Wenn der Schmerz nicht enden will …
Mal dröhnt der Kopf, mal tut es im Rücken weh. Das ist unangenehm, aber kein Vergleich zu chronischen Schmerzen, welche Betroffene erdulden müssen. So wie Beatrice Kauer, deren Leidensweg vor drei Jahren begann.
Text: Marco Hirt
Auf einmal ist in ihrem Leben nichts mehr wie zuvor: Damit muss sich Beatrice Kauer seit einem Junitag 2021 abfinden. Damals liess sie ihre linke Kniescheibe stabilisieren – wegen Beschwerden bei alltäglichen Belastungen. «Wie schon bei der rechten Kniescheibe, die zwei Jahre zuvor erfolgreich operiert wurde», erzählt die 23-Jährige. «Dennoch schob ich den Eingriff hinaus, da ich kein gutes Gefühl hatte.»
Als ob die junge Frau aus Kirchberg BE etwas geahnt hätte. «Bereits im Aufwachraum nach der Operation hatte ich starke Schmerzen.» Durch Nerveninfiltrationen zur Linderung klangen diese ab, jedoch nur kurz. Beatrice Kauer erduldete mehrere Wochen die Qual, bis sie das Schmerzzentrum Emmental aufsuchte. Eine Nervenschädigung durch den Eingriff konnte da zwar nicht mehr bestätigt, aber auch nicht ausgeschlossen werden. Wird diese nicht schnell genug behandelt, kann es – wie bei Beatrice Kauer – zu CRPS kommen, dem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (siehe Box).
CRPS steht für eine der schwerwiegendsten Schmerzerkrankungen. «Ein Knochenbruch, eine Operation oder eine Verletzung können zu einer übermässigen Reaktion des Körpers führen – einerlei, ob Nerven geschädigt wurden oder nicht», sagt Professor Dr. med. Florian Brunner, Chefarzt an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich (siehe Interview unten). «Daraufhin entwickeln sich die Beschwerden in Bezug auf Intensität und Dauer unverhältnismässig zum auslösenden Ereignis.» Weshalb es im «System zum Knall kommt», wie er es beschreibt, ist bislang kaum erforscht. Typisch sind starke Schmerzen und Schwellungen, aber auch Verfärbungen der Haut oder Störungen des Gefühlsempfindens. Je früher CRPS diagnostiziert wird, desto grösser die Linderungs- oder gar Heilungschancen. Die Behandlung erfolgt mit einer multimodalen Schmerztherapie, die verschiedene Behandlungsmethoden (u. a. Medikamente, Ergo-, Physio- und Psychotherapie) vereint.
Typische CRPS-Symptome zeigten sich bei Beatrice Kauer immer deutlicher: heftig brennende Schmerzen rund ums Knie mit Hautverfärbungen und Ausschlägen, verstärkte Beinbehaarung, zunehmende Übersensibilität, Anschwellen des Knies bei Belastung und deshalb noch intensivere Schmerzen. Um ihr Leid zu lindern, erduldete die Bernerin eine Behandlung nach der anderen – z. B. Sympathikus-Blockaden, welche die Schmerzleitung von Nervenfasern kurzzeitig unterbrechen. Insgesamt jedoch bewirkte alles eine Verschlimmerung. Auch eine Revisionsoperation am Knie und der Versuch eines Neurostimulators im Rücken (Veränderung der Schmerzsignale) waren erfolglos. «Zu viel in so kurzen Abständen: Ich war körperlich und mental enorm eschöpft.» Sie habe in der Hoffnung, dass es ihr besser gehen würde, allem zugestimmt, hätte sich jedoch mehr Zeit geben sollen. Hinzu kam in den beiden Rehas die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass der Schmerz so nicht mehr weggehen würde. Ihn nicht mehr zu bekämpfen, sondern herauszufinden, in welcher Form trotzdem ein erfülltes Leben möglich ist: Darum ging es nun.
