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Petra Volpe: «Ungerechtigkeit bewegt mich» 

Petra Volpe gehört zu den erfolgreichsten Regisseurinnen der Schweiz. Ihr neuer Film «Heldin» ist ein Hoch auf die Pflegefachleute. Ein Gespräch über Stress, Verletzlichkeit – und eine prägende Erfahrung.

Interview: Fabian Rottmeier

Wie gehen Sie mit Stress um?
Mein Körper kennt zwei Reaktionen darauf. Meist schalte ich in eine Art Zeitlupe-Modus um. Es ist ein fokussierter Ausnahmezustand. Ich handle ruhig, überlegt und zielgerichtet. Auf emotionalen Stress hingegen reagiere ich eher ungesund: mit Schlafstörungen und schlaflosen Nächten.

Gerade an Drehtagen ist der Druck als Regisseurin gross. Konnten Sie sich diesen Zeitlupe-Zustand durch Erfahrung aneignen?
Ich glaube, das gelang mir von Anfang an. Am Set versuche ich, der ruhende Pol zu sein. Das Filmemachen ist für mich wie ein Hebammenjob. Gemeinsam, als Team, helfen wir dem Baby auf die Welt. Dabei wollen wir ihm eine ruhige, warme Welt bieten. Das sehe ich als meine Aufgabe an. Kreation ist für mich ein weiblicher Prozess. Ich sage das absichtlich etwas provokativ, weil die kulturelle Arbeit viele Jahrhunderte fast ausschliesslich von Männern besetzt war.

Ihren Filmen geht eine jahrelange Planung voraus. Meist ist lange unsicher, ob die Finanzierung klappt. Ist das nicht auch belastend?
Dies auszuhalten und dranzubleiben, macht gefühlt 80 Prozent meiner Arbeit aus. Es ist eine andere Form von Stress. Als freischaffende Autorin und Regisseurin bin ich dieser Unsicherheit ständig ausgesetzt und muss trotzdem kreativ bleiben. Ein gesundes soziales Umfeld und gute Mit­arbeiterinnen und Mitarbeiter sind deshalb entscheidend. Und eine innere Stärke, die mit der Erfahrung wächst. Ausserdem ist es schwierig, nicht ständig irgendwelchen Zerstreuungen nachzugehen. Drehbuchautorin und Schauspielerin Phoebe Waller-Bridge (u. a. bekannt für ihre Serie «Fleabag», Anm. d. Red.) hat pointiert gesagt, dass Schreibarbeit vor allem daraus besteht, sich nicht vom Internet ablenken zu lassen.

Ihr Beruf bedeutet also auch Disziplin.
Ja, Disziplin ist entscheidend. Alle sind kreativ. Alle haben Ideen. Eine erste Fassung zu schreiben, ist meist noch einfach, danach fängt die Arbeit jedoch erst an. Es ist auch ein Willensakt.

Interview mit Regisseurin Petra Volpe
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Ihr neuer Film «Heldin» folgt der Pflegefachfrau Floria durch deren Spätschicht auf einer chirurgischen Station. Als Zuschauer hat sich der Stress, den sie dabei erlebt, spürbar auf mich übertragen. Wie gelang diese beklemmende Wirkung?
Indem wir uns einer dokumentarischen Genauigkeit verschrieben haben. Das war sowohl schauspielerisch als auch technisch fordernd. Ich wollte aufzeigen, was Tausende von Pflegefachkräften täglich weltweit leisten. Ihr Einsatz wird als selbstverständlich betrachtet. Die Erzählform ist inspiriert von Madeline Calvelages Buch «Unser Beruf ist nicht das Problem. Es sind die Umstände». Darin beschreibt sie als deutsche Pflegefachfrau einen gewöhnlichen Arbeitstag. Als ich es las, raste nach fünf Minuten mein Herz und ich dachte: «Wie hält man das bloss aus?!» So entstand ein Film, der das Publikum physisch empfinden lassen soll, was es heisst, diesen Job zu machen. Und was
Personalmangel tatsächlich bedeutet. Die meisten, die «Heldin» bisher gesehen haben, waren danach ausser Puste. Das ist das grösste Kompliment. Wir wollten aber auch Raum schaffen für das Zwischenmenschliche, das von Floria ausgeht.

