Zwischen Kunst und Anatomie: Ein Expertenpaar modelliert in Amden SG Gesichtsteile aus medizinischem Silikon, sogenannte Epithesen. Damit geben sie Versehrten eine neue Identität und eine Zukunft.
Text: Roland Grüter
Der Schicksalsschlag traf die junge Frau mitten ins Gesicht. Ein Krebs hatte einen beachtlichen Teil ihres Gesichts zerstört, dieser musste operativ entfernt werden. Die Nase und das linke Auge gingen ihr verloren – und damit die Aussicht auf ein erträgliches Leben. Die Frau dachte sich im ersten Moment nach der Hiobsbotschaft: «Wie bloss weiterleben? » Oder vielmehr: «Will ich überhaupt weiterleben?»
Mittlerweile hat die Zürcherin neuen Mut gefasst – dort, wo ein tiefes Loch klaffte, sitzt nun eine Epithese, so werden Prothesen des Gesichtes bezeichnet. Die Wimpern, die Poren der Haut, die Iris des Auges und andere Details des Ersatzes wirken erstaunlich natürlich. Wer der 31-Jährigen län- ger ins Gesicht schaut, bemerkt den Unterschied dennoch. Der Anblick ist aber weit erträglicher, als müssten Fremde ins Elend des Krebses schauen.
Nasen und Ohren aus Künstlerinnenhand
Sylvia und Falk Dehnbostel haben die Epithese geschaffen. Seit 30 Jahren modellieren sie in ihrem Institut in Amden SG nun schon Kopf- und Gesichtsteile aus medizinischem Silikon, einem Material, das frei ist von sämtlichen bedenklichen Zusatzstoffen. Rund 250 Patientinnen und Patienten werden von ihnen jährlich mit Epithesen versorgt – ihr Institut ist landesweit das einzige. Die jüngste Betroffene ist 18 Monate alt, die älteste über 80.Wer durch Krankheit oder einen Unfall einen Teil des Gesichtes verliert oder mit nur einem Ohr oder einem Auge geboren wird, kann dieses Manko vor den Blicken anderer Menschen nicht verbergen. Das psychosoziale Leben dieser Menschen gerät entsprechend aus den Fugen, Versehrte drohen zu Aussenseitern zu werden.
Noch in den 1970er-Jahren zogen sie sich meist aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, trauten sich mit ihren Blessuren kaum auf die Strasse. Damals war die Epithetik weitgehend unbekannt und die Wiederherstellungschirurgie noch jung, deren Erfolge bescheiden. Genau besehen sind sie es noch immer: Bis zu zehn Eingriffe sind erforderlich, um einen Gesichtsteil operativ zu rekonstruieren – und nicht immer ist das Resultat der Chirurgen überzeugend.
«Epithesen bieten echte Alternativen», sagt Sylvia Dehnbostel, «wir zeigen den Menschen auf, dass ein Leben trotz Verlust eines Gesichtsteils fast ohne Einschränkung möglich ist. Dass sie nicht vor dem Ende stehen.» Das Hauptziel ihrer Arbeit ist es denn auch, Betroffene möglichst schnell wieder in die Normalität zurückzuführen, ihnen psychosoziale Stabilität zu vermitteln. «Menschen nehmen sich und andere vor allem über das Sehen wahr», sagt die Expertin, «und das Gesicht spielt dabei eine zentrale Rolle.» Ist ein Teil davon zerstört, geht damit die Identität der Betroffenen verloren. Und eine Epithese hilft, sich neu anzunehmen.
Sylvia Dehnbostel ist gelernte Krankenschwester, später absolvierte sie ein Kunststudium. Gatte Falk, wie die meisten Epithetiker ein ehemaliger Zahntechniker, macht sich auch ausserhalb der Praxis stark für den Fachbereich. Er organisiert Weiterbildungen, hält Vorträge, will die Möglichkeiten seiner Profession in der Öffentlichkeit bekannter machen. «Denn unser Wirken ist noch immer erstaunlich unbekannt, selbst unter Ärzten», sagt er.
80 Prozent der Klientel sind Krebspatientinnen und -patienten
Krebspatientinnen und -patienten machen etwa 80 Prozent ihrer Klientel aus. Oft lernen sie das Expertenpaar aus Amden SG schon kurz nach der Diagnose kennen, noch vor der ersten Operation – etwa im Rahmen einer Tumorsprechstunde, in denen nebst ihnen Fachärzte, Chirurgen, die erkrankten Menschen und deren Angehörige über die Zukunft nachdenken. «Es ist wichtig, Krebskranken früh Perspektiven aufzu- zeigen», sagt Falk Dehnbostel.
Je nach Prozedere – Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, Wundheilung – kann die Gestaltung bis zur finalen Epithese anderthalb Jahre dauern. Erst wird ein Modell aus Wachs geformt. Ist dieses stimmig, wird die erste Epithese aus medizinischem Silikon umgesetzt. Sind die Wunden komplett geschlossen, folgt der letzte Präzisionsakt: Den Patienten werden millimetergenau die Halteimplantate in den Knochen eingesetzt. Rund 100 Tage nach dem kleinen Eingriff lässt sich daran schliesslich die Epithese mit Magneten befestigen; die Trägerin oder der Träger muss den Ersatz für die tägliche Pflege entfernen können.
In der Folge werden die Silikonwerke halbjährlich von den Experten kontrolliert und gegebenenfalls angepasst. Jedes zweite Jahr haben die Trägerinnen und Träger von Gesetzes wegen Anspruch auf ein neues Modell, die Kosten werden zum Grossteil von den gesetzlichen Kostenträgern übernommen. «Ein Mann wünschte sich in dieser Phase, dass wir seine Nase kleiner machen», erzählt Sylvia Dehnbostel. Er störte sich daran, dass er mit seinem «Zinken» ständig ans Bierglas stiess.
Wie wichtig das Gesicht und die Mimik für unsere Identität ist, zeigt die Ausstellung «Faszination Gesicht – Was unsere Mimik alles zeigt» bis zum 22. September im Vögele Kultur Zentrum, Pfäffikon SZ. «Unsere Mimik prägt den Austausch und die Kommunikation mit an- deren grundlegend, sie ist das Fundament unserer sozialen Bindung und Interaktion», sagt Kuratorin Sarah Wirth. Sie hat eine spannende Übersicht zum Thema erstellt und darin Kunst, Wissenschaft und Alltagsphänomene verwoben – auch das Thema Epithetik ist darin vertreten.
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