
Schriftsteller Pedro Lenz: «Ich bin im Leben oft ein wenig verspätet»
Pedro Lenz ist gerade 60 geworden. Der Mundartschriftsteller sagt, warum ihn das stolz macht, weshalb andere Dialekte dem Berndeutschen mindestens ebenbürtig sind und welche Vorteile es hat, wenn man im Leben auch mal spät dran ist.
Text: Franz Ermel; Fotos: Christian Senti
Pedro Lenz, Sie sind im März 60 geworden. Wie fühlt sich das an?
Ich nehme es relativ locker. Mit 30 fühlte ich mich jedenfalls älter als jetzt.
Hoppla. Warum das?
Damals realisierte ich, dass die Jugend endgültig vorbei ist. Jetzt mit 60 ist nichts vorbei, sondern die mittleren Jahre halten einfach an. Ich will es jedoch nicht kleinreden. Natürlich merke ich, dass ich 60 bin – aber auch im Positiven. Ich bin gelassener geworden. Und erfahrener. Grundsätzlich sehe ich mein Alter als etwas, worauf ich auch ein bisschen stolz bin, weil ich es bis hierhin so gut geschafft habe.
Sie sind mit über 50 zum ersten Mal Vater geworden – inzwischen sogar drei Mal. Halten Ihre Kinder Sie jung?
Ja, auch wenn ich zugleich das Alter besser realisiere.
Das klingt wie ein Widerspruch.
Ich realisiere mein Alter, weil der zeitliche Abstand zu den Kindern natürlich da ist. Aber sie halten mich auch jung, weil ich flexibel bleiben muss und keine Altersmödeli entwickeln kann, so à la «Ich muss auf dem und dem Sessel sitzen» oder «Am Samstagmorgen lese ich immer von 8 bis 10 Uhr die Zeitung». Das kommt natürlich nicht infrage, wenn Kinder da sind.
Sie sammeln jetzt Erfahrungen, die andere 30 Jahre früher machen …
Ich bin im Leben oft ein wenig verspätet. Schon als ich den Gymer abgebrochen und eine Maurerlehre
gemacht habe, war ich ein alter Lehrling. Dann habe ich die Matura doch noch nachgeholt, wieder verspätet. Auch Schriftsteller bin ich spät geworden, da war ich schon Mitte Dreissig. Und jetzt bin ich
halt auch spät Vater geworden. Aber das hat auch Vorteile: Vieles, was ein 30-jähriger Vater vielleicht vermisst, vermisse ich nicht. Etwa mit den Kollegen um die Häuser ziehen – das hatte ich, das brauche ich nicht mehr. Im Gegenteil. Wenn mich jemand fragt, ob ich am Abend noch auf ein Bier komme, sage ich oft: «Danke, ich bringe lieber die Kinder ins Bett.» Daran habe ich mehr Freude.


«Vieles, was ein 30-jähriger Vater vielleicht vermisst, vermisse ich nicht.»
Dürfen wir uns auf ein Buch über das Älterwerden freuen?
Ich habe mir das auch schon überlegt. Über die eigene Vergänglichkeit nachzudenken, wäre ein gutes Thema. Aber ich bin jemand, der immer erst mit einer zeitlichen Verzögerung schreibt. Was mir heute passiert, kann ich nicht im nächsten Jahr schon in einem Roman behandeln. Es muss sich erst in mir setzen. Auch hier: immer ein bisschen später.
Macht Sie das Alter vorsichtiger?
Vielleicht. Vor allem aber kehrt eine gewisse Kindlichkeit zurück. Ich habe das schon bei meinem Vater beobachtet, als er älter wurde: Man lernt, wieder zu staunen – vielleicht, weil man mehr Zeit hat.
Wie meinen Sie das?
Im Alter sagte mein Vater oft Dinge wie: «Schau mal, da blühen schon die Krokusse». Kleine Beobachtungen, die er uns mitteilte. Ich glaube, das ist die grosse Chance des Alters!
Ihr Vater war Direktor der Porzellanfabrik Langenthal. War er ein Vorbild für Sie?
Ja. Vieles, was er uns Kindern sagte, begreife ich erst heute, wo ich selber Kinder habe – kleine Lebensweisheiten. Ich erinnere mich etwa, was er antwortete, als ich unbedingt ein Rennrad haben wollte wie meine Kollegen. Er sagte nein, «on fait avec ce qu’on a.» Wir machen es mit dem, was wir haben. Das ist mir sehr geblieben, diese Haltung, nicht immer an dem herumzustudieren, wasman nicht hat, sondern sich mit dem zu begnügen, was man hat. Es klingt vielleicht ein wenig banal, aber das ist etwas, was ich auch meinen Kindern mitgeben möchte. Oder auch, dass er da war, wenn ich ihn gebraucht habe. Ich wusste immer, wenn ich irgendwo strande, holt er mich raus.
Und, sind Sie einmal gestrandet?
Ja, als Jugendlicher bin ich einmal abgehauen. Nach zwei Tagen rief ich aus einer Telefonkabine in Avignon mit dem letzten Geld zu Hause an. Ich dachte, jetzt gibt es eine Standpauke. Aber mein Vater war ganz ruhig und sagte: «Du sitzt jetzt in den nächsten Zug und fährst nach Genf. Dem Kondukteur sagst du, der Vater warte am Perron und bezahle das Billett.» Ich bestieg also den Nachtzug, und tatsächlich wartete mein Vater am Morgen in Genf schon auf mich. Wieder rechnete ich mit einer Standpauke. Aber er sagt nur: «Du, ich weiss da eine Bäckerei, da gibt es die besten Gipfeli. Da gehen wir jetzt hin.» Er reagierte mit sehr viel Verständnis und hatte auch schon mit meinem Chef gesprochen, denn ich war ja auch nicht auf der Büez erschienen.
Zurück zum Hier und Jetzt. Wo schreiben Sie Ihre Texte?
Am liebsten an einem ruhigen Ort, ich habe ein externes Büro. Aber ich kann auch unterwegs gut schreiben. Wenn es im Büro nicht läuft, setze ich mich gerne in den Zug, mit dem Laptop auf dem Schoss. Ich fahre dann zum Beispiel über Basel, Laufen, Delémont, Lausanne und Bern wieder zurück nach Olten. Ich mag das sehr.
Schreiben Sie immer am Laptop?
Ja. Am Laptop zu schreiben, entspricht meiner Art zu denken. Ich kann Abschnitte, die gerade nicht passen, ausschneiden und an anderer Stelle wieder einfügen.
«Früher hatte ich Vorurteile gegenüber der Mundartliteratur.»
Sie schreiben vor allem in Mundart. Warum?
Es kommt darauf an, was ich schreibe. Beschreibende Texte formuliere ich am liebsten auf Hochdeutsch. Wenn ich aber Figuren sprechen lasse, fühle ich mich mit der Mundart viel wohler. Ich weiss dann immer sehr genau, ob die Tonalität stimmt.
Hat sich Ihre Sicht auf die Mundart über die Jahre verändert?
Sie verändert sich ständig. Früher hatte ich Vorurteile gegen Mundartliteratur. Ich hatte so ein Bild von Heimatliteratur. Bis ich die «Modern Mundart» kennenlernte – also Leute wie Kurt Marti, Ernst Eggimann und Ernst Burren – und realisierte, dass es eine andere, nicht bewahrende Mundart gibt, sondern eine Mundart, die spielt und ihre Freiheiten nutzt. So habe ich auch angefangen, in Mundart zu schreiben. Und je länger ich das tat, desto offener wurde ich.
Inwiefern?
