Ein Jahrhundert Leben
Hundertjährige Frauen und Männer brauchen vielfach Unterstützung und Betreuung. Andere leben selbstständig in ihren eigenen vier Wänden.Viele hochaltrige Menschen strahlen eine grosse Heiterkeit und Gelassenheit aus.
Text: Usch Vollenwyder, Fabian Rottmeier, Annegret Honegger
Es ist Neuland in der Geschichte der Menschheit: Erst seit kurzer Zeit gibt es Männer und Frauen, die hundert Jahre alt und älter werden. Ihre Zahl nimmt rasant zu: Lebten 1970 gerade einmal 61 Hundertjährige in der Schweiz, sind es heute über 1500. Vier Fünftel von ihnen, 82 Prozent, sind Frauen. Die Gesellschaft hat noch keine Erfahrung mit dieser Altersgruppe. Die Wissenschaft steht erst am Anfang ihrer Forschung über Hochaltrigkeit. Die Betroffenen selber sind Pionierinnen und Pioniere auf dem Gebiet des langen Lebens.
Viele dieser sehr alten Menschen sind auf tägliche Betreuung und Pflege angewiesen. Fast alle brauchen Unterstützung und Hilfe im Alltag. Und es gibt eine kleine Minderheit von Hundertjährigen, die ihr Leben selber gestalten können. Dies trotz körperlicher Einschränkungen, nachlassendem Gehör, schwindender Sehkraft und ihrer klein gewordenen äusseren Welt. Die Zeitlupe liess sich von drei über hundertjährigen Frauen und einem Mann mitnehmen in dieses unbekannte Land der Hochaltrigkeit. Sie durfte teilhaben am Rückblick auf ein langes gelebtes Leben und erfuhr Heiterkeit und Gelassenheit, Humor und Dankbarkeit. ❋
«Ich bin am liebsten alleine»
Die 101-jährige Alice Schwegler wohnt im Seniorenheim Neckertal in Brunnadern SG. Vieles ist ihr zu anstrengend geworden – ausser Lesen und Stricken.
Was bereitet Ihnen mit 101 Jahren am meisten Freude? Über Besuch freue ich mich immer. Ich wohne in einem schönen Einzelzimmer mit Sicht auf den Säntis. Mein Ein und Alles sind Stricken und Lesen. Das tue ich abwechslungsweise, weil ich nur noch auf einem Auge sehe. So kann ich mich bestens alleine beschäftigen und belästige niemanden mit meinem «Was hast du gesagt?». Ich höre leider nur noch schlecht.
Was lesen Sie am liebsten? Bücher! Von Kathrin Rüegg habe ich alle gelesen. Mit zwei gesunden Augen las ich manchmal den ganzen Tag. Wobei: Gestern wurde aus einer Stunde auch plötzlich ein ganzer Nachmittag. Ich musste wissen, wie das Buch ausgeht.
Ist Ihr Zimmer, dieser ruhige Rückzugsort, das Wichtigste für Sie? Ganz bestimmt. Ich begreife nun auch, weshalb es nicht immer funktioniert hat früher, wenn die alten Eltern bei ihren Kindern leben mussten. Mit den heutigen Wohnoptionen können alle «kutschieren», wie es für sie stimmt. Ich bin sehr zufrieden hier. Und wenn ich eines Morgens nicht mehr erwache, bin ich noch glücklicher (lacht).
Haben Sie Angst vor dem Tod? Nein, aber vor dem Sterben leiden zu müssen, davor fürchte ich mich. Wenn ich mir noch etwas wünschen könnte, dann wäre es, friedlich im Schlaf gehen zu dürfen. Das wäre so schön!
Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ja, ich glaube fest daran.
Ist es etwas Schönes, so alt zu werden, oder eher eine Last, weil man viele geliebte Menschen verloren hat? Eine Last nicht, aber manchmal denke ich schon, nun wärs Zeit (lacht). Aber ich will mich nicht beklagen, sondern bin dankbar, dass ich in meinem Alter noch so gesund sein kann. Früher musste bei mir immer etwas gehen. Auch deshalb stricke ich wohl noch heute so fleissig.
