eine Zeit kommen wird, in der das Alter rückgängig gemacht werden kann und man sich mit der Cloud direkt verbindet.
Aubrey de Grey (61), Biogerontologe
Mit seinem Bart ist der Brite ein Hingucker, der aus der Zeit gefallen scheint. Aubrey de Grey ist überzeugt, dass der erste Mensch, der 1000 Jahre alt werden wird, bereits geboren ist, und dass die Bevölkerung einer «Pro-Altern-Trance» erliegt, einer Form von Massenhypnose, die suggeriert, dass Altern unabwendbar sei. Zusammen mit Michael Rae hat er das Buch «Ending Aging» (2007) geschrieben. Er ist Gründer der Longevity-Escape-Velocity-Stiftung, die sich der Bekämpfung des Alterns widmet.
Nina Ruge (68), Autorin, ehem. TV-Moderatorin
Nach einem Germanistik- und Biologie-Studium machte Nina Ruge beim Fernsehen als Moderatorin Karriere. Sie hat diverse Bücher verfasst, darunter «Altern wird heilbar: Jung bleiben mit der Kraft der drei Zellkompetenzen». Sie beschäftigt sich, wie sie in einem Interview sagte, «seit fünf Jahren intensiv mit dieser neuen, wegweisenden Forschung und Wissenschaft. Ja, ich verstehe mich als Botschafterin einer starken, ganzheitlichen Medizin der Zukunft: nicht Krankheiten heilen – sondern Gesundheit erhalten.»
David A. Sinclair (55), Professor für Genetik
Mit seinem Buch «Das Ende des Alterns. Die revolutionäre Medizin von morgen», das er zusammen mit Matthew D. LaPlante verfasst hat, schuf David A. Sinclair ein Standardwerk der Longevity-Gemeinde. Er machte immer wieder mit gewagten Prognosen hinsichtlich der Wirkungsweise von gewissen Wirkstoffen auf sich aufmerksam. Jüngst erzürnte Sinclair die Wissenschaft mit der Behauptung, dass er eine Pille entwickelt habe, die das Altern von Hunden rückgängig mache. Studien dazu gibt es bis dato keine.
Tipps für ein längeres und gesundes Leben
Wir kennen sie eigentlich alle – die Dinge, die uns in jedem Alter guttun. Zur Sicherheit haben wir
die fünf wichtigsten Empfehlungen hier noch einmal zusammengestellt.
1. Hallo Freunde!
Gene sind gut, Freunde sind besser. Seit über 80 Jahren geht die «Harvard Study of Adult Development» den Gründen für ein längeres und gesundes Leben nach. Die Langzeitstudie hat gezeigt, dass enge Beziehungen zum Lebensglück massgebend betragen, mehr als sozialer Status, Intelligenz oder gar unsere Gene. Wer mit 50 Jahren zufrieden war mit seinen Beziehungen, war mit 80 am gesündesten. Interessant ist dabei, dass es um Freunde und nicht um die Familie geht. Und nicht um Bekanntschaften, sondern zwei, drei wirkliche Freundinnen und Freunde, die die Bezeichnung auch verdienen.
2. Schlafen Sie gut
Immer wieder prahlen Wirtschaftsbosse und Politiker damit, dass sie mit wenigen Stunden Schlaf auskommen. Wer aber regelmässig weniger als sechs Stunden Schlaf pro Nacht erhält, schadet seinen kognitiven Fähigkeiten, insbesondere der Erinnerung, und fördert die Bildung eines Proteins, das zur «Verkalkung» des Gehirns beiträgt. Wer über neun Stunden schläft, tut sich auch keinen Gefallen. Natürlich können die Schlafbedürfnisse variieren, aber für Menschen im Alter von 38 bis 73 Jahren wird eine Dauer von sieben Stunden empfohlen. Schlaf trägt zu einer längeren Aufmerksamkeit, verbesserten Erinnerung und der Fähigkeit, neue Dinge zu lernen, bei.