Was macht sie zur titelgebenden «Heldin»?
Die Haltung: Dass sie trotz Zeitdruck und Stress versucht, ihren Patientinnen und Patienten empathisch und mit einem offenen Ohr zu begegnen. Sie bewahrt sich ihre Menschlichkeit. Das ist heldenhaft. Die Pflegefachpersonen, die ich kennenlernen durfte, hatten alle einen sehr hohen Anspruch an sich selbst. Der Beruf ist heute technisch hochkomplex und die medizinischen Anforderungen enorm. Es sind die Pflegenden, die eine Patientin oder einen Patienten nach einer Operation tagtäglich von A bis Z begleiten. Man müsste deshalb bei Pflegefachfrauen auch von Göttinnen in Weiss sprechen, nicht nur bei den Ärztinnen und Ärzten. Dass dem nicht so ist, hat damit zu tun, dass es sich bei der Pflege um klassische Frauenberufe handelt. Auch in der Medizin herrscht nach wie vor ein krasser Sexismus.

Wirkte sich der gespielte Stress auch auf Schauspielerin Leonie Benesch aus?
Ein interessanter Punkt, den wir jedoch nicht besprochen haben. Diese Rolle war schauspielerisch unglaublich anspruchsvoll. Leonie ist in jeder Einstellung, sie trägt den Film und musste alle Handgriffe so beherrschen, als wäre sie schon jahrelang in diesem Beruf tätig. Gleichzeitig
waren jede Szene und alle Dialoge durch die Handlung rhythmisiert und sollten natürlich und selbstverständlich aussehen. Deshalb betreute sie die Schweizer Pflegefachfrau Nadja Habicht. Alle Details mussten stimmen, denn wenn sich Fachleute über Ungenauigkeiten aufregen würden, hätten wir verloren.

«Oft ist ja die Pflegefachperson der erste und letzte Mensch, der einen berührt.»

Interview mit Regisseurin Petra Volpe
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Was erhoffen Sie sich von «Heldin»?
Natürlich wie bei jedem Film, dass ihn möglichst viele Leute anschauen und sich auf diese Reise begeben möchten. «Heldin» ist eine Liebeserklärung an die Pflegefachleute und offenbart auch die Schönheit und Kraft ihres Engagements. Zudem hoffe ich, dass auch viele Pflegefachfrauen ins Kino strömen und sich gefeiert, respektiert, bewundert und gesehen fühlen. Mein Herz brennt für sie.

Rührt Ihre Wertschätzung auch daher, dass Sie als Studentin kurz­zeitig als Pflegehelferin tätig waren?
Diese Erfahrung in der Klinik Barmelweid hat mich nie mehr losgelassen. Ich war zu jung und zu naiv, um die ganze Komplexität zu verstehen. Aber ich habe Einschneidendes erlebt: den ersten Tod einer Patientin oder auch das Saubermachen von Menschen, die sich eingekotet hatten. Durch den allgegenwärtigen Tod kam ich mit der Essenz des Lebens in Berührung. Oft ist ja die Pflegefachperson der erste und letzte Mensch, der einen berührt. Das vergessen die Leute manchmal.

«Es wird mit dem Erfolg jedoch nicht einfacher, ein gutes Drehbuch zu schreiben.»

Die meisten Ihrer Filme handeln von gesellschaftlich dringlichen Themen. Ist diese Relevanz eine Voraussetzung für Ihre Werke?
Ungerechtigkeit bewegt mich. Auch das Gefühl von Ohnmacht. Deshalb richte ich das Scheinwerferlicht auf Orte, wo man vielleicht nicht so gerne hinschaut. Sie ziehen mich an und geben mir das Gefühl, dass ich mit meiner Arbeit etwas Wertvolles beitragen und Sichtbarkeit schaffen kann. Es sind oft symptomatische Frauengeschichten: Prostituierte, Frauen ohne Stimmrecht oder überlastete Pflegefachkräfte, die nach Schichtende völlig kaputt nach Hause gehen – mit dem Gefühl, dass sie nicht genügend Zeit hatten, um ihre Arbeit gut zu machen. Solche Themen in den Fokus zu rücken, sehe ich als meine Aufgabe als Künstlerin an. Aber ich mag auch Unterhaltung und Eskapismus. Ich schreibe regelmässig leichtere Stoffe.