Früher hat es mich aufgeregt, wenn jemand gesagt hat: «I warte bi dr Träppe». Ich dachte, es müsse doch «Stäge» heissen. Heute bin ich weniger kritisch, denn die Mundart hat eine grosse Integrationsfähigkeit. Alle sagen inzwischen «snöbe» und «tschille». Diese Wörter sind einfach Teil der Sprache geworden.
Stört es Sie nicht, dass Sie mit Mundart weniger Leute erreichen?
Klar, wenn ich an die 80 Millionen deutschen Leser denke, die ich ausschliesse, tut es mir schon etwas weh. Gleichzeitig merke ich, dass ich privilegiert bin, weil ich bei den fünf oder sechs Millionen Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern ein gutes Standing habe. Es würde mir auch nichts nützen, wenn ich auf Hochdeutsch schreiben würde und dennoch nicht aus der Schweiz herauskäme, wie es vielen Kollegen geht. Könnte ich Romane schreiben wie Martin Suter oder Alex Capus, würde ich natürlich auch auf Hochdeutsch schreiben. Aber ich kann das nicht, es sind unterschiedliche Disziplinen. So wie Eisschnelllauf und Eiskunstlauf.

Ist es ein Glücksfall, dass Sie Berndeutsch sprechen? Oder würde das auch mit Appenzeller Dialekt funktionieren?
Ich behaupte, es würde auch dann funktionierten. Man hört zwar immer wieder, es gebe schönere und weniger schöne Dialekte. Aber dagegen wehre ich mich vehement. Es gibt auch auf Berndeutsch Sachen, die nerven.
Was zum Beispiel?
Immer dann, wenn es darum geht, sich nur in der Sprache zu suhlen. Wenn es nur noch «chüderlet» und «täselet» und man die Wörter aus Grossmutters Zeiten einzig verwendet, um zu zeigen, wie schön die Sprache angeblich ist. Franz Hohler hat sich mit dem «Totemügerli» genau darüber lustig gemacht. Qualität hat mit dem Klang der Sprache nichts zu tun. Weder in der Literatur noch in der Musik. Ich glaube, wenn einer mit dem Selbstverständnis von Polo auf Zürichdeutsch singen würde, würde das genauso gut funktionieren. Manuel Stahlberger oder Joachim Rittmeyer sind für mich Beispiele, dass man mit einem anderen Dialekt cooles Zeug machen kann. Ich besitze eine zürichdeutsche Übersetzung von «Max und Moritz» von Fredy Lienhard. Die ist top. Die lese ich jeweils meinen Kindern vor.
Sie lesen auf Züritüütsch vor?
Ja, ich lese es auf Züritüütsch vor – natürlich nur zu Hause (schmunzelt). Und es funktioniert prima.
Haben Sie einen Tipp aus der aktuellen Mundartliteratur?
Unbedingt, Béla Rothenbühler aus Luzern. Er hat zwei Bücher geschrieben, «Polifon Pervers» und «Provenzhauptschtadt». Sagenhaft gut!
Von welchem Ihrer Werke glauben Sie, dass es bleibt?
Wahrscheinlich tatsächlich «Der Goalie bin ig», weil das Buch echt populär wurde und inzwischen auch an Gymnasien gelesen wird.
Und von welchem hoffen Sie, dass es bleibt?
«Tanze wi ne Schmätterling», eine Geschichte über Muhammad Ali, der einmal für einen Match nach
Zürich kam. Es ist das Buch, in das ich am meisten Herzblut gesteckt habe.
«Ich schaffe mir überall mein Langenthal.»
Inwiefern?
Die Boxmatches mit Muhammad Ali, das sind Kindheitserinnerungen! Obschon ich nie einen Match live sehen durfte – die liefen ja mitten in der Nacht. Ich hörte immer nur in Erzählungen davon. Aber ich war fasziniert. Später las ich viel über Ali, über sein Leben als Sportler und über seine Krankheit. Das hat mich sehr berührt.
