Dass die geflüchtete Ukrainerin Veronika Taran im Aargau ein Zuhause und eine Zukunft gefunden hat, verdankt sie Brigitte und Werner Bopp – aber auch sich selbst. Eine bewegende Geschichte.
Text: Fabian Rottmeier
Perspektiven?! Nach drei Monaten in der Schweiz fiel Veronika Taran in ein emotionales Loch. Sie musste einsehen, dass der Krieg in ihrer Heimat länger andauern wird. Dass sie vielleicht nie mehr in die Ukraine zurückkehren und nie mehr bei ihren Eltern in Dnipro leben kann. Sie war 17 Jahre alt und hatte soeben per Onlineunterricht ihre ukrainische Schulausbildung abgeschlossen. Glück heisst in solchen Momenten auch, Menschen um sich zu haben, die einem zuhören. Und die eine Perspektive erkennen, die man selbst nicht sieht. Menschen wie Brigitte und Werner Bopp.
Das pensionierte Lehrerehepaar hatte Veronika Taran im März 2022 in seinem Haus im aargauischen Villnachern aufgenommen. Sie zeigten ihr auf, dass ihre schwierige Situation auch eine Möglichkeit bietet: eine Schweizer Berufsausbildung würde viele Türen öffnen, auch in anderen Ländern. «Sie hat ihre Chance gepackt», sagt Werner Bopp heute, zweieinhalb Jahre später.
Der Weg zur Grafikerin ist geebnet
Mit ihm sitzt eine erfrischend offene und heitere junge Frau am Tisch. Veronika Taran hat im August 2024 an der Schule für Gestaltung Basel eine vierjährige Grafik-Ausbildung begonnen. Die 20-Jährige schätzt sich glücklich, in der sicheren Schweiz zu sein. «Aber natürlich bin ich auch täglich traurig darüber, was in der Ukraine passiert, und sorge mich ständig um meine Familie.» Seit Kriegsbeginn hat sie ihre Eltern zweimal in Dnipro besucht. Ihr Vater darf das Land nicht verlassen – ihre Mutter will bei ihm bleiben. Veronikas Halbbruder ist als ukrainischer Offizier im Einsatz.
«Wir wollen dem Kriegsgeschehen etwas entgegensetzen.»
Nur ihre ältere Halbschwester Kristina lebt ebenfalls in Villnachern. Sie war es, die mit ihr geflüchtet war. Zu Beginn lebten beide bei Brigitte und Werner Bopp. Das Paar hatte einem befreundeten Bauern, der regelmässig ukrainische Hilfskräfte engagiert, nach Kriegsbeginn spontan angeboten, Geflüchtete bei sich aufzunehmen, falls er Hilfe brauche. Kurz darauf gestalteten sie im untersten Stock ihres Hauses ihr Büro zu einer kleinen Wohnung um. Im anliegenden Werkraum installierten sie eine Notküche. Dusche, WC und eine eigene Eingangstür waren bereits vorhanden. Werner Bopp bezeichnet die Gastfreundschaft als «unsere Antwort, die wir dem Kriegsgeschehen entgegensetzen können». Brigitte Bopp ergänzt, dass diese Erfahrung nicht nur für sie wertvoll sei, sondern auch für ihre drei erwachsenen Kinder und die sieben Enkel. Alle hätten Веронiка (Veronika) herzlich aufgenommen.
Dnipro–Villnachern: 2500 km
Dnipro, Veronika Tarans Heimat, ist geprägt vom Strom Dnepr, welcher der viertgrössten Stadt der Ukraine den Namen gab. Rund eine Million Menschen leben dort. Im Januar 2023 kamen bei einem russischen Raketenangriff auf ein Wohnhaus 45 Menschen ums Leben, 79 wurden verletzt. Bis heute sind laut dem UNO-Flüchtlingshilfswerk 6,75 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ins Ausland geflüchtet – weitere vier Millionen im Inland.
Dass Veronika Taran heute fliessend Deutsch spricht und gut Schweizerdeutsch versteht, verdankt sie ihrer raschen Auffassungsgabe, ihrem Lernwillen, aber auch dem herzhaften Einsatz ihrer Gastgeber. Diese unterrichteten sie intensiv in Deutsch, begleiteten sie zu Behörden und Berufsschauen und halfen ihr, sich 2023 für den gestalterischen Vorkurs an der Schule für Gestaltung Aargau zu bewerben. Zudem schrieben sie mit der auf Sozialhilfe angewiesenen Ukrainerin erfolgreich Stiftungen an, um die Ausbildungskosten zu decken.
Die Flucht hatte 16 Tage gedauert
In ihrer Abschlussarbeit hielt Veronika Taran ihre Gedanken während der 16-tägigen Flucht per Auto und Zug als Bilderbuch fest (siehe Box weiter unten). Brigitte und Werner Bopp erlebten sie bei ihrer Ankunft als eingeschüchtert und verängstigt. Und sind beeindruckt von ihrer Entwicklung: «Veronika steht heute auf eigenen Beinen, ist kontaktfreudig und lernt viel und schnell.» Die Studentin möchte gerne in der Schweiz bleiben. «Auch, weil ich hier die wichtigsten Jahre meines Lebens verbracht habe.» Sie fühle sich wie zu Hause, habe viele Freundschaften geschlossen und sei der Familie Bopp sehr verbunden. Diese hat ihr zugesichert, dass sie so lange in der Einliegerwohnung bleiben darf, wie sie möchte.
In ihrer Ausbildung tauchte sie kürzlich in die Farbenlehre ein oder übte sich zuletzt intensiv im perspektivischen Zeichnen. «Heute hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich es verinnerlicht habe.» Die Perspektive glückt laut Wikipedia dann, wenn sich alle verzerrten Linien des Objekts an einem Punkt bündeln. Dessen Bezeichnung? Fluchtpunkt.
Veronika Tarans Bilderbuch «Die kurze Geschichte meiner Kriegserfahrung» ist eine Erzählung voller Zeichnungen, die einem nahegehen. Mit Bildern der Verzweiflung und Angst. Oder Fragen: «Wie packe ich mein ganzes Leben in einen Rucksack?» Sie schliesst ihre prämierte Abschlussarbeit an der Schule für Gestaltung Aargau mit den Worten: «Wenn du das Buch liest, blickst du tief in mein Herz.» Es hat sie berührt, dass viele nach der Lektüre weinten und sie umarmten. Wie traumatisierend die Flucht war, zeigt sich auch daran, dass sie sich kaum an ihr erstes Jahr in der Schweiz erinnert.
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