Seit 40 Jahren begleitet und berät Retina Suisse Menschen mit Netzhauterkrankungen. Diese unabhängige Instanz ist nötig: Denn die Versprechen zwielichtiger Anbieter ist mitunter so gross wie die Verzweiflung der Betroffenen.
Text: Roland Grüter
Die Natur weiss sich aus vielen Notlagen zu helfen. Nehmen wir den Zebrafisch: So klein der Flossler auch ist, er hütet ein grosses Geheimnis. Denn der Zebrafisch kann als einziges Lebewesen überhaupt selber Verletzungen der Netzhaut narbenfrei reparieren. Fachärzte der Augenheilkunde hoffen, dereinst die Selbstheilung des Tieres zu entschlüsseln und entsprechende Erkenntnisse auf Therapien der menschlichen Netzhaut (Retina) übertragen zu können.
Forschende könnten damit auch die Makuladegeneration behandeln. Daran sind in der Schweiz schätzungsweise 50 000 Menschen im Endstadium erkrankt. Bei diesen Erkrankungen werden Zellen des Sehzentrums, das uns überhaupt scharf sehen lässt, stark havariert oder gänzlich zerstört. Im Zentrum der Netzhaut zeigt sich ein kleiner, grauer Fleck (Makula), der sich über die Jahre ausweitet. Im schlimmsten Fall führt der Zellschwund zu einer schweren Sehbehinderung. Manche Formen der Makuladegeneration sind erblich bedingt, andere bilden sich erst im Alter aus. Menschen in der zweiten Lebenshälfte sind folglich davon besonders betroffen. Hier spricht man von altersbedingter Makuladegeneration (AMD).
Retinitis pigmentosa: vererbt und unheilbar
Stephan Hüsler (58) aus Kriens leidet unter einer genetisch bedingten Netzhautdegeneration. Bis zu seinem 40. Geburtstag sass er hinter dem Schalter einer Bank, dann stellte ihm der Arzt jene Diagnose, die seine Nachtblindheit, die Empfindlichkeit auf grelles Licht und der wachsenden Sehschwäche plötzlich einen Namen gab: Retinitis pigmentosa (RP). Diese erblich bedingte Netzhautdegeneration gilt als untherapierbar und nimmt Betroffenen die Sehkraft komplett.
Auf der Suche nach Informationen gelangte Stephan Hüsler zur Retina Suisse, einer Selbsthilfeorganisation von Menschen mit degenerativen Netzhauterkrankungen. Seit vier Jahren steht er an der Spitze der Vereinigung, er ist Geschäftsleiter und orchestriert dieses Jahr das 40-Jahre-Jubiläum von Retina Suisse. Dazu zählen Vortragsreihen in acht Schweizer Städten, in denen lokale und internationale Koryphäen der Augenheilkunde Interessierte über den Stand der Forschung informieren.
Einen Schwerpunkt der Vorträge setzt das Zürcher Kompetenzzentrum für Sehbehinderung im Alter (KSiA). Dieses verweist seit sechs Jahren auf die Anliegen sehbehinderter Seniorinnen und Senioren und will das Thema in der Ausbildung von Pflegeberufen stärker verankern. Aus gutem Grund: Bei alten Menschen werden Sehprobleme oft falsch bewertet und mit Demenz und anderen Hirnleistungsstörungen verwechselt: weil Sehbehinderte Gesichter nicht mehr erkennen, über alles Erdenkliche stolpern, urplötzlich nicht mehr lesen können oder Dinge nicht wiederfinden, obwohl sie gut sichtbar auf dem Tisch liegen.
Therapien für die AMD gibt es noch immer wenige. Man unterscheidet zwischen trockener und feuchter Form. Die trockene gilt als unbehandelbar, die feuchte wird mit Wachstumshemmern behandelt. Bei dieser wachsen Blutgefässe wild in die Makula und die noch lebenden Photorezeptoren überschwemmen mit Flüssigkeit, was die Sehkraft zusätzlich belastet. Entsprechende Medikamente sollen dieses Phänomen stoppen. Sie werden mitunter monatlich per Spritze direkt ins Auge verabreicht. Mittel suchen die Intervalle zu verlängern, nächstes Jahr kommt ein neues Präparat auf den Markt, das weit weniger Injektionen nötig macht.
Hoffen auf neue Therapien
Für die trockene, altersbedingte Makuladegeneration gibt es bislang keine tauglichen Therapien, und es wird wohl noch Jahre dauern, bis die Wissenschaft welche anzubieten hat. Immerhin: Im Februar vermeldeten Fachärzte einen Achtungserfolg. Sie führten im britischen Oxford die erste Gentransplantation gegen die AMD durch. Einer 80-jährigen Patientin wurde ein therapeutisches Gen ins lädierte Sehzentrum – gekoppelt an Grippeviren – implantiert. Damit soll der unterbrochene Sehzyklus wieder in Gang gesetzt werden. Es wird aber mindestens ein Jahrzehnt dauern, bis dieses Verfahren breit zum Einsatz kommen wird – wenn überhaupt. Wohl noch länger wird die Forschung mit Stammzellen brauchen. Damit soll die bereits abgestorbene Netzhaut durch neue, aus Stammzellen gewonnene Netzhautzellen ersetzt werden.
Wo die Not der Menschen gross ist, bleibt Spielraum für zweifelhafte Anbieter. Das gilt auch für die Behandlung der AMD. Vitamincocktails, Laserbehandlungen, Akupunktur etc. sollen den einen oder anderen Krankheitsverlauf verzögern oder gar stoppen. Die Versprechen sind mitunter kühn, die wissenschaftliche Basis, auf die sie sich stützen, ist dünn oder fehlt vollständig. Genau hier kommt Retina Suisse zum Zuge. «Wir können die meisten Fragen zu Therapien neutral und wissenschaftlich beantworten – ohne jegliche Eigeninteressen», sagt Hüsler. Die Organisation vermittelt Betroffenen auch Adressen kantonaler Beratungsstellen und von Low-Vision-Beratung, hilft bei Finanzierungsfragen und leistet psychosoziale Beratung. Sie begleitet Menschen auf ihrem Weg in ein Leben, in dem vieles unsichtbar bleibt, aber das trotzdem erfüllend sein kann.
Mehr Informationen über Retina Suisse und die Veranstaltungen zum 40-Jahre-Jubiläum finden Sie auf: retina.ch.