Magisches Marionettentheater
Mit Jim Knopf flimmerte 1961 zum ersten Mal die Augsburger Puppenkiste über die deutschen Fernsehschirme. Autor Thomas Hettche erzählt im Roman «Herzfaden» ihre Geschichte. Sie beginnt im Zweiten Weltkrieg.
Von Usch Vollenwyder
Nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste findet ein zwölfjähriges Mädchen im Foyer des Theaters eine verborgene Tür. Es schlüpft hindurch und steigt die mit Staub bedeckte Wendeltreppe hoch. Auf dem Estrich findet es sich in einer anderen Welt: Durch ein Dachfenster fällt das Mondlicht und wirft einen hellen Kreis auf den Boden. An hohen Gestellen hängen unzählige Marionetten nebeneinander. Ganz leicht hängen sie an ihren Fäden, denn als das Mädchen an ihnen vorübergeht, beginnen ihre Holzkreuze aneinander zu reiben und leise zu klappern.
Das Mädchen hört trippelnde Schritte näher kommen. Im Dunkel taucht eine kleine, zierliche Gestalt auf. Sie hat schwarze Zöpfe und trägt ein gelbes Gewand. Mitten auf dem Mondlichtteppich bleibt sie stehen: Es ist Prinzessin Li Si aus der Geschichte von Jim Knopf, die ihm mit ihrem hölzernen Kopf zunickt. «Dem Mädchen fiel ein Stein vom Herzen. Schnell lief es zu der Prinzessin hinüber, an die es seit Jahren nicht mehr gedacht hatte und die ihