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Die rote Zora (1) 10. Januar 2022

Die ehemalige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder (70) erzählt seit Beginn der Corona-Krise jede Woche aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal.Heute: von einem alten Kinderbuch mit einer aktuellen Botschaft.

Usch Vollenwyder
Usch Vollenwyder,
Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

Auf dem Mühleplatz mitten in der Altstadt von Thun steht wieder das Winterzauber-Zelt. Nach der coronabedingten Absage letztes Jahr steht heuer «Die rote Zora» auf dem Programm. Ich fühle mich um Jahrzehnte zurückversetzt, als ich das Programm lese und die Bilder der rothaarigen Zora mit ihrer Bande sehe: Das Buch gehörte zu meinen Lieblingsbüchern. In den langen Sommerferien bei meinen Grosseltern im Oberaargau war ich oft tagelang als rote Zora mit Branko, Pavle und Nicolas, meiner imaginären Bande, unterwegs. Es gab noch ein viertes Bandenmitglied, das ich nie so richtig mochte. Seinen Namen habe ich vergessen.

Ich überlege nicht lange und kaufe im Internet Karten für die Theatervorstellung. Für Gross und Klein soll sie sein, mit Musik, Gesang und berndeutschen Texten. Nur kurz taucht im Hinterkopf der Gedanke auf, dass es vielleicht nicht der allergünstigste Moment für einen solchen Anlass ist. Glücklicherweise habe ich eine pragmatische Schwiegertochter: Ansteckungen in der Schule seien zurzeit wohl wahrscheinlicher als in einem schlecht geheizten Zirkuszelt. Und so machen wir uns auf den Weg, die Kleine voller Vorfreude, ich leicht nostalgisch wegen meiner Kindheitserinnerungen.

Es dauert seine Zeit, bis wir unseren Platz auf der hintersten Bankreihe gefunden haben. Die Eintrittskontrolle ist streng. Für die Erwachsenen gilt 2G plus Maske: Zertifikat und Personalausweis werden geprüft, danach bekommt man einen entsprechenden Bändel ums Handgelenk geklebt. Mogeln kann niemand. Längst bevor die Vorstellung beginnt, ist die Kleine bereits verzaubert von den farbigen Häuserkulissen, dem Teich voller Muscheln in der Manege, den aufgestellten Palmen und den Schatten und leisen Stimmen hinter den Bühnenwänden. Dann erlöschen die Lichter. Der Scheinwerfer richtet sich auf Branko. Der Junge weint. Seine Mutter ist gestorben und niemand will ihn haben.

Für die nächsten anderthalb Stunden werden wir in eine andere Welt versetzt – nach Senj, einem kroatischen Dorf am adriatischen Meer. Dir rote Zora, verwegen und mutig, nimmt den verwaisten Branko in ihre Jugendbande der Uskoken auf. Die Kinder stehlen, um zu überleben, während die Dorfbewohnerinnen und Stadtväter versuchen, sie hinter Schloss und Riegel zu bringen. Nur Gorian, der Fischer, hat für die heimatlose Bande Verständnis und zeigt ihr einen möglichen Weg aus dem Teufelskreis von Diebstahl und Ablehnung. Die Kleine neben mir lebt mit, lacht glockenhell, schüttelt den Kopf, runzelt die Stirn, hält der roten Zora die Daumen hoch und rückt näher zu mir.

1941 hatte der deutsch-schweizerische Schriftsteller Kurt Held die Geschichte geschrieben. Ich staune, wie aktuell sie auch nach achtzig Jahren immer noch ist. Sie handelt von Ausgrenzung und Hartherzigkeit, von Vorurteilen und Geringschätzung. Und von Menschen, die sich überzeugt dagegenstellen.


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Beitrag vom 10.01.2022

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