Dabei hatte Beatrice Kauer diesen Schicksalsschlag noch gar nicht verarbeitet. «Ein Teil von mir ist bei der Operation gestorben. Ich war ein Energiebündel, sehr aktiv. Und jetzt unselbstständig zu sein, bereitet mir grosse Mühe. Auch stressen mich die Zukunftsängste sowie die fehlende Tagesstruktur. Und Stress ist Gift für CRPS-Betroffene.» Belastend kommt hinzu, dass sie wegen ihres schuppig gewordenen Beins, welches sie wegen der Überempfindlichkeit nicht bedecken kann, in der Öffentlichkeit nicht nur angegafft wird, sondern sich auch dumme Bemer- kungen anhören muss.
Aktuell versucht Beatrice Kauer, Ruhe in ihr Leben zu bringen, Kraft zu schöpfen, sich neu zu orientieren. Zu viele Therapien waren es zuletzt, zu viele Abklärungen und Gutachten. Was bleibt, ist der Schmerz – mittlerweile im ganzen Bein. «Ein Brennen, als ob es im heissen Backofen stecken würde. Und Stiche, die wie ein Stromschlag durch meinen Körper schiessen.» Deshalb ist sie in ständiger Angst, dass etwas an ihr Bein kommt. Nur schon ein Luftzug kann eine zusätzliche Reizflut auslösen.
Beatrice Kauer, die sich in ihrer Wohnung mit Krücken fortbewegt und draussen auf den Rollstuhl angewiesen ist, schaut nach ihrem Büsi, das sich miauend bemerkbar macht. Seit einem Jahr lebt Speedy bei ihr. Eine Therapiekatze, um die sie sich zu kümmern hat, damit sich nicht alles um den Schmerz dreht. «Jeder Tag, der meine Situation nicht verschlimmert, ist ein guter Tag.»
Info
Die Plattform crps-schweiz.ch bietet umfassende Informationen rund um die Krankheit CRPS sowie Kontakte zu Selbsthilfegruppen. Sie ist auch Anlaufstelle für Betroffene und ihr Umfeld.
Vom Warnsignal zur Dauerbelastung
Ein akuter Schmerz zeigt an, dass im Körper etwas nicht in Ordnung ist. Er schützt uns und geht wieder vorbei. Im Gegensatz dazu stehen die chronischen Schmerzen – eine Erkrankung, die die Lebensqualität stark mindern kann.
Rücken-, Muskel- und Kopfschmerzen: Das sind die hauptsächlichen Schmerzbeschwerden, die den Schweizerinnen und Schweizern zu schaffen machen. Rund 1,5 Millionen Menschen hierzulande sind mit einem Leiden konfrontiert, knapp 40 % von ihnen haben immer Schmerzen.
Häufig anzutreffen sind u. a. Erkrankungen des Bewegungsapparats (z. B. Gelenkschmerzen, Rheuma) sowie Kopfschmerzen (z. B. Migräne). Aber auch psychische Erkrankungen (Depressionen, posttraumatische Belastungsstörung) können zu einem anhaltenden Schmerzempfinden führen.
Definition:
Bei Schmerzen, die länger als drei Monate anhalten, spricht man von chronischen Schmerzen.
Entstehung:
Chronische Schmerzen können sich aus akuten Beschwerden entwickeln, denen oft eine körperliche Ursache zugrunde liegt. Durch die anhaltende Reizung der Nerven sinkt die Schmerzschwelle, das sogenannte Schmerzgedächtnis verfestigt die übermässige Empfindsamkeit der Nerven.
Begünstigung:
Faktoren wie z. B. anhaltende psychische Belastung (Stress, Ängste) sowie Negieren oder Relativieren des Schmerzes durch Schonhaltung können förderlich sein für chronische Schmerzen.
Symptome:
Sind der Schmerz und die Begleitbeschwerden für den Alltag so einschränkend, sollte unbedingt der Hausarzt aufgesucht werden. Je früher die Diagnose, desto besser die Prognose.
