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«Schwingen ist eine gute Lebensschule»

Er ist einer der erfolgreichsten Schwinger der Schweiz und machte auch nach seinen grossen Siegen Karriere: Der Appenzeller Ernst Schläpfer (64) über den Königstitel, das Eidgenössische Schwingfest und seinen ganz persönlichen Schlussgang.

Text: Roland Grüter

Wir sitzen im Keller Ihres Wohnhauses, im Schwingerstübli. Darin horten Sie die Siegerpreise der Feste. Richtig?

Fast. Die Schellen, die hier hängen, habe ich an den Festen in den vorderen Rängen gewonnen. Der Sieger erhält jeweils ein Muneli. In meiner Karriere sind 40 Stück zusammen gekommen, dafür wäre der Raum zu klein …

Gewissermassen ein Mausoleum der Erinnerungen?

Sozusagen. All die Glocken, all die Bilder – die kann man ja nicht im ganzen Haus verteilen. Ich habe sie hier im Stübli vereint, das machen viele Schwinger so. Hier treffe ich mich mit Freunden zum Jassen.

Wie nahe sind Ihnen die 1980er-Jahre sonst, in denen Sie die Arenen nach Belieben dominiert haben?

Zwischen damals und heute liegen Ewigkeiten. Der Schwingsport hat mir zwar viel gegeben, jetzt sind andere Sachen wichtig.

Sie werden aber noch immer oft auf diesen Titel reduziert. Nervt das?

Das ist halt meine Rolle, manchmal nervt sie aber schon. Ein Beispiel: In Schaffhausen werden jährlich die wichtigsten Personen in einem «Who-is-who»-Führer porträtiert. Die Leiter anderer Schulen sind im Bereich Bildung zu finden, ich aber im Sport – obwohl ich 30 Jahre lang Rektor der kantonalen Berufsschule war und in dieser Funktion 115 Lehrpersonen vorgestanden bin. Das irritiert schon.

Wie eng sind Sie mit dem Schwingsport noch verwachsen?

Ich habe keine offizielle Funktion mehr, nehme als Co-Trainer zwei Mal wöchentlich an den Trainings mit Buben und Aktiven teil. Die Szene ist mir aber noch immer nahe, ich besuche die Feste und bin lebenslanges Ehrenmitglied des Verbandes.

Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken: Was hat Ihnen das Schwingen neben dem Erfolg gegeben?

Enorm vieles. Freundschaften, unzählige spannende Begegnungen, viel Freude. Der Sport hat mir Dinge beigebracht, die ich bis heute brauchen kann. Denn Schwingen, so wie ich es sehe, ist eine gute Lebensschule.

Was genau lernten Sie dabei?

Dass man sich und seinen Ansichten treu bleibt, sich durch niemanden und nichts davon abbringen lässt. Der Erfolg eines Sportlers bewirkt Glamour. Er bewegt sich in verschiedenenWelten, und man muss lernen, den Sport, den Rummel um seine Person und den Beruf auseinander zu halten, diese Welten richtig zu bewerten und vor allem, sich in keiner zu verlieren. In meinen erfolgreichsten Zeiten studierte ich an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich Agronomie. Dort war ich Student wie alle andern, auch wenn ich tags zuvor ein Fest gewinnen konnte. Ich lernte durchs Schwingen auch mit Niederlagen umzugehen.

Interviewbild mit Ernst Schläpfer in seinem Schwingerstübli.
© Sonja Ruckstuhl

Der Rummel um Ihre Person war riesig: Liefen Sie nie Gefahr, abzuheben?

Nein. Das Studium hat mich geerdet. Ich erkannte schnell, dass selbst ein Schwingerkönig den Doktortitel nicht geschenkt bekommt, sondern dafür hart arbeiten muss. Das schafft Abstand, hält einen auf dem Boden.

Viele Spitzensportler tun sich schwer mit der Vernunft des Alltags. Weshalb?

