«Ich hatte ein verrücktes Leben»
Er lief für Designer wie Yves Saint Laurent oder Armani an internationalen Modeschauen. Als Schauspieler stand er neben Sean Connery vor der Kamera. Alkohol und Drogen kosteten ihn beinahe das Leben. Der Urner Urs Althaus ist ein Kämpfer.
Interview: Usch Vollenwyder
Mit Ihrer dunklen Hautfarbe waren Sie zu Beginn der Sechzigerjahre eine Ausnahmeerscheinung im Kanton Uri. Welche Erinnerungen haben Sie?
Es sind Erinnerungen an eine glückliche Kindheit. 1955 kam meine Mutter von ihrer Stelle als Gouvernante im schottischen Glasgow zurück. Blond, reformiert und schwanger von einem nigerianischen Medizinstudenten liess sie sich in Altdorf nieder, wo sie selber aufgewachsen war. Alle kannten und mochten sie. Ich ging mit den Söhnen und Töchtern ihrer früherer Kolleginnen und Kollegen in die Schule. Mein bester Freund war Max Weber, Sohn des damaligen Urner Nationalrats. Dank diesem konnten wir auf einer Schulreise das Bundeshaus besuchen und wurden sogar von Bundesrat Nello Celio empfangen. Dieser hatte eine solche Freude an dem herzigen schwarzen Buben, dass er mich auf seine Knie hochhob.
Fühlten Sie sich nie ausgeschlossen?
Nie. Ich war in Altdorf integriert und fühlte mich durch und durch als Urner und dazugehörig. Natürlich sagten mir meine Kollegen bei Streitereien auch «Buschneger», und ich nannte sie «Saubauer» oder «Tschingg». Mit Rassismus hatte das aber nichts zu tun. Eher wollten alle mit mir befreundet sein: Ich hatte das schönste Fahrrad im Dorf, sah gut aus und war vor allem ein guter Fussballspieler. Es kam mir zugute, dass Fussballkollegen farbenblind sind. Zudem achtete meine Mutter darauf, dass ich immer adrett angezogen war und höflich grüsste. Ich sollte in ihrem Dorf nicht negativ auffallen!
Wann wurden Sie zum ersten Mal mit Rassismus konfrontiert?
Als ich mit 21 nach New York kam und nicht mehr nur der Urs aus der Schweiz, sondern der schwarze Schweizer Urs war. Als ich mich bei einem Fototermin spontan neben ein weisses Model stellte und es hiess, es würden grundsätzlich keine gemischtrassigen Bilder gemacht. Als ich mich für den «All American»-Look bewerben wollte und meine Agentin meinte, das gehe gar nicht, «All American» bedeute weiss. In Amerika realisierte ich auch, dass in der Nacht kein Taxi für mich anhielt. Oder dass Kellner mich schräg anschauten, wenn ich eine teure Rechnung begleichen wollte.
Trotzdem eroberten Sie als schwarzes Männer-Model die Laufstege der Welt. Wie kam es dazu?
Meine Mama war eine mutige und stolze Frau. Sie arbeitete hart, um mir ein gutes Leben zu ermöglichen. Jeweils am Samstag jobbte sie zusätzlich im Modegeschäft Körner in Altdorf. Eines Tages bat sie mich, für das 25-Jahr-Jubiläum der Firma als Dressman mitzumachen, ich hätte die perfekte Figur dazu. Ihr zuliebe nahm ich an der Modeschau teil, als einziger Urner und Amateur neben den professionellen Models. Die Einheimischen lachten und winkten mir zu, als ich mich im Skianzug über den Laufsteg bewegte. Für diesen Auftritt bekam ich zweihundert Franken – ein Drittel meines monatlichen Lehrlingslohns! Am gleichen Abend noch wurde ich für eine Show des Sportartikelherstellers Head in Zürich angefragt und bekam dafür sechshundert Franken.
Wie ging es weiter?
Es folgte eine Modewoche in München für sechstausend Franken: In drei Tagen verdiente ich mehr als in einem Monat als Angestellter in einem Reisebüro! Meine Mutter unterstützte mich unter einer Bedingung: Ich musste zuerst die Lehre als Reisefachmann am KV in Zürich abschliessen. Gleich nach der Prüfung kaufte ich mir ein Retourbillett zweiter Klasse von Flüelen nach Paris. Dort bekam ich die Chance, an den letzten zwei Tagen der Modewoche «Prêt-à-porter» teilzunehmen. Yves Saint Laurent selber verpasste mir einen marokkanischen Smoking, einen Traum aus schwarzem Satin und Seide. Für diese zwei Tage erhielt ich bereits das Dreifache meines üblichen Monatslohns. Das Rückfahrtticket nach Flüelen wandelte ich um in ein Billett erster Klasse.