Was möchten Sie unbedingt noch schreiben?
Ich möchte eine Geschichte aus der Perspektive von Kindern aus dem Langenthal der Siebzigerjahre schreiben. Also mit dem Blick, den wir damals auf die Welt hatten. Dann: etwas über Maradona. Er ist eine Figur wie Muhammad Ali, umstritten, tragisch. Er konnte etwas unglaublich gut, nämlich Fussball spielen. Alles andere konnte er nicht. Sein Leben war eine riesige Tragödie. Darüber würde ich gerne schreiben.
Wie finden Sie eigentlich Ihre Themen?
Schwierig zu sagen (lacht). Auf jeden Fall müssen sie mir vertraut und nahe sein.
Nähe scheint Ihnen überhaupt sehr wichtig zu sein…
Ja, sehr. Immer und überall. Auch hier in Olten, wo ich heute wohne und wo ich die Leute inzwischen kenne. Ich schaffe mir überall mein Langenthal.
Zur Person
Pedro Lenz wurde am 8. März 1965 in Langenthal geboren. Sein Vater war Direktor der dortigen Porzellanfabrik. Seine Mutter war Spanierin, weshalb zu Hause Spanisch gesprochen wurde.
Nach der Schule machte er eine Maurerlehre, mit 29 holte er die Matura nach und begann, an der Uni Bern spanische Literatur zu studieren. Seit 2001 ist er Schriftsteller.
Lenz schreibt hauptsächlich in Mundart. Sein literarisches Werk ist überaus vielfältig: Er schreibt Romane, Gedichte, Kurzgeschichten, Bühnenprogramme, Theaterstücke und Kolumnen. Pedro Lenz ist überdies Mitglied der Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall». Viele von Lenz’ Texten gibt es als Hörbuch, von ihm selbst gelesen.Lenz lebt mit seiner Partnerin in Olten. Das Paar hat drei Kinder im Alter von 7, 4 und 3 Jahren.
Dreimal Lenz
Luege
Pedro Lenz auf Tour
Pedro Lenz ist in den nächsten Wochen und Monaten oft live zu erleben. Auf seiner Lese- und Bühnentournee durch die Deutschschweiz liest er vor allem aus seinem neuesten Buch «Zärtlechi Zunge» (2024) – zum Teil solo, zum Teil mit musikalischer Begleitung.
Alle Daten finden Sie auf pedrolenz.ch.
Lose
«Der Goalie bin ig»
Mit seinem Roman «Der Goalie bin ig» gelang Pedro Lenz 2010 der Durchbruch. Er erzählt die Geschichte vom «Goalie», der nach einem Jahr im Gefängnis nach Schummertal alias Langenthal zurückkehrt und dort neu anfangen will. Er will seine Drogenvergangenheit hinter sich lassen und verliebt sich in die Kellnerin Regula. Auf einer Reise nach Spanien entdeckt er, warum er wirklich im Gefängnis landete. Pedro Lenz liest den Roman in seiner Oberaargauer Mundart.
Pedro Lenz: «Der Goalie bin ig», Audio-CD (ca. Fr. 42.–), oder auf Spotify
Läse
«I bi meh aus eine»
In «I bi meh aus eine» erzählt Pedro Lenz die Geschichte von Peter Wingeier, einem historisch verbürgten Hochstapler aus dem Emmental, der in Trubschachen Gelder aus der Vormundschaftskasse veruntreut hat und deshalb die Schweiz verlassen muss. Er nimmt eine neue Identität an, gründet als Dr. Teófilo Romang in Argentinien ein Dorf und bringt es dort zu Ruhm und Ehre. Lenz porträtiert Wingeier aus der Sicht seines Sohnes als facettenreichen Menschen, ohne dass er seine Fehler beschönigen würde.
Pedro Lenz, «I bi meh aus eine», Cosmos Verlag, zurzeit vergriffen