Ihr Ratschlag fürs Leben? Zufrieden sein, nicht zu viel wollen. Aber heute denkt man anders. Die Leute rennen allem nach. Ach, wofür auch? Da bin lieber in meinem Zimmer. Das meiste ist mir zu anstrengend geworden – mit schlechtem Gehör auch Gespräche. Ich bin am liebsten alleine.
Kommen Sie sich manchmal fremd vor in der heutigen Welt? Ja, hie und da. Etwa, wenn ich eine Zeitschrift anschaue und merke, dass sie gar nicht mehr zu mir passt. Die Schweizer Illustrierte habe ich seit meiner Hochzeit im Jahr 1940 abonniert. Ich mag sie noch immer.
Was denken Sie über den Klimawandel? Ich verfolge die Nachrichten sehr fleissig. Ich kann nicht begreifen, dass alles einfach nur weggeschmissen wird – im Wissen, wie wichtig es wäre, anders zu handeln. Das macht mich wütend. So kommen wir nie auf einen grünen Zweig. Und alle müssen jeden Tag frische Kleider tragen! Auch wenn die Hose noch sauber ist. Ich gebe die Kleider erst in die Wäsche, wenn sie schmutzig sind – sofern ich mich durchsetzen kann (lacht). Meine Mutter wusch unsere Pyjamas nur alle zwei Wochen.
Interview: Fabian Rottmeier
«Mein Lebensrat? Werden Sie alt!»
Gottfried Rüdlinger lebt auch mit 100 Jahren noch alleine in seiner Churer Wohnung. Der Mineraliensammler nimmt seine Einschränkungen mit Humor.
Wie geht es Ihnen? Ich sage stets: Ich höre fast nichts mehr, sehe miserabel, alle Knochen tun mir weh, aber sonst gehts mir gut. Man muss alles mit ein bisschen Humor nehmen.
Ist es ein «Chrampf», so alt zu sein? Entweder nimmt man das Alter an – oder nicht. Aber ein Chrampf ist es nicht.
Was ist schön am hohen Alter? Was heisst hier hohes Alter!? Ich bin doch erst hundert!
Was ist das Wichtigste in Ihrem Alltag? Essen und Trinken! Folgen Sie mir (geht in die Küche, öffnet einen Einbauschrank und zeigt auf ein paar Flaschen Wein und eine Flasche Whisky). Das ist das Beste am hohen Alter! Am Mittag ein halbes Glas Wein und später ein Gläschen Whisky, das ist mein Rezept. Am liebsten mag ich Veltliner. Und das hier (er zeigt auf den Flaschenöffner) ist ein wichtiges Instrument. Mein Mittagessen liegt schon im Ofen zum Aufwärmen bereit.
Hat sich Ihr Zeitempfinden im Alter verändert? Nein.
Können Sie uns einen Lebensrat geben? Uff, was soll ich Ihnen da raten? Werden Sie alt!
Welches war Ihre schönste Zeit? Als ich zwischen 30 und 40 Jahre alt war. Damals war ich oft in den Bergen am Klettern und am Steinesammeln. Später wurde gar eine Mineralart aus Fianel nach mir benannt: der Rüdlingerit, der gelbe bis orange Kristalle bildet.
Sind Sie traurig, dass Ihr Leben bald zu Ende geht? Man muss es nehmen, wie es kommt. Der Pfarrer sagte einmal: «Alle Leute müssen sterben, vielleicht auch ich.»
Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Nein. Was tot ist, ist vorbei.
Ist es einsam, so alt zu werden? Man hat einen Fernseher.
Schlafen Sie lange? Ja, sehr lange sogar. Wie heisst es so schön: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Auch früher war ich nie ein Frühaufsteher.
Was denken Sie über die heutige Zeit? Was soll ich dazu sagen? (Gottfried Rüdlinger holt eine kleine, von ihm angefertigte Steinskulptur hervor, die mit «Der Politiker» beschriftet ist. Aus einem Marmorsockel ragt ein dünner Mineralstein, dessen Form und Löcher an ein Gesicht ohne Gehirn erinnern.) Diesen Mineralstein habe ich im Kanton Solothurn gefunden. Er sitzt auf einem hohen Sockel, hat ein grosses Maul und nichts im Kopf.
Interview: Fabian Rottmeier
«Es kommt mir vor als wäre es erst gestern gewesen …»
Yvonne Hemauer (100) wohnt allein in ihrer Wohnung im zwölften Stock eines Hochhauses in Biel. Die Familie ist das Wichtigste in ihrem Leben.