Behandlung:
Je nach Art und Intensität der chronischen Schmerzen werden ganz verschiedene Therapien miteinander kombiniert. Durch die Behandlung kann das Schmerzgedächtnis zwar nicht gelöscht, aber beeinflusst werden. Nur in seltenen Fällen verschwindet der Schmerz vollständig. Ziel der Behandlung ist es vielmehr, den Schmerz kontrollieren zu lernen und so an Lebensqualität zu gewinnen.
Vorbeugung:
Akute Schmerzen ernst nehmen – sie müssen frühzeitig und in ihrer Ursache vollständig behandelt werden, damit sich der Schmerz nicht eigenständig macht.
«Die frühe Diagnose ist entscheiden»
Prof. Dr. med. Florian Brunner, PhD,
ist Chefarzt Physikalische Medizin und Rheumatologie an der Universitätsklinik Balgrist und spezialisiert auf CRPS-Erkrankungen.
Was macht CRPS so speziell?
Prof. Florian Brunner: Die Erkrankung ist schlecht fassbar, weil sie sehr individuell und sehr wechselhaft verläuft. Das macht die Diagnose schwierig. Zudem gibt es keine ursächliche Therapie, da die Entstehung der Beschwerden unklar ist.
Worin besteht die Herausforderung?
Eine Verletzung, zum Beispiel eine Fraktur am Handgelenk, verläuft in den allermeisten Fällen normal und ist nach sechs Wochen verheilt. Eine meiner Patientinnen hatte gleich zu Beginn übermässige Schmerzen sowie eine enorme Schwellung der Hand. Ist das normal? Oder ist das der Anfang einer krankhaften Reaktion des CRPS? Das gilt es herauszufinden.
Wann läuten bei Ihnen die Alarmglocken?
Eine Frage, die ich stelle, ist: Wie sind die Schmerzen einzuordnen? Die vorhin erwähnte Patientin meinte, sie habe dreimal geboren, zudem an Nieren- und Gallensteinen gelitten, was hinnehmbare Schmerzen gewesen seien. Es sei aber nicht vergleichbar mit dem Ausmass, das sie jetzt nach der simplen Fraktur erleben würde. Bei solchen Aussagen muss ich als Arzt hellhörig werden.
Welcher Aspekt ist entscheidend bei CRPS?
Die frühe Diagnose, da die markanten Verbesserungen in den ersten sechs Monaten zu erzielen sind. Die Betroffenen sollen auch verstehen, dass nicht sie das Problem sind, sondern dass es eine Reaktion des Körpers ist. Und entscheidend ist auch, keine veränderte Wahrnehmung des Körperteils zu entwickeln, der Probleme verursacht. Mit Medikamenten und Therapien sowie der erwähnten Wahrnehmung sollen die Belastbarkeit gesteigert, die Beweglichkeit verbessert und die Integration in den Alltag ermöglicht werden.
Wenn die Diagnose zu spät kommt und die Schmerzen bleiben?
Grundsätzlich kann es auch nach zwei Jahren Verbesserungen geben, Hoffnung besteht immer. Aber nebst den guten Verläufen und zum Beispiel Betroffenen, die ihre veränderte Lebensqualität nach wie vor als akzeptabel ansehen, gibt es auch die Fälle, die sich mit ihrem schwierigen Zustand abfinden müssen.
Wie weit ist die Forschung, in der Sie auch tätig sind?
Herauszufinden, was die Ursache für CRPS ist, ist momentan utopisch. CRPS gehört in die Kategorie der seltenen Krankheiten. Man hat auch noch keine ursächliche Therapie gefunden. Deshalb setzen wir mit Studien auf die Identifikation von Untergruppen und auf die Möglichkeit einer spezifischen Behandlung.
Das Thema interessiert Sie?
Werden Sie Abonnent/in der Zeitlupe.
Neben den Print-Ausgaben der Zeitlupe erhalten Sie Zugang zu sämtlichen Online-Inhalten von zeitlupe.ch, können sich alle Magazin-Artikel mit Hördateien vorlesen lassen und erhalten Zugang zur Online-Community «Treffpunkt».