Von wegen Goldene Zwanziger
Im Gründungsjahr der Zeitlupe tanzt die moderne Welt Charleston und trinkt Champagner. Alte Menschen werden jedoch in den 1920ern oft von Armut gepeinigt – obwohl auch die Schweiz zusehends vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Das Porträt eines fiktiven Ehepaares.
Text: Roland Grüter
Der Winter legt im Januar 1923 neuerlich eine weisse Pracht über die Schweiz, selbst in niedrigen Lagen. Es ist seit Wochen bitterkalt, und so sehr sich Hans und Ursula Meier auch in ihrer Dreizimmer-Wohnung in Aussersihl ZH in Decken wickeln, sie frieren ohne Ende. Das Paar war vor über 30 Jahren vom Oberland nach Zürich gezogen, denn die dortige Wirtschaft entwickelte sich rasant. Die Aussicht auf eine sichere Arbeitsstelle hatte die beiden wie viele andere Landbewohnerinnen und -bewohner an die Limmat gelockt. In Zürich herrscht deshalb ein reges Kommen und Gehen – die jährliche Zuwanderungsrate liegt bei rund fünf Prozent. Die Meiers aber bleiben. Sie ziehen im urbanen Gewusel ihre drei Kinder gross.
Städte ziehen die Menschen magisch an
Hans und Ursula Meier leben in einem Arbeiterquartier, so wie sie Ende des 19. Jahrhunderts reihum errichtet wurden. Die Siedlung lag einst vor den Toren der Stadt. Doch 1893 wurde Aussersihl mit vielen anderen Orten eingemeindet, was Zürich zur grössten Metropole der Schweiz machte. Das Leben blieb aber einfach, ja geradezu ländlich. Über die Strassen fahren weiterhin Pferdekutschen und erst wenige Autos (1923 zählt man im Kanton Zürich erst um die 6000 Automobile und Motorräder). Die Frauen müssen die Wäsche unverändert von Hand waschen, walken und wringen, Böden schrubben, nähen und kochen. Sie haben mit der modernen Frau der 1920er wenig gemein, die Bubifrisur trägt, Zigarren raucht und Auto fährt. Sie tanzen lieber zu Ländlern als zu Charleston und tragen Trachten statt weitschwingende Marlene-Hosen. Für Orgien und Exzesse, wie sie in Berlin, Paris und in anderen Metropolen gefeiert werden, ist in den staubigen Strassen von Aussersihl wenig Platz.
«Ein stationäres Lebensmodell gab es in den 1920ern in der Unterschicht nur bedingt», sagt Historiker Matthias Ruoss, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an der Universität Freiburg, der lange zu Altersarmut und zur sozialen Sicherheit in der Schweiz forschte. «Viele Menschen reisten der Arbeit hinterher und verabschiedeten sich damit von ihren Dorfgemeinschaften, Familienverbünde wurden entzweit. In der Stadt waren alte Menschen entsprechend auf sich allein gestellt, da deren Kinder mitunter ebenfalls weiterwanderten. Pflege- und Altersheime gab es nicht – einzig private Vereinigungen und die Kirche nahmen sich Betagten und Bedürftigen an. Erst die Hochkonjunktur der 1950er und 1960er beendete das Elend der Altersarmut langsam.
Armut und Krankheiten
Das schnelle Wachstum, das die Städte in den 1920ern erfasst, hat seinen Preis. Armut und Krankheiten grassieren: Tuberkulose und andere Seuchen setzen vielen Leben ein jähes Ende. Und verliert jemand durch eine Krankheit oder einen Unfall seine Stelle, fällt er damit fast immer in bittere Armut. Wer eine Anstellung hat, schuftet bis ins Grab und leidet trotzdem Hunger. Der Unmut darüber treibt die Menschen regelmässig auf die Strassen. Doch ihr Appell bleibt ungehört – wie 1918, als 750 000 Frauen und Männer am nationalen Generalstreik teilnahmen. Die Menschen verlangten schon damals nach dem Frauenstimmrecht, der Einführung einer 48-Stunden-Arbeitswoche sowie nach einer Alters- und Invalidenversicherung. Sie waren davon überzeugt, damit die Wucht der Altersarmut zu brechen.