Was ist das Besondere an Ihrem Alter? Ich bekomme von überall her Gratulationen und Komplimente. Vor kurzem führte mich mein Enkel Jean François an den Bieler Wohltätigkeitsball. Ich wurde nach vorne auf die Bühne gerufen, bekam von allen Seiten Glückwünsche und wurde von vielen fremden Menschen umarmt. Ein anderes Mal sah eine Zugbegleiterin auf dem GA meinen Jahrgang und schenkte mir einige Fünf-Franken-Gutscheine für den Speisewagen. Ich bin überrascht, wie sehr ich wegen meines Alters bewundert werde: Ein 100. Geburtstag scheint noch lange nicht alltäglich zu sein.
Was hat Sie in Ihrem Leben besonders geprägt? Die Krankheit meines Mannes. Meine jüngere Tochter war drei Jahre alt, als bei ihm ein Gehirntumor festgestellt wurde. Ich bin dankbar, dass er noch so lange leben durfte, bis die Kinder gross waren. In diesen schwierigen Jahren wurde mir immer wieder geholfen, von Ärzten und überraschenden Menschen an meiner Seite. Bertrand Piccard sagte nach seiner Weltumsegelung, Gottes Hand habe ihn geführt. Mir war auch, als hätte mir Gott jeweils zur richtigen Zeit die richtigen Leute geschickt.
Liegen Ihre Erinnerungen weit zurück? Es ist, als wäre alles erst gestern gewesen: Ich erinnere mich, wie meine Mutter die Windeln von uns drei Mädchen am Bach hinter dem Haus gewaschen hat. Als plötzlich ein kleines, schwarzes Mädchen in unserer Klasse stand, dachte ich, es müsse wohl irgendwie vom Himmel gefallen sein. Einmal sagte unsere Lehrerin, wir sollten alle auf den Pausenhof gehen, draussen würde sich etwas Besonderes ereignen. Wir warteten ungeduldig – und dann zog der Zeppelin über den Himmel.
Denken Sie daran, dass Ihre Zukunft nur noch kurz ist? Ja natürlich, ich bin mir bewusst, dass meine Tage gezählt sind. Das freut mich nicht besonders. Ich möchte meine beiden Urenkel noch sehen, die in den nächsten Monaten auf die Welt kommen. Mein Enkel Jean-François wird als nächster Vater. Er verriet mir an meinem Geburtstag, ob es ein Bub oder ein Mädchen wird. Er hat es sonst niemandem gesagt. Aber es war mein Geburtstagsgeschenk: Ich weiss ja nicht, ob ich bis dahin noch leben werde.
«Hundert zu werden scheint nicht alltäglich zu sein»
Haben Sie Angst vor dem Sterben? Ja, ein bisschen schon. Ich möchte meinen Kindern nicht allzu viele Sorgen machen müssen. Am liebsten würde ich am Abend einschlafen und am anderen Morgen nicht mehr erwachen. Doch das wollen wohl alle Menschen. Ich denke aber nur hin und wieder und nur kurz an den Tod; es bringt nichts, zu viel darüber zu sinnieren!
Was macht Sie glücklich? Ich freue mich, dass ich immer noch junge Menschen um mich habe, die gern mit mir zusammen sind. Vor kurzem war ich mit meiner Familie in Zürich und besuchte mit ihr ein Musical, in dem eine Enkelin und zwei Urenkelinnen mitspielten. Ich dachte: Ich muss einfach glücklich sein! Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine solche Familie haben würde – zwei Töchter, sechs Enkel und bald zwölf Urgrosskinder. Ich darf erleben, dass ich auch für meine Urenkel noch jemand bin, den sie gern haben. Es gibt nichts Schöneres, als ihre kleinen Arme um mich zu spüren!
Interview: Usch Vollenwyder
«Schöne Erinnerungen sind ein Glück!»
Obwohl einst Selbstverständliches heute nicht mehr möglich ist, vermisst Rosmarie Wirz (100) nichts. Die siebenfache Urgrossmutter aus Riehen BS ist interessiert am Weltgeschehen und ein grosser Sportfan.