Dabei wollten Sie gar nicht Model werden …
Bereits in der dritten Klasse sagte ich zu meiner Mutter: «Mama, jetzt kann ich meinen Namen schreiben. Muss ich noch weiterhin zur Schule?» Ich war überzeugt, dass ich dereinst ein berühmter Fussballspieler wie Pelé werden und die Schule nicht brauchen würde. Mit 17 bekam ich einen Vertrag beim FC Zürich. Dort lernte ich all meine Idole kennen: Köbi Kuhn, Daniel Jeandupeux, Rosario Martinelli und den Trainer Timo Konietzka. Das Training bei ihm war mörderisch, doch ich ordnete alles meinem grossen Ziel unter. Mit 19 hatte ich einen Unfall. Ich heulte, als ich meinen Traum von einer Karriere als Profisportler begraben musste.
Als Schauspieler gaben Sie 1984 im italienischen Film «L’allenatore del pallone» einen brasilianischen Fussballspieler namens Aristoteles. War die Rolle ein Ersatz für die grosse Enttäuschung?
Diese Komödie über den italienischen Fussball wird bis heute jedes Jahr mehrere Male am Fernsehen gezeigt; ganze Familien sitzen dann vor dem Bildschirm und feiern und fiebern mit! Für mich war diese Rolle tatsächlich ein Glücksfall: Ich konnte noch einmal meinen grossen Traum leben und gleichzeitig mit meiner Vergangenheit als Fussballer abschliessen. Zuerst wurde in Brasilien gedreht, wo ich das grossartige Maracanã-Stadion kennen lernte und sogar mein grosses Idol Pelé treffen durfte. Bei den Dreharbeiten in Italien trat mein Filmteam gegen AS Roma im Lazio-Stadion an und ich konnte gegen Grössen wie Ancelotti, Graziani, Pruzzo oder Spinosi spielen.
2009 erschien Ihre Biografie mit dem Untertitel «Mein Leben zwischen Highlife und Pleiten». Am 7. August dieses Jahres erschien sie auf Italienisch. Wie wurde sie aufgenommen?
Weil der Film und die Figur Aristoteles in Italien immer noch so sehr Kult sind, hat die italienische Presse unglaublich positiv auf mein Buch reagiert. Zeitungen wie «Italia Sera», «Corriere dello Sport» oder «Gazzetta di Parma» ebenso wie der Fernsehsender «Sky Sport Italy» haben Interviews und Titelgeschichten mit mir gemacht. Der bald vierzigjährige Film überdauert Generationen – das macht mich sehr glücklich!
Auf Deutsch heisst der Titel Ihres inzwischen vergriffenen Buches «Ich, der Neger». Ist das nicht ein provokanter Titel?
Ich habe den Titel mit Absicht so gewählt. Denn eigentlich ist «Neger» ein schönes Wort, kommt es doch aus dem Lateinischen und heisst nichts anderes als «schwarz». Ich bin schwarz, ich bin ein Neger. Das Wort wurde historisch missbraucht; aber als Schimpfwort habe ich es nie betrachtet. Eine Beleidigung ist das englische «Nigger» anstelle von «Negro». Ich nervte mich auch, als das Lieblingsbuch aus meiner Kindheit, «Zehn kleine Negerlein», eingestampft wurde. Und die Mohrenkopfdebatte ist für mich reiner Zeitverlust. Kürzlich feierte meine Lieblingstante Ruth ihren 90. Geburtstag. Weil ich Mohrenköpfe so liebe, gab es sie als Tischdekoration. Sie lachte und meinte, sie wüsste ja, dass ich nichts dagegen hätte …
«Ich wusste immer: In Uri sind meine Wurzeln, und hier ist meine Heimat.»
Wo sind für Sie die Grenzen?
2009 wurde ich in Zürich von Neonazis spitalreif geschlagen, zehn Jahre später noch einmal in Altdorf. So etwas dürfte nie passieren. Meiner Meinung nach müssten auch alle Symbole und Denkmäler, welche in irgendeiner Form die Sklaverei verherrlichen, von der Bildfläche verschwinden. Wirklich weh tun mir Begegnungen, wie ich sie letztes Jahr einmal in Zürich hatte, als ich mit Freunden in einem Strassencafé am Löwenplatz sass. Da kam ein kleines Mädchen auf mich zugerannt, doch seine Grossmutter rief es zurück: «Geh nicht zu diesem Ausländer!» Ich mag Kinder sehr – und Kinder mögen mich.
Warum haben Sie selber keine Kinder?
Es hat sich einfach nicht ergeben. Ich hatte zwar auch Freundinnen, die heiraten und Kinder haben wollten. Davor aber schreckte ich zurück: Ich bin selber ohne Vater aufgewachsen und habe ihn – obwohl es auch Zeiten in meinem Leben gab, in denen ich intensiv nach ihm suchte – nie kennengelernt. Meine Familie ist für mich meine Lebenspartnerin Esti Patocchi. Ich kenne sie schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit in Altdorf. Als ich in New York mit meinem Freund John zusammenlebte, kam sie mich mit ihrem damaligen Lebenspartner besuchen. Natürlich hätten wir damals nie gedacht, dass wir eines Tages zusammenleben würden!