1923 ist die Welt davon aber noch immer weit entfernt. Es wird Jahrzehnte dauern, bis diese Forderungen in Erfüllung gehen. «Die Mehrheit unserer Bevölkerung ist bei lebenslanger, harter Arbeit nicht im Stande, auch nur die geringste Sicherstellung für die alten Tage zu erreichen», schreiben die reformierten Pfarrer im Kanton Baselland in einem Protestschreiben. Die Not zeigt sich im Winter 1923 abermals mit voller Wucht.
Die Kohle, die es bei Meiers um die Ecke zu kaufen gibt, ist von miserabler Qualität und teurer als je zuvor. Denn französische Truppen halten das deutsche Ruhrgebiet besetzt, weil Deutschland seine Entschädigungszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs nicht leisten konnte. Die Öfen in der Schweiz bleiben folglich kalt, auch jener der Meiers. Sie haben zwar ein sicheres Dach über dem Kopf, für mehr aber reicht das Geld nicht. Hans ist mittlerweile 60 Jahre alt und gehört damit zu den Senioren im Quartier. Der Mann leistet trotzdem 12-Stunden-Schichten in der nahen Fabrik, obwohl ihn sein Rücken allenthalben zwickt.
Auch seine Gattin Ursula gilt mit ihren 56 Jahren als uralt, das Durchschnittsalter der Frauen liegt bei 57 Jahren. Sie hatte sich einst eine Nähmaschine und Faden gekauft, damit sie für ein Textilunternehmen nähen und sich und ihrer Familie ein Zubrot sichern kann. Doch so sehr sich das Paar abmüht, das Elend bleibt ihr steter Gast. Denn Hans arbeitet in der Nahrungsmittelindustrie und verdient pro Stunde 1.23 Fr., seine Arbeitskolleginnen erhalten gar nur 75 Rappen. Und in der Bekleidungs-und Schuhindustrie, in der Ursula tätig ist, sind die Löhne sogar noch niedriger. Männer verdienten 1.14 Fr. und Frauen 70 Rappen. Ursula Meier muss folglich fast eine Stunde lang arbeiten, will sie sich ein Brot kaufen. Ein Liter Milch kostet 38 Rappen und ein Kilo Kartoffeln 15 Rappen.
Diese Schlagworte prägen die ersten Jahre der Zeitlupe
Die Fliessbandarbeit: Durch die Vereinfachung industrieller Produktionsprozesse öffnen sich der Wirtschaft neue Horizonte – und damit auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. US-Autobauer Henry Ford ist einer der Ersten, der in seiner Ford Motor Company Fliessbandarbeit einführt. Er macht damit das Auto zum Massenprodukt. Auch Schuhhersteller Bally gehört zu den Pionieren der industriellen Fertigung.
Der Konsumrausch: Die Welt hatte nach dem Ersten Weltkrieg und
den folgenden Krisenjahren grossen Bedarf, das Leben zu feiern. Kinosäle werden gebaut, Tanzlokale eröffnet. Jene Menschen, die Arbeit haben und Geld verdienen, geben dieses mit beiden Händen aus – so wie wir es aus der bekannten Fernsehserie Babylon kennen. Kaufhäuser erleben Umsatzrekorde, etwa die weltberühmte «Aux Galeries Lafayette» in Paris.
Das Radio: Ein Kanadier strahlt am Heiligabend 1906 in den USA die erste Radiosendung aus. Übertragen wird ein Largo von Händel und der Bibeltext «Ehre sei Gott in der Höhe». Ab den 1920er-Jahren tritt das Medium seinen Siegeszug an. Mehrere Tausend Radiostationen senden weltweit an ein Millionenpublikum.