3. Bewegen Sie sich
Tägliche Bewegung, sei es durch Spazieren, Gartenarbeit oder Sport, hilft, das Herz-Kreislauf-System zu stärken, das Immunsystem zu verbessern und das Risiko für viele altersbedingte Krankheiten zu reduzieren. Es fördert auch die mentale Gesundheit. «Grundlagenausdauer und mentale Gesundheit werden oft unterschätzt. Wer raus geht und eine Stunde spaziert, erfüllt beide Bereiche», sagt Personal Trainer Luca Hintermann. Wer mag, kann zusätzlich zwei Mal pro Woche den ganzen Körper trainieren. Ziel ist ein gesundheitsorientiertes und funktionelles Training, das die Beweglichkeit sämtlicher Körperteile umfasst. Eine optimale Ergänzung ist es, ein bis zwei Mal pro Woche Ausdauer zu trainieren. Übertreiben Sie es nicht. Grundsätzlich gilt: Weniger ist mehr. Der Muskel wächst in der Regenerationsphase. Und: Regelmässigkeit ist der Schlüssel zum Erfolg.
4. Stillen Sie nur den Hunger
Die japanische Präfektur Okinawa zählt zu den Blauen Zonen (siehe Box «Das Blaue auf Erden»), die Journalist und Bestseller-Autor Dan Buettner vor über 20 Jahren identifiziert hat. Die Bewohnerinnen und Bewohner beginnen ihre Mahlzeit mit der von Konfuzius inspirierten Weisheit: «Hör auf zu essen, wenn du 80 Prozent satt bist.» Während wir ein gutes Essen oft mit dem Spruch «Ich bin voll» quittieren und erledigt in den Sessel sinken, sagen die Japanerinnen und Japaner: «Ich bin nicht mehr hungrig.» Damit man das Sättigungsgefühl erkennt, empfiehlt es sich, langsam zu essen und sich nicht durchs Handy oder TV-Gerät ablenken zu lassen. Essen Sie frische, unverarbeitete und regionale Produkte, die möglichst viele verschiedene Farben haben. Das macht der Verdauung und dem Darm-Biom Freude.
5. Ruhe und Frieden
«Studien zeigen, dass Meditation enorme Einflüsse auf das Gehirn hat. Anatomisch wie auch physiologisch, kognitive Funktionen wie die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis verbessern sich», hat Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie, in der letzten Zeitlupe-Ausgabe gesagt. Das Gehirn beschäftigt sich beim Meditieren mit sich selbst und nicht mit der Umwelt. Es ist sehr empfehlenswert, sich solche mentalen Zufluchtsorte zu suchen, um sich vor den ganzen Reizen des Alltags zu schützen.
«Es werden Altersstereotype zementiert.»
Christina Röcke, Psychologin und Co-Direktorin des Healthy Longevity Centers der Universität Zürich, kann dem Älterwerden einiges abgewinnen und wünscht sich weniger Altersfeindlichkeit.
Text: Marc Bodmer
Was steckt hinter dem aktuellen Longevity-Hype?
Christina Röcke: Zentral dürfte die Möglichkeit zur Selbstvermessung mit Hilfe von Smartwatches und anderen portablen Messgeräten sein. Diese Selbstoptimierung fokussiert nun auch
auf die Zukunft und wird mit einer Anti-Aging-Komponente versehen.
Lebensqualität scheint dabei zu kurz zu kommen.
Die Frage ist: Wie definiere ich Lebensqualität und gutes Altern? Ist jede krankheitsbezogene Diagnose ein Zeichen von schlechtem Altern? – Nein, die grosse Mehrheit älterer Menschen ist sehr zufrieden mit ihrem Leben und kann gut mit Veränderungen umgehen. Altersbedingte Veränderungen sind nicht
nur Verluste.
Als solche werden sie aber dargestellt.
Es ist ein komplexes Zusammenspiel aus Gewinnen und Verlusten. Viele Menschen, die sich zurzeit im Longevity-Bereich tummeln, legen den Fokus einzig auf die biologisch-medizinische Ebene. Aber auf diese beschränkt sich Altern nicht. Wo bleiben die soziale Ebene, der Genuss, die Lebenserfahrung …?