Wie wurden Sie ein Paar?
Wenn ich in Altdorf meine Mama besuchte, ging ich meist auch bei Esti vorbei. Vor elf Jahren beschlossen wir, probeweise als Wohngemeinschaft zusammenzuziehen. Etwa nach einem Monat realisierten wir: Es passt! Dass wir auch ein Liebespaar wurden, hat sich erst mit der Zeit ergeben. Wir hatten beide ein verrücktes Leben hinter uns und sind uns im richtigen Augenblick nähergekommen: Früher hätte es niemals geklappt, später wäre es wohl zu spät gewesen. Liebe hat viele Formen. Jetzt, in unserem Alter, sind Zärtlichkeit, Vertrauen, Zuneigung und Freundschaft am wichtigsten. Und wir lachen jeden Tag zusammen!
Spüren Sie Ihr Alter?
Ich habe kein Problem zu sagen, dass ich 64 bin. Bis vor wenigen Jahren habe ich nicht einmal gemerkt, dass ich älter werde. Doch jetzt spüre ich, dass ich etwas für meine Gesundheit tun muss. Ich rauche zu viel und habe zugenommen. Seit einigen Monaten gehe ich regelmässig laufen, ich fühle mich fitter, spüre meinen Körper besser und komme bereits wieder in meine Anzüge!
Macht Ihnen das Alter Angst?
Ich habe Angst vor einer Demenz. Ich habe gesehen, was sie bei meiner Mutter angerichtet hat. 2008 wurde die Krankheit diagnostiziert, vor fünf Jahren ist meine Mama gestorben. Die letzte Zeit konnte sie nicht mehr reden, sass in ihrem Lehnstuhl und wurde auf einer Pflegewohngruppe in Altdorf betreut. Meine Mutter und ich standen uns sehr nah; sie war immer mein Fels in der Brandung. Sie so zu sehen und ihr nicht helfen zu können, war für mich eine schlimme Erfahrung. An dieser Krankheit möchte ich nicht sterben.
Wie haben Sie vorgesorgt?
Meine Patientenverfügung habe ich letztes Jahr vor meiner schweren Krebsoperation aktualisiert und alle Details auch mit Esti besprochen. Keinesfalls hätte ich reanimiert werden wollen. Und doch gingen mir vor der Operation noch ganz viele verschiedene Gedanken durch den Kopf. Ich hoffte, ich würde tapfer sein, ich hatte ja ein gutes Leben gehabt. Ich habe mich auch immer wieder mit östlichen Religionen beschäftigt. Diese sagen, dass man im Moment des Sterbens in eine göttliche Einheit eingeht. Daran glaube ich.
Sind Sie religiös?
Ganz klar. Gott hat mir das Leben gerettet. Ich erinnere mich sehr genau, wie ich einmal mitten in der Nacht auf einer Bank vor meinem Wohnhaus am Central Park in New York aus meinem Drogenrausch erwacht bin und realisierte, wie tief ich gefallen war. Ich dachte an meine Mutter in Altdorf und was sie alles für mich getan hatte. Ich fiel neben der Bank auf die Knie und sagte: «Lieber Gott, hilf mir.» Mir war bewusst, dass ich mich entscheiden musste – für das Leben oder für den Drogentod. Ich wollte leben und krempelte mein Leben um. 1989 kam ich in die Schweiz zurück, nach fast fünfzehn Jahren im Ausland. Die Schweiz und den Kanton Uri hatte ich in dieser Zeit vermisst, denn ich wusste immer: Hier sind meine Wurzeln, und hier ist meine Heimat. ❋
Das Buch: «Ich, der Neger. Mein Leben zwischen Highlife und Pleiten» kann mit Widmung schriftlich bestellt werden bei Triples 8 GmbH, Urs Althaus, Seestrasse 7, 6454 Flüelen oder per Mail an althaus@althausmedien.com (Preis CHF 40.– inkl. Versand).
Vom Urnerbub zum Top-Model
Urs Althaus, geboren am 25. Februar 1956, wuchs in Altdorf UR auf. Mit 21 war er als erstes schwarzes Model auf dem Cover des amerikanischen Modemagazins «GQ». In den folgenden Jahren arbeitete er für Designer wie Calvin Klein, Valentino, Armani, Gucci oder Kenzo. Als Schauspieler hat Urs Althaus in über dreissig Filmen und Fernsehserien mitgewirkt, unter anderem im Film «Der Name der Rose» neben Sean Connery. 1989 kehrte er in die Schweiz zurück und war bis 2000 Geschäftsführer und Mitinhaber der grössten Schweizer Modelagentur Option. Schliesslich gründete er seine eigene Firma Althaus Medien. Zurzeit ist er mit der Produktion von Rossinis Oper Wilhelm Tell beschäftigt, die 2022 auf dem Rütli aufgeführt wird. Urs Althaus wohnt zusammen mit seiner Partnerin Ester Patocchi in Flüelen am Vierwaldstättersee.