Junge Sportler können nicht abstrahieren, dass der Rummel nichts mit ihrer Person, sondern mit ihrem Erfolg zu tun hat. Und viele denken keinen Moment an die Zukunft, sondern nur ans Hier und Jetzt. Sie verdienen viel Geld, werden umschwärmt, hofiert, gepusht. Für Selbstreflexion bleibt da wenig Platz. Ich habe schon Handballprofis beraten, die mit 35 vor dem Nichts standen – ausser Geld konnten sie rein gar nichts in ihr späteres Leben mitnehmen, und das viele Geld war auch schnell weg.

Wo feierten Sie die grösseren Erfolge – im oder neben dem Sägemehl?

Schwer abzuschätzen. Was ich sicher sagen kann: Mir ist in beiden Lebensphasen einiges gelungen, ich konnte einiges auf die Beine stellen.

Sie waren 30 Jahre Rektor der kantonalen Berufsschule Schaffhausen – und gerieten deshalb vor kurzem in die Schlagzeilen. Ihr Führungsstil an der Schule wurde moniert, sie wurden kurz vor der Pensionierung freigestellt. Was ist passiert?

Dazu möchte ich mich nicht äussern,noch sind die Wirren nicht ausgestan-den. Nur so viel: Ich habe mir aus meiner Sicht nichts zuschulden kommen lassen.

Wie sind Sie ins Bildungswesen gekommen?

Ursprünglich war ich Primarlehrer, unterrichtete drei Jahre im Appenzel-lerland. Danach wollte ich zwar weiter als Lehrer tätig sein, aber nicht länger auf dieser Stufe. Also besuchte ich die ETH – nach dem Agronomiestudium und der Promotion peilte ich die Berufsbildung an, und meine erste Bewerbung war sogleich erfolgreich. So kam ich zum Job, den ich bis vor kurzem ausgeübt habe.

Schwinger gelten gemeinhin als Fahnenträger der traditionellen Schweiz. Ist Ihnen damit wohl?

Durchaus. Was ist schlecht daran? Traditionen sind ja nicht ausschliesslich rückwärtsgewandt, entwickeln sich ständig weiter. Überdies ist aus der Schweizer Tradition viel Fruchtbares gewachsen: dass wir friedvoll miteinander umgehen, dass wir in einer sicheren Welt leben, dass wir ein gutes Bildungssystem haben – was mir ganz besonders wichtig ist, weil es 95 Prozent der Jugendlichen den Einstieg ins Berufsleben möglich macht. All das hat unsere Tradition ermöglicht. Niemandem käme es in den Sinn, das Bildungssystem als konservativ, rückwärtsgewandt zu bezeichnen.

Traditionelle Werte werden politisiert, vor allem von den Rechtsparteien. Sie grenzen sich nicht davon ab? Immerhin sassen Sie für die SP im Schaffhauser Kantonsrat und engagierten sich für die Integration von Ausländern.

Na und? Das hat mit der Schweizer Tradition und dem Schwingsport nichts zu tun. Der Schwingsport vereint die unterschiedlichsten Ideologien, die unterschiedlichsten Menschen. Die Tradition ist weit bunter, als manche meinen.

„Die Solidarität in der Gesellschaft geht bachab»

Weshalb sehen sie viele trotzdem als konservativ?

Das ist historisch bedingt und gewollt. Als 1805 das erste Unspunnenfest abgehalten wurde, besann man sich darin auf urtypische Schweizer Werte und hielt diese den Neuerungen der Französischen Revolution entgegen. Steinstossen, Jodeln, Sackhüpfen, Schwingen – das volle Programm. Man wollte ein Stück heile Schweiz abbilden. Der Schwingsport steht aber nicht alleine für diese Vergangenheit, er hätte gute Ansätze, eine moderne Disziplin zu werden.

Inwiefern?