Die Anti-Aging-Anhänger werfen in der Regel alle Menschen ab einem gewissen Alter, z. B. ab 65, in einen Topf und blicken nur noch auf Defizite. Dabei wird die hohe Heterogenität der Altersgruppe und der gesamten Lebensphase übersehen. Wir altern weder alle gleich, noch altern wir in allen Lebensbereichen gleich schnell oder stark.
Fast im Wochentakt werden «Longevity-Kliniken» eröffnet, deren Angebote von Blut-Tuning über Energie-Booster-Infusionen zu Kryo-Therapien reichen und oft teuer sind. Was und wem nützen diese?
Wer hat Zugang? Leute mit viel Geld. Der Nutzen? Die Forschungsergebnisse, die ins Feld geführt werden, basieren oft auf Tier-Modell-Studien oder insgesamt sehr kleinen mittleren Effekten, deren Übertragbarkeit auf den Menschen und eine nachweislich verlängerte Lebensqualität völlig unklar sind.
Was funktioniert denn?
Empirisch gut belegte Tatsachen, die halt nicht so sexy klingen wie Kryotherapie: Wir alle haben Möglichkeiten, unser Leben und Altern zu gestalten. Diese sind oft kostenlos, und wir kennen sie alle: Bewegung, Schlaf, soziale Beziehungen, Ernährung. Das Schöne ist, jede und jeder kann sich überlegen, was ihm oder ihr wichtig ist, und dann möglichst viel Zeit darin investieren.
Für wie viele Jahre ist unser Körper gebaut?
Jenseits von 120 bis 130 Jahren dürfte wohl Schluss sein.
Auf den sozialen Medien setzen sich die Extreme durch wie Bryan Johnson mit rund einer Million Follower. Ist das die Formel 1 der Lebensverlängerung?
Johnson ist eine polarisierende Figur. Man kann an seinem Wissen gegen Geld teilhaben und seine Produkte kaufen. Wer das tut, erliegt aber dem Trugschluss, dass das, was Johnson hilft, auch anderen hilft.
Über 100 Pillen pro Tag schlucken?
Sein Lebensstil widerspricht wohl den Präferenzen der meisten. Die Frage, ob er vielleicht gleich oder gar länger leben würde, wenn er drei Mal die Woche joggen ginge und sich mit Freunden treffen würde, wird unbeantwortet bleiben. Und: Er verpasst zumindest von aussen betrachtet durch sein Tun die Möglichkeit, sich auf seine Endlichkeit vorzubereiten.
Die Empfehlungen zur Lebensverlängerung sind – wie Sie bereits erwähnt haben – seit Jahrzehnten die gleichen. Welcher Aspekt wird gerne unterschätzt?
Unlängst hat die seit über 80 Jahren geführte «Harvard Study of Adult Development» wiederum die sozialen Aspekte hervorgehoben. Keine seriöse und auf den Menschen übertragbare Studie über gutes Altern kommt zum Schluss: Gehen Sie in die Kältekammer und schrauben Sie an Ihren Körperzellen rum. Keine.
Erweist die Fokussierung auf ein längeres Leben dem Altern einen Bärendienst?
Die aktuellen kommerziellen Longevity-Angebote zementieren nahezu alle negative Altersstereotype. Dabei haben diverse Studien gezeigt, dass ein positives Altersbild Menschen bis zu siebeneinhalb Jahre länger leben lässt – im Durchschnitt. Selbst physiologische und Stress-Werte werden durch das Altersbild beeinflusst. Wir altern nicht in einem Vakuum, sondern in einem Kontext, in einer Gesellschaft. Wenn diese altersfeindlich ist, dann nützen alle Kryo-Kammern nichts.
Persönlich: Christina Röcke
Nach ihrer Doktorarbeit in Psychologie und einem Forschungsaufenthalt in Boston siedelte Christina Röcke 2007 von Berlin über nach Zürich. Sie ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des Zentrums für Gerontologie und Co-Direktorin des Healthy Longevity Centers, die beide zur Universität Zürich gehören. Zu Christina Röckes Forschungsschwerpunkten zählen die emotionale Gesundheit und das Wohlbefinden sowie Alltagsaktivitäten und Mobilität im mittleren und hohen Erwachsenenalter.
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