Auch Ihr bisher grösster Erfolg, «Die göttliche Ordnung» von 2017 über die Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts, hatte einen leichten Ton. Was hat dieser Film ermöglicht?
Der internationale Erfolg hat mir in den USA, wo ich lebe, viele Türen geöffnet. Daraus sind ein paar gute und wertvolle Kontakte und Kooperationen entstanden. Regelmässige Engagements für amerikanische Episodenaufträge waren mir aber künstlerisch zu wenig befriedigend und am Ende zu stressig. Da sitze ich lieber zu Hause mit meinem Hund und erfinde neue Geschichten. Es wird mit dem Erfolg jedoch nicht einfacher, ein gutes Drehbuch zu schreiben. Man fängt stets wieder von vorne an – und ich denke nach wie vor ab und an: «Ich kann es noch immer nicht!» Aber diese Phasen dauern nicht mehr ganz so lange an wie früher.

© Peter Lüders

Persönlich

  • Petra Volpe (* 6. August 1970) wächst in Suhr als Tochter eines Italieners und einer Schweizerin auf, studiert an der Zürcher «F+F Schule für Kunst und Design», schlägt sich als Cutterin und mit kommerziellen Filmproduktionen durch, bevor sie mit 27 Dramaturgie und Drehbuch an der HFF Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam studiert. Seit 2014 lebt die Aargauerin mit ihrem amerikanischen Ehepartner in New York.
  • Schon für «Traumland» erntet Petra Volpe 2013 als Regisseurin und Drehbuchautorin viel Lob, bevor ihr 2017 mit «Die göttliche Ordnung» auch ein kommerzieller Hit gelingt: 358’000 Schweizer Kinoeintritte und weltweit 14 Auszeichnungen.
  • Auf «Play Suisse» sind folgende ihrer Filme kostenlos per Streaming zu sehen: «Frühling im Herbst» und «Kleine Fische» sowie ihre Drehbucharbeiten «Die goldenen Jahre», «Heidi» und die SRF-Produktion «Frieden».

Sie arbeiten derzeit am Gefängnisfilm «Frank & Louis» – Ihr erster englischsprachiger Film mit US-Schauspielern. Ist der Film bereits abgedreht?
Die Dreharbeiten sollen diesen Frühling stattfinden, nachdem sie schon mehrere Male verschoben worden sind. Meine Recherche für diesen Film begann vor elf Jahren in einem kalifornischen Männergefängnis! Weil wir den Film als kammerspiel­artiges Drama zeigen wollen und sich solche Filme in den USA kaum finanzieren lassen, werden wir vermutlich in England drehen – mit europäischen Fördergeldern. Der Film ist ein Herzensprojekt.

Er handelt vom realen Gefängnisprogramm «Gold Coats». Darin kümmern sich verurteilte Mörder um ältere Gefängnisinsassen, die als Folge der Haft an Gedächtnisverlust leiden. Was hat die Recherche vor Ort ausgelöst?
Die Gespräche mit den Männern dort haben mich tief bewegt. Zu sehen, wie liebevoll sich Gewaltverbrecher um andere Insassen kümmern, ist etwas, das man in einem Männergefängnis nicht unbedingt erwartet. Die Arbeit der inhaftierten Mörder mit ihren Schützlingen hat häufig einen therapeutischen Effekt. Sie werden gebraucht, übernehmen Verantwortung und entwickeln Empathie. Oft kommt dabei ein innerer Prozess über ihr eigenes Verbrechen ins Rollen. Sie müssen sich ihrer zuvor bestrittenen Schuld stellen. Gleichzeitig erhalten sie mit dem Programm die Chance, auch als Person wahrgenommen zu werden. Es ist unmenschlich, jemandem die Chance zu nehmen, sich zu verändern und etwas Gutes zu tun.