Gegenseitiges körperliches Kräftemessen, vor alle munter den Buben, findet heute kaum mehr statt. Wenn sich zwei an den Kragen gehen, mischen sich sofort die Erwachsenen ein. Im Alltag soll Frieden herrschen, im Sport hingegen wird Aggressivität gross geschrieben, beispielsweise im Fussball oder Handball. Schwingen wäre ein guter Schauplatz, Aggressionen in friedvolle Bahnen zu lenken. Würden die Schulen ins Sägemehl investieren, müssten die Jugendlichen ihre Kräfte nicht länger auf dem Hinterhof ausleben und könnten diese konstruktiv einsetzen – mit klaren Spielregeln, die etwa besagen, dass man sich vor und nach einem Kampf die Hand reicht und sich das Sägemehl von den Schultern wischt.

Ernst Schläpfer in seinem Schwingerstübli.
© Sonja Ruckstuhl

Sie glauben, dass so etwas nachwirkt?

Auf jeden Fall. So würden die Jugendlichen erfahren, dass sie mal stärker, mal schwächer sind. Vielleicht würden manche danach sich und ihr Leben nicht mehr gar so ernst nehmen. Eine gewisse Gelassenheit und Leichtigkeit sind ein prima Lebensrezept.

Welche Werte sind Ihnen ausserdem noch wichtig?

Eigenständigkeit. Ich plädiere dafür, dass jeder und jede selbstständig Position bezieht, ohne sich einer Partei oder anderen Gruppierung anzuschliessen. Da bin ich ganz Bergler. Ich habe schon zu Hause gelernt, selber zu überlegen und für meine Meinung einzustehen.

Kopf an Kopf: Wie im Schwingsport…

Genau. Man geht hin, stellt sich offen und ehrlich einem Kampf. Mauscheleien und Unehrlichkeiten waren nie mein Ding – und sind es noch immer nicht.

Wie stemmen Sie sich dagegen?

Indem ich die Augen offen halte und mich gegen Schlechtes wehre. Die Welt ist wirtschaftsdominiert, wir tragen der Natur zu wenig Sorge und liefern Waffen in Kriegsgebiete, um damit Geld zu machen – das kann mir nicht egal sein. Auch die Solidarität in der Gesellschaft geht bachab. Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir in der Familie, in der Gesellschaft zueinander schauen. Stark zu schwach, alt zu jung. Das alles steht auf dem Prüfstand, dafür sollten wir einstehen.

Sie sind auf einem Bauernhof aufgewachsen. Wer hat Ihre Haltung dort geprägt?

Ich hatte einen ausgesprochen klugen Vater. Er war Bauer, politisierte für die SVP. Er war aber auch weltoffen. Mein Vater hatte zwar seine Meinung, liess jene der anderen aber meist gelten. Als ich in die SP eintrat, sagte er nur: Die brauchen auch gute Leute.

Mit Ihrem Eigensinn haben Sie sich nicht nur Freunde gemacht. Sie waren bis 2012 Mitglied des Zentralvorstandes des Schwingverbandes. Dann kam es zum Eklat.

Ein Spitzenschwinger lernt, sich dem Kampf zu stellen. Im Zentralvorstand war kein einziger, der das beherrscht. Die machen Dinge, die man nicht macht. Und das habe ich ihnen klar und deutlich gesagt. Als wir uns nicht finden konnten, habe ich die Konsequenz daraus gezogen und reichte den Rücktritt ein.

Was waren die grössten Streitpunkte?

Wir waren uns uneinig, wohin der Schwingsport gehen soll. Statt in den Sport selber zu investieren, wird vor allem der Rahmen vergoldet. Man gibt das Geld lieber für die Infrastruktur des Eidgenössischen aus statt für die Nachwuchsförderung und die wichtigen Faktoren des Sports: in die Freude und die Kameradschaft, die jeder Club zusammenhalten sollte. Eine Denk-umkehr wäre dringend nötig. Denn immer weniger junge Menschen beginnen zu schwingen. Aber ohne grosse Sportler bleiben die Arenen irgendwann leer.