Der Tonfilm: Nachdem die Bilder laufen lernten, beginnen sie zu reden. 1918 erfinden drei deutsche Tontechniker ein Verfahren, das einen Filmstreifen mit einer Tonradspur verbindet. Damit ist der Siegeszug des Tonfilms und des Kinos initiiert. Das Fernsehen: 1924 übermittelt der schottische TV-Pionier John Logie Baird die ersten Schwarz-Weiss-Bilder über eine Distanz von drei Metern – und stellt seine Erfindung dem staunenden Publikum eines Londoner Warenhauses vor. Vier Jahre später gelingt es ihm, Fernsehbilder von London nach New York zu übertragen.
Die Aviatik: Die ersten Schritte zur zivilen Luftfahrt werden vollzogen. Charles Lindbergh gelingt 1927 der Nonstop-Flug von New York nach Paris im Alleingang. Und Amy Johnson führt als erste Frau 1930 einen Alleinflug von England nach Australien durch.
15 Rappen für ein Kilo Kartoffeln
«In den 1920er-Jahren war die Altersarmut in der Unterschicht ungemein gross», sagt Historiker Matthias Ruoss. «Und die Altersarmut war vor allem weiblich und städtisch», ergänzt er: «Betagten Menschen ab 50 fehlte es in den Metropolen oft an Geld, am sozialen Netz, aber auch an Pflanzplätzen, auf denen sie Gemüse hätten anbauen können.» Vor allem alleinstehende und verwitwete Frauen litten unter der Not. «So sehr sie sich zur Decke streckten. Die Aussicht auf eine gut bezahlte Stelle war für sie sehr beschränkt. Im bürgerlichen Geschlechtermodell war damals nicht vorgesehen, dass Frauen arbeiten. Und verloren diese ihre Männer, führte das meist direkt in die Armut.
Zwar gab es in den 1920ern bereits eine rudimentäre Form von Sozialhilfe, die Personen in Armut unterstützten: mit Essen und Geld. Zusehends kamen private Wohltätigkeits-Vereine dazu, die sich um die armen Menschen kümmerten. Dazu zählt auch die Stiftung «Für das Alter» (heute Pro Senectute), die 1917 gegründet wurde, doch auch diese Einrichtungen hatten lange nur bescheidene Mittel. «Das ist eine Eigenheit der Schweiz», sagt Matthias Ruoss: «Erst kümmerten sich Privatpersonen, vor allem Industrielle, um das Wohl armer und alter Menschen, bevor der Staat diese Rolle übernahm.» Die Industrie-Barone bekämpften jahrzehntelang vehement alle Vorstösse der Politik, in diesem Bereich die Führung zu übernehmen. Denn darin ging es schon damals um sehr viel Geld. Matthias Ruoss: «Die Industriellen wollten diese Mittel, die in die betriebliche Fürsorge flossen, unbedingt selbst verwalten – statt sie staatlichen Organisationen zu überlassen. Sie bekämpften damit aktiv den Aufbau des Sozialstaates.» Der Machtkampf zwischen Staat und der Privatwirtschaft wurde hart und lange geführt. Erst 1948 werden AHV-Renten ausbezahlt.
Bedarf für Fürsorge ist gross
Der Bedarf für Fürsorge ist in den 1920ern gross. 1922 gibt es in der Schweiz gemäss dem «Historischen Lexikon der Schweiz» fast 100 000 eingeschriebene Arbeitslose – bei einer Gesamtbevölkerung von knapp vier Millionen Menschen. Ein Spitzenwert. Die wahre Zahl dürfte sogar noch grösser gewesen sein. Mitte der 1920er-Jahre unterstützt die Stiftung «Für das Alter» bereits rund 10’000 Personen, davon mehrheitlich Frauen. In Bern erhalten Menschen monatlich fünf bis zwanzig Franken. Die 1923 gegründete Zeitschrift «Pro Senectute» hält fest: «Als wichtigste Tatsache verdient hervorgehoben zu werden, dass zwei Drittel der unterstützen, alten Menschen dem weiblichen Geschlecht und bloss ein Drittel dem männlichen Geschlecht angehört. Die Stiftung ‹Für das Alter› ist also vor allem eine Frauenfürsorgeorganisation.»
