«Ein inneres Feuer treibt mich an»
Er macht Schweizer Volksmusik und scheut sich nicht vor Tango, ungarischen Tänzen oder Ragtime. Auch mit 72 Jahren gehört Willi Valotti zu den schweizweit besten Akkordeonisten. Der Toggenburger Musiker ist bekannt für seine Vielseitigkeit.
Interview: Usch Vollenwyder; Foto: Gerry Ebner
Sie sind einer der Grossen in der Schweizer Volksmusikszene und gelten als Virtuose auf dem Akkordeon. Wie kamen Sie zur Musik?
Die Musik kam zu mir, wohl schon im Mutterbauch. Meine Eltern waren grosse Bewunderer der Innerschweizer Ländlermusik. Am Sonntag jeweils lauschten sie am Grammophon den Schellackplatten von Kaspar Muther, dem Luzerner Klarinettisten und späteren Mitbegründer der legendären Kapelle Heirassa. Ich war sieben Jahre alt, als wir das erste Radio bekamen. Unsere Familie hörte vor allem volkstümliche Sendungen. Ich begegnete während meiner ganzen Kindheit Schweizer Volksmusik – der Musik, die ich später auch selber machte.
Das Akkordeon ist Ihr Herzensinstrument. Warum ausgerechnet die Handorgel?
Mein Onkel, der im gleichen Haus wohnte wie wir, war ein musikalisches Multitalent und im Toggenburg ein begehrter Musikant. Er spielte Klarinette, Kontrabass, Handorgel und Schwyzerörgeli. Als ich fünf Jahre alt war, schenkte er mir ein Örgeli. Dieses ging schnell kaputt. Ein Jahr später bekam ich ein neues und begann darauf zu spielen. Jeden Morgen vor der Schule gab mir mein Onkel eine Unterrichtsstunde. Ich kapierte schnell und hätte die nächste Lektion am liebsten noch am gleichen Tag gehabt. Mein Onkel merkte wohl, dass ich ein musikalisches Kind war.
Innerhalb der Volksmusik pflegen Sie verschiedenste Stilrichtungen. Warum?
Ich mag die Vielfalt. Als Zwanzigjähriger wurde ich Mitglied der Kapelle Heirassa. Für mich war das damals die beste Musikkapelle mit den besten Musikern überhaupt. An bis zu hundert Auftritten pro Jahr spielten wir jeweils das fast gleiche Repertoire in der meist gleichen Formation. Es waren wunderbare Zeiten und ich erlebte und lernte viel. Doch irgendwann mochte ich mich nicht mehr ausschliesslich auf Innerschweizer Ländlermusik konzentrieren. Mit den Alderbuebe und ihrer Appenzellermusik mit Hackbrett und Geige kam ich zu einer ersten willkommenen Abwechslung. Schliesslich gründete ich mein eigenes Trio, mit dem ich meine musikalischen Fähigkeiten voll ausleben konnte. Ich galt damals als virtuosester Akkordeonist in der Volksmusikszene.
Sie spielen in verschiedenen Formationen. Wie unterscheiden sie sich?
Jede Formation hat ein eigenes Repertoire von rund hundert Musikstücken. Manchmal kommen neue dazu, oder alte werden neu arrangiert. Mit dem Item-Quartett biete ich konzertante Unterhaltungsmusik, Jazz, internationale Volksmusik und Eigenkompositionen. Aus dem Repertoire der Alderbuebe sind vor allem traditionelle Appenzellermusik und ungarische Tänze zu hören. Mit meiner Wyberkapelle wiederum spiele ich von traditioneller Innerschweizer Ländlermusik über Eigenkompositionen und internationalen Klängen bis hin zu zeitgenössischer konzertanter Volksmusik.
«Wir sind seit zwanzig Jahre als Willis Wyberkapelle unterwegs. Am Anfang bekam ich wegen des Namens einige erboste Briefe.»
Willi Valotti, Akkordeonist
Willis Wyberkapelle heisst Ihre Kapelle mit den drei Musikerinnen Andrea Ulrich, Gaby Näf und Martina Rohrer. Keine Hemmungen, unter diesem Namen aufzutreten?
Wir sind seit zwanzig Jahre als Willis Wyberkapelle unterwegs. Am Anfang bekam ich schon einige erboste Briefe. Auch meine Musikerinnen blieben davon nicht verschont. Heute ist unsere Kapelle etabliert und der Name kein Thema mehr. Ich erzähle gerne die Geschichte, die dahinter steckt: Bereits vor ihrer Gründung hatte ich mit Andrea Ulrich und Gaby Näf gespielt. Bei einem Auftritt konnte mein damaliger Bassist Ueli Mooser nicht mitmachen, und die Musikerin Claudia Muff sprang für ihn ein. «In Gottesnamen», soll ich gesagt haben, dann würde ich halt mit drei «Wybern» spielen. Claudia Muff schnappte meine witzig gemeinte Bemerkung auf, schrieb «Willis Wyberkapelle» auf ein Blatt und hängte es gut sichtbar für das Publikum an einem der Notenständer auf. Bei diesem Namen ist es geblieben.