Ist dem so? Schwingen wird überall als Trenddisziplin beschrieben.

Das Interesse am Sport mag zwar gewachsen sein, den regionalen Verbänden fehlt es aber an Nachwuchs. Ausserdem ist die Qualität des Sportes merklich gesunken.

Fahren Sie diesen Sommer trotzdem nach Zug, wo vom 23. bis 25. August das Eidgenössische Schwingerfest stattfindet?

Auf jeden Fall. Dort treten ein paar meiner Schwinger an – und ich stehe ihnen zur Seite.

Vor drei Jahren sagten Sie, dass ein älterer Berner König werden würde. Und behielten mit Matthias Glarner recht. Wer wird in Zug gekrönt?

Ein Junger, die Zeit der Alten ist vorbei. (Überlegt lange.) Ich tippe auf Pirmin Reichmuth aus Cham. Er wird unterschätzt und hat das Zeug zum Siegen. Andere setzen auf Joel Wicki, Sämi Giger oder Armon Orlik – ich auf Reichmuth. Er ist für mich momentan der beste Schwinger der Schweiz.

Sie selber stehen seit kurzem in einem ganz besonderen Schlussgang: der Pensionierung. Wie geht es Ihnen mit Blick in die Zukunft?

Hervorragend. Mich hat einer vor den Wirren um mein Amt gefragt, ob ich nicht weitermachen wolle. Daraufhin antwortete ich: Spinnst du? Nun ist der Rollenwechsel früher gekommen als geplant: Er war überfällig.

Was erhoffen Sie sich davon?

Es wäre lässig, wenn mein bisheriges Leben ein Stückchen weiterginge, denn es ist ein gutes. Ich freue mich auf den Freiraum – und auf die gemeinsame Zeit mit meiner Frau Christina. Sie wird wohl auch bald in Pension gehen. Sie müssen wissen: Christina und ich haben eine lange und wechselreiche Geschichte. Sie war mein erster Schatz, doch als junger Mann hatte eine Frau kein Platz in meinem Sportlerleben. Entsprechend verloren wir uns aus den Augen, sie und ich gründeten mit anderen Partnern eine Familie. 15 Jahre später trafen wir uns erneut, dieses Mal kamen wir zusammen – sie brachte vier Kinder in die Beziehung mit, ich deren drei. Wir sind eine bunte Kuddelmuddel-Familie.

Darin blieb wenig Zeit für Zweisamkeit.

Ja, aber aus anderen Gründen. Meine Frau arbeitet in einem Altersheim und musste an vielen Wochenenden und während der Schulferien arbeiten. Ich wiederum war zudem regelmässig an den Festen unterwegs. Unsere gemeinsame Zeit war und ist dadurch sehr beschränkt, das wird sich nun ändern. Wir träumen von vielem – können endlich alte Pläne realisieren.

Zum Beispiel?

Auf Reisen gehen. Wir denken dabei unter anderem an Australien. Alles gut also.

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Der König mit dem Doktortitel

Auf der Höhe seiner Karriere brachte er 110 Kilo auf die Waage, heute sind es 117: Ernst Schläpfer, geboren im appenzellischen Wolfhalden, gehört zu den erfolgreichsten Kranzschwingern der Schweiz. Zwei Mal siegte er an einem Eidgenössischen, den dritten Titel verpasste er haarscharf. Schon in den Aktivzeiten bereitete sich der Ostschweizer auf sein späteres Leben vor. Er studierte an der ETH Zürich Agronomie, erwarb sich einen Doktortitel und war 30 Jahre Rektor am Berufsbildungszentrum in Schaffhausen. Heute lebt er mit seiner Frau Christina in Schaffhausen. Das Paar hat vor 20 Jahren eine Patchworkfamilie mit sieben Kindern gegründet. Vor kurzem wurde Ernst Schläpfer freigestellt.

Beitrag vom 12.06.2019