Der Alpenhistoriker Jon Mathieu hält die Behauptung für übertrieben, dass die Leute früher mehr Angst vor den Bergen hatten als heute. Die frühe Besiedelung spreche klar dagegen.
Sie haben 2015 ein Buch über die Geschichte der Alpen veröffentlicht. Sind Sie dabei auf neue Erkenntnisse über die Schweizer Berge gestossen?
Das Buch versucht einen historischen Überblick über den gesamten Alpenbogen zu geben. Das erfordert das Studium vieler Regionen aus mehreren Ländern. So ergibt sich oft ein neuer Blick auf das eigene. Es tauchen neue Fragen auf. Slowenien hat zum Beispiel eine starke nationale Orientierung auf den Berg Triglav. Um eine richtige Slowenin, ein richtiger Slowene zu werden, sollte man schon in jungen Jahren auf den Triglav steigen. Das wirft die Frage auf, welches bei uns eigentlich die alpinen Orientierungspunkte sind: Matterhorn? Eiger, Mönch und Jungfrau? Gotthard? Oder eher ein Bergensemble?
Warum glaubte man einst, dass der Gotthard der höchste Alpenberg sei?
Die Höhe von Bergen zu messen, ist schwierig. So brauchte man in einer frühen Phase die Wasserläufe als Hinweis. Beim Gotthardmassiv entspringen mehrere wichtige Flüsse, also muss es hoch sein. Interessant zu sehen ist auch, welche Berge man für die höchsten der Welt hielt. Lange war es der Pico del Teide auf Teneriffa, dann der Chimborazo in Ecuador und erst im 19. Jahrhundert die Himalaja-Gipfel. Da die Erdkugel am Äquator umfangreicher ist, übertrifft der 6263 Meter hohe Chimborazo den Mount Everest übrigens um zwei Kilometer, wenn man vom Zentrum der Erde und nicht von der Meereshöhe her misst.
«Die Leute hätten kaum in den Bergen der Alpen gesiedelt, wenn sie sich nicht zu Hause gefühlt hätten»
Früher standen die Berge für Gefahr, heute für Spass und Erholung. Werden die Berge verklärt?
Auch heute lauern noch Gefahren in den Bergen. Es gibt viele tödliche Unfälle und Verletzte. Die meisten aufgrund sportlicher Aktivitäten, die sich im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten. Damals vertraten diese Pioniere auch die Idee, dass die Leute in früherer Zeit allgemein Angst vor den Bergen gehabt hätten. Das ist allerdings arg übertrieben. Die Alpen waren schon früh ein stark bevölkertes Gebirge. Die Leute hätten kaum da gesiedelt, wenn sie sich nicht zu Hause gefühlt hätten. Es ging ihnen aber nicht um Erstbesteigungen, und sie neigten nicht zur Verklärung der Berge.
Wer hat das heutige Bild der Berge mehr geprägt, die Künstler oder die britischen Alpinisten?
Die ersten «Entdecker» der Alpen waren Naturforscher, in der Schweiz zum Beispiel Konrad Gessner (1516–1565) und Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Auf sie folgten die Künstler, manchmal mit doppelter Begabung wie Albrecht von Haller: Nach einer Botanisierreise im Wallis und Berner Oberland schrieb er 1729 ein Alpengedicht, das später sehr berühmt wurde. Das alles hat das Bild der Berge geprägt. Natürlich haben die Briten – Forscher, Künstler, Alpinisten und Touristen – dieses Bild mitgeprägt, besonders in ihrer ultra-imperialistischen Phase.
Gibt es trotz allem auch Parallelen zum früheren und heutigen Umgang mit den Bergen?
Aussichtsberge haben die Leute seit langem fasziniert. Konrad Gessner lobte im 16. Jahrhundert die Aussicht vom Pilatus. Weniger bekannt ist eine Schilderung der Aussicht vom Niesen, die der Thuner Pfarrer Hans Rudolph Rebmann 1606 festhielt – in einem bemerkenswerten Text.
Inwiefern?
Es ist eine Enzyklopädie aller bekannten Berge der Welt in Versform und mit einer speziellen Rahmenerzählung: Rebmann präsentiert seine Kenntnisse nämlich als Gespräch zwischen dem Niesen und dem Stockhorn. Beide Berge werden als Könige dargestellt, die seit der Entstehung der Erde gute Nachbarn sind und sich jetzt mit ihrem Hofstaat besuchen. Die Berge sind also belebt, was in der westlichen Tradition ungewöhnlich, aber in vielen Kulturen normal ist. ❋
Zur Person
© zVg
Jon Mathieu ist ein emeritierter Geschichtsprofessor und Autor der Bücher «Die Alpen: Raum – Kultur – Geschichte» und «Die dritte Dimension – Eine vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit». Der Historiker war Gründungsdirektor des «Istituto di Storia delle Alpi» und lehrte zuletzt an der Universität Luzern.
Zum Schwerpunkt-Artikel «Faszination Berg»
Berge ziehen viele Menschen magisch an. Die Zeitlupe beleuchtet die Beziehung mit vier Porträts und erklärt, weshalb Berge nicht überall heilig sind. Zum Artikel.
Passend zur «Faszination Berge», dem Schwerpunktthema der August-Ausgabe, stellt die Zeitlupe einige Dokumentar- und Spielfilm-Tipps vor.