Sie leben seit 2014 mit Ihrem amerikanischen Ehemann in New York. Davor waren Sie lange in Berlin, weil Ihnen auch Zürich zu klein gewesen war. Woher kommt diese Faszination für Grossstädte?
Schon in meiner Kindheit in Suhr – ein Aargauer «Kaff» – sehnte ich mich nach Städten. Sie versprachen Abenteuer, Leben und unbegrenzte Möglichkeiten. Als Mädchen schlüpfte ich in meinem Zimmer spielend gern in die Rolle der erwachsenen Frau mit eigener Wohnung in einer Grossstadt, wo man vor die Tür treten kann und das Leben brodelt – das war mein Traum! Folglich habe ich mein ganzes Erwachsenenleben in Städten verbracht. Aber ich muss zugeben, dass ich nun ein Alter erreicht habe, in dem mich die ländliche Ruhe reizt. Es hat mir hier überall zu viele Leute. Und seit Covid sind sie verschlossener und egoistischer.

«Ich brauche dieses zutiefst Persönliche und diese Form von Entblössung, um meinem eigenen Anspruch gerecht zu werden.»

Als eine Ihrer ersten Filmarbeiten haben Sie in New York Musikclips gedreht – für Dragqueens. Hat Sie deren Mut zur Verletzlichkeit geprägt?
Ich glaube, es ist vielmehr die Summe aller Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern, die mich beeinflusst haben. Verletzlichkeit, die Bereitschaft und der Mut, sich zu zeigen, sind für die künstlerische Arbeit essenziell. Ich bewege mich in einer liebevollen queeren Szene, in der Freundschaften und die Wahlfamilie eine zentrale Rolle einnehmen. Wenn man sich mit guten Leuten umgibt, findet man auch einen gewissen Schutz. Denn manchmal ist dieser membranhafte Zustand auch erschöpfend.

Sie haben einmal betont, dass Verletzlichkeit auch Ihre Arbeit auszeichnet.
Ich brauche dieses zutiefst Persönliche und diese Form von Entblössung, um meinem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Ich suche auch stets nach der Essenz eines Themas – was mich wiederum automatisch mit mir selbst konfrontiert. Weil meine Arbeit so persönlich ist und ich selber schon streng mit mir bin, versuche ich es zu vermeiden, schlechte Kritiken zu lesen. Die guten lese ich, um mir Mut zu machen, dranzubleiben.

Weshalb braucht der Mensch Filme und Geschichten?
Wozu braucht der Mensch Brot?
Ich mache eigentlich das Gleiche wie mein Grossvater als Bäckermeister. Das Teilen von Geschichten erfüllt für mich ebenso ein menschliches Grundbedürfnis wie das Herstellen von Lebensmitteln. Und das gemeinsame Kinoerlebnis wirkt so verbindend wie ein Lagerfeuer. Ist es nicht toll, im Kinosaal gleichzeitig zu weinen wie die fremde Person, die daneben sitzt? Gut möglich, dass sie mich zuvor noch mit ihrem Popcorn genervt hat. Indem uns dasselbe rührt, realisieren wir, dass uns mehr verbindet als trennt. Das ist die Kraft des Kinos.

Heldin in Blau

Filmplakat "Heldin" mt Leonie Benesch

© Filmcoopi

Floria arbeitet als Pflegefachfrau in einem Schweizer Spital. Ihre einzigen Pausen: die Liftfahrten alleine. Petra Volpes Spielfilm «Heldin» dokumentiert chronologisch eine von Florias Spätschichten auf der chirurgischen Abteilung. Die Kamera bleibt dabei jede Sekunde bei Schauspielerin Leonie Benesch, die u. a. für ihre Leistung in «Das Lehrerzimmer» den Deutschen Filmpreis gewann. Die 33-Jährige, aber auch das Tempo des Films machen den Stress, das sprunghafte Hin und Her und die ständigen Unterbrechungen im Alltag einer Pflegefachperson erlebbar. Und ihre Zeitnot. «Heldin» ist der erste Film von Petra Volpe seit «Die göttliche Ordnung», in der die 54-Jährige Regie führte und das Drehbuch schrieb.

«Heldin», 92 Minuten, ab 27. Februar im Kino.
Filmvorschau: filmcoopi.ch

Beitrag vom 13.02.2025