Woran merken Sie Ihr Alter? Mein ältester Sohn ist 78, der jüngste kommt ins AHV-Alter … Auch in meinem Leben ist es ruhiger geworden. Oft sitze ich einfach auf meinem Sofa und schaue hinaus. Vieles, was früher selbstverständlich war, geht heute nicht mehr. Zum Beispiel Reisen, Autofahren, die Fasnacht, Konzert- und Theaterbesuche, Ski- und Hochtouren…
Fehlt Ihnen dies? Ich vermisse nichts und bin froh, dass ich vieles nicht mehr muss. Langweilig ist mir nie. Im Gegenteil: Ich staune, wie schnell die Zeit vergeht, obwohl ich eigentlich nichts mehr mache. Oft sehe ich mir Bilder an und dann kommen die Erinnerungen.
Schöne oder schwierige? Natürlich habe ich auch Trauriges erlebt, aber meistens ging es mir gut. Ich empfinde es als grosses Glück, im Alter gerne ans eigene Leben zurückzudenken. Das ist nicht allen vergönnt.
Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Seit meinem Herzinfarkt kann ich nicht mehr gut atmen. Und meine Hände sind wieder so ungeschickt wie die eines kleinen Kindes, das alles lernen muss. Ich bin froh, dass ich an vier Tagen pro Woche Hilfe im Haushalt habe, da mir zunehmend die Kraft dafür fehlt.
Haben Sie Ihren 100. Geburtstag gefeiert? Es gab zwei grosse Feste und ich hatte schon etwas Sorgen, wie ich den Trubel überstehe. Wenn man alt wird, werden die Sippen ja immer grösser mit Enkel- und Urenkelkindern. Aber alles klappte und ich war glücklich, dass die ganze Familie beisammen sein konnte.
Was hat es Ihnen bedeutet, 100 zu werden? Schon meine Mutter wurde 100 Jahre alt, zwei meiner Brüder sogar älter, deshalb ist es für mich nicht so aussergewöhnlich. Alt zu werden, ist schön, aber nicht immer einfach.
Weshalb? Von meinen Freundinnen leben fast alle nicht mehr. Abschiede habe ich viele erlebt, erst kürzlich ist eine liebe Nachbarin gestorben und eine Schulkameradin, die in der Nähe wohnte. Wenn Kontakte abbrechen, wenn mich eine Bekannte beim Einkaufen nicht mehr kennt, wenn sich am Telefon eines Tages jemand anderes meldet oder eine Rufnummer plötzlich ungültig ist, macht mich das traurig. Auch die Klassenzusammenkünfte finden nicht mehr statt.
Denken Sie an den Tod? Natürlich könnte das Leben jeden Tag vorbei sein. So ist das nun einmal, das geht allen gleich, auch den Jüngeren. Schön ist, wenn man einfach einschlafen kann. Aber meiner Erfahrung nach ist dies eher selten und das Sterben oft schwierig.
Warum sind gerade Sie 100 Jahre alt geworden? Ein Rezept habe ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich früher Turnlehrerin war und immer sehr sportlich. So kann ich bis heute gut von meinem Sofa aufstehen, einfach mit etwas mehr Anlauf … Geholfen hat vielleicht, dass wir in jungen Jahren sehr einfach lebten. So lernten wir zu sparen und nicht zu viel zu verlangen.
Wären Sie gerne nochmals jung? Sicher nicht! Die heutige Zeit empfinde ich als sehr ungemütlich – wobei die Hitler-Zeit natürlich auch furchtbar war. Ich bin glücklich, dass es mir so gut geht und dass ich helfende Menschen um mich habe. Zwischendurch bin ich auch gern für mich allein. Läuft ein Tennismatch, wird es bei mir spät. Und für ein Skirennen esse ich sogar vor dem Fernseher.
Verfolgen Sie die Klima-Proteste der Jugend? Ich lese viel und sehe täglich die Nachrichten im Fernsehen. Überall Brände, Überschwemmungen und Umweltverschmutzung, das macht mir auch Sorgen. Es ist gut, dass die Jungen unseren luxuriösen Lebensstil hinterfragen.
Interview: Annegret Honegger
Stationen eines langen Lebens
Ein kurzer Überblick, was in den letzten hundert Jahren auf der Welt passiert ist
Eine Kultur des humanen Alterns
Lesen Sie hier das Interview mit Soziologin Rosmarie Meier zum Thema Hochaltrigkeit.
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