Sie machten über tausend Einspielungen auf Tonträger und schrieben mehr als 200 Eigenkompositionen. Haben Sie noch die Übersicht über Ihr Werk?
Ich habe vor allem die Übersicht über meine Kompositionen verloren, die ich zwischen zwanzig und 35 Jahren geschrieben habe. Diese sind technisch teilweise so anspruchsvoll, dass nur junge, virtuose Musikerinnen und Musiker sie spielen können. Für mich sind sie zu schwierig geworden. Das hängt mit dem Alter zusammen: Zum einen hat die Beweglichkeit der Finger nachgelassen. Zum anderen klappt die Verbindung zwischen Kopf und Hand nicht mehr so wie in jungen Jahren: Ich weiss zwar noch genau, wie ein Stück klingen müsste, kann es aber nicht mehr so spielen.
Frustriert Sie das?
Ein bisschen schon. Die Pandemie hat mir zudem gezeigt, dass es ohne Übung nicht geht. Dabei fing diese unfreiwillige Auszeit vielversprechend an. Als alle Engagements abgesagt und die Restaurants geschlossen wurden, packte ich die Handorgel ein und sagte zu ihr: «So, jetzt gibt es mal zwei Monate Ruhe.» Diese Ruhe war für mich eine Wohltat. Ich unternahm jeden zweiten Tag eine Bergtour, ging Velo fahren, verlor über zehn Kilo und lernte meinen Körper besser kennen. Ich fühlte mich rundum wohler. Zudem machte ich Ausflüge mit meinem Bubentraum, den ich mir zum siebzigsten Geburtstag vor zwei Jahren erfüllt hatte: eine MV Agusta – das ist nicht irgendein Töff, das ist eine Kultmaschine! Plötzlich blieb Zeit für mich: Während fast sechs Jahrzehnten hatte ich Jahr für Jahr neunzig bis 120 Auftritte gehabt. 2020 waren es noch zehn.
Waren Sie in dieser Zeit musikalisch besonders kreativ?
Überhaupt nicht. Ich kann nicht kreativ sein, wenn ich keinen Auftrag habe. Nach wenigen Monaten wurde ich ungeduldig, ich war frustriert und übte kaum noch. Schliesslich kam ich mit meiner Wyberkapelle zur Überzeugung, dass wir wieder spielen müssen. Es konnte doch nicht sein, dass wir auf die Musik, die uns so viel bedeutet, weiterhin verzichteten. Dabei merkte ich: «Valotti, mit ü70 kannst du es dir nicht erlauben, das Instrument so lange auf die Seite zu legen.» Es geht alles nicht mehr so selbstverständlich.
«Wenn ein Spitzensportler den Höhepunkt seiner Karriere überschritten hat, werden bald einmal Rücktrittsforderungen laut. Musiker und Musikerinnen hingegen werden oft noch lange von ihren Fans durchgetragen.»
Willi Valotti, Akkordeonist
Treten Sie deswegen kürzer?
Zu meinem siebzigsten Geburtstag spielte ich die CD «Willis letzter Streich» ein. Ich mache keine eigenen Produktionen mehr, denn die Arbeit im Studio ist aufwändig und intensiv. Musizieren auf hohem Niveau ist vergleichbar mit der Leistung eines Spitzensportlers. Wenn ein Spitzensportler den Höhepunkt seiner Karriere überschritten hat, werden bald einmal Rücktrittsforderungen laut. Musiker und Musikerinnen hingegen werden oft noch lange von ihren Fans durchgetragen. Ich erinnere mich an eines der letzten Konzerte von Yehudi Menuhin. Der Geigenvirtuose war musikalisch immer noch grossartig. Doch ich hörte seine Schwächen und hatte Mitleid mit ihm. Er musste ja selber merken, dass er an seine frühere Leistung nicht mehr anknüpfen konnte.
Merken Sie das auch?
Natürlich. Noch sind es Kleinigkeiten, bei denen ich ein bisschen mogeln muss und die vom Publikum nicht unbedingt wahrgenommen werden. Aber ich habe ja auch einen Anspruch an mich selber: Ich will nicht nur die grosse Mehrheit meiner Zuhörerinnen und Zuhörer zufriedenstellen. Ich spiele auch für die wenigen Sachverständigen, die im Publikum sitzen und wissen, was Valotti vor dreissig Jahren konnte. Ich möchte nicht, dass sie sagen: «Ja, jetzt lässt es ihm aber auch langsam nach…»
Wie sorgen Sie vor?