Denken wir an die 1920er-Jahre zurück, tanzen Bilder von ausschweifenden Festen und fröhlichen Menschen vor unseren Augen, so wie wir sie aus der erfolgreichen Fernsehserie «Babylon Berlin» kennen, der teuersten deutschsprachigen TV-Produktion aller Zeiten. Und tatsächlich: Die Erinnerungen an die Schrecken des Ersten Weltkriegs verblassen zusehends, die daraus gewachsenen Aufgaben sind grösstenteils erledigt, die wichtigsten Volkswirtschaften erholen sich zusehends. Die Blütezeit der Kunst, Kultur und Wissenschaft bricht an. Nach all den Krisenjahren keimt die Hoffnung auf eine sorgenlose Zukunft. Vor allem zwischen 1924 und 1929 beginnt die Wirtschaft rasant zu wachsen, die Menschen verfügen über mehr Geld und sichere Stellen.
Imagepflege fürs Alter
Damit beginnen die «Roaring Twenties», die «années folles» oder «Goldenen Zwanziger Jahre». In den westlichen Metropolen wollen die Menschen das Leben feiern – und nachholen, was ihnen der Krieg verwehrt hatte. Die Industrie produziert dank technischem Fortschritt kostengünstigere Produkte für die Massen: Parfums, Bügeleisen und Staubsauger. 1924 erholt sich auch die Schweizer Wirtschaft, die Migros eröffnet 1926 den ersten festen Laden. Doch der Glanz des Goldes strahlte nicht bis nach Zürich Aussersihl. Bekamen Hans und Ursula Meier in Aussersihl überhaupt mit, dass die Welt sich in eine schönere, bessere wandelte?
«Durchaus», sagt Historiker Matthias Ruoss. «Auch den einfachen Menschen blieb mehr Geld, ihre Reallöhne stiegen. Industrie, Handwerk und Gewerbe blühten. Krämerläden wurden eröffnet. Die Bedrohung war weg, die Friedenszeit fing an.» Die Stiftung «Für das Alter» beginnt in dieser Zeit, auch das Image des Alters aufzuwerten. Die Verantwortlichen setzten sich dafür ein, dass der letzte Lebensabschnitt den Menschen mehr als Armut parat hält. Sie organisieren für Betagte Spielnachmittage, fahren sie in Autos übers Land und feiern ihre runden Geburtstage. «Pro Senectute ist eine wichtige Fürsprecherin des Alters», sagt Matthias Ruoss: «Die Stiftung begann, das Alter aufzuwerten, zu popularisieren.» Damit die Kinder und Kindeskinder von Hans und Ursula Meier im Alter dereinst mehr Freude und weniger Sorgen haben. Die Arbeit ist bis heute noch nicht abgeschlossen.
Mehr Informationen zur Geschichte der Stiftung Pro Senectute im entstehenden Schweizer Sozialstaat finden Sie im Buch «Fürsprecherin des Alters», von Matthias Ruoss, erschienen im Chronos-Verlag. Preis: CHF 53.90.
Spannendes über die Entwicklung der Stiftung «Für das Alter» – die heutige Pro Senectute – erfahren Sie überdies im Buch «Eine Jahrhundertgeschichte» von Kurt Seifert. Kurt Seifert war von 1999 bis 2016 für Pro Senectute Schweiz tätig, zuletzt im Bereich Grundlagenarbeit. Der Sozialwissenschaftler arbeitet heute als freier Publizist.
«Eine Jahrhundertgeschichte. Pro Senectute und die Schweiz 1917-2017», von Kurt Seifert, HierundJetzt-Verlag. Preis CHF 39.–.
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