Meine Expertinnen und kompetentesten Kennerinnen sind meine Mitspielerinnen in der Wyberkapelle. Sie werden mir sagen, wann die Zeit zum Aufhören gekommen ist. Kürzlich komponierte ich ein neues Volksmusikstück, aufbauend auf einer klassischen Melodie, und schickte es meiner Kollegin Andrea Ulrich. Sie schrieb zurück, die Komposition sei schon ein bisschen gewöhnlich für Valotti. Ich wusste sofort, was sie damit meinte. Andrea hat einen Hochschulabschluss auf dem Akkordeon und spielt heute virtuoser als ich. Ihre Beurteilung ist für mich massgebend.
Können Sie sich ein Leben ohne Musik überhaupt vorstellen?
Den Abschied von der Bühne auf jeden Fall. Langweilig wird es mir danach nicht. Ich werde für mich, einfach zur Freude, weiterhin spielen und vielleicht noch ein bisschen komponieren. Ich habe zudem meine Werkstatt im Haus und stimme Instrumente, vor allem Handorgel und Schwyzerörgeli. Und ich gehe gern an Konzerte. Mich faszinieren junge Senkrechtstarter wie zum Beispiel der Akkordeonist Fränggi Gehrig oder Dominik Flückiger auf dem Schwyzerörgeli. Junge Künstler, die in der Volksmusik andere Wege gehen, haben in der Schweiz allerdings kaum eine Plattform. Ich finde das schade. Schuld daran sind nicht nur die Medien. Auch das Publikum will am liebsten die Musik hören, die es kennt.
Unkonventioneller Volksmusiker
Willi Valotti wurde am 7. Juli 1949 in Wattwil im Toggenburg geboren. Bei der legendären Kapelle Heirassa prägte er als Akkordeonist und Komponist den Innerschweizer Ländlermusikstil. Als Mitglied verschiedener Kapellen war er auch im Ausland auf Tournee. Willi Valotti spielt ebenfalls Kontrabass und Klavier und war als Lehrer an verschiedenen Musikschulen tätig. Zu seinem Schaffen gehören über tausend Tonträgereinspielungen und mehr als 200 Eigenkompositionen. Mit Willis Wyberkapelle macht er Musik, die weit über den traditionellen Ländlerstil hinausgeht. Der Volksmusiker mit italienischen Wurzeln und Träger des Goldenen Violinschlüssels 2003 lebt mit seiner Partnerin Yvonne Betschart in Nesslau im Toggenburg. Willi Valotti hat einen erwachsenen Sohn. Das Album «Willis letzter Streich», mit Eigenkompositionen und zwei Jodelliedern, erschien zu Willi Valottis 70. Geburtstag 2019.
Warum kann eingängige Volksmusik so viele Menschen berühren?
Ich habe gerade auf meinen Auslandtourneen die Erfahrung gemacht, dass sich längst nicht jeder Schweizer und jede Schweizerin von der gleichen Volksmusik berühren lässt: Ein Appenzeller braucht dazu ein Zäuerli, eine Innerschweizerin ein urchiges Muotathaler Tänzchen und im Berner Oberland rührt eher ein Jodellied oder ein Naturjutz. Traditionelle Volksmusik hat viel mit Heimat zu tun.Zeitgenössische hat es diesbezüglich viel schwerer, da sie für viele unverständlich ist.
Volksmusik hat besonders in den Innerschweizer Kantonen und auf dem Land eine lange Tradition. Spüren Sie das auch?
Das gilt nur für die traditionelle Schweizer Volksmusik. Auch anderes Brauchtum wird auf dem Land ja mehr gepflegt als in den Städten. Es gibt allerdings einen Graben – nämlich zwischen den Bewahrern der traditionellen und den Vertretern der zeitgenössischen Musik. So trete auch ich selber mit meinen verschiedenen Formationen vor allem in der Innerschweiz auf.
Musik scheint Ihr Leben zu sein – stimmt dieser Eindruck?
Musik stand bei mir immer an erster Stelle. Glücklicherweise ist meine Lebenspartnerin Yvonne Betschart, mit der ich seit 25 Jahren zusammen bin, unheimlich grosszügig. Als Verwalterin des Berufs- und Weiterbildungszentrums Toggenburg in Wattwil ist sie beruflich auch sehr engagiert und hat einen grossen Freundinnen- und Bekanntenkreis. Wir planen unsere gemeinsamen freien Abende und Wochenenden ein. Wenn dann eine Anfrage kommt, ob ich für einen erkrankten Akkordeonisten einspringen würde, mache ich das. Nicht nur, weil ich mit Musik meinen Lebensunterhalt verdiene. Es ist auch ein inneres Feuer, das mich drängt, mich ganz auf die Musik zu konzentrieren und mein Bestes zu geben.
Die CD «Willis letzter Streich» (CHF 28.– exkl. Versandkosten) ist erhältlich bei Willi Valotti, Hauptstrasse 18, 9650 Nesslau, Mail valotti@valotti.ch. Weitere CDs und Informationen finden Sie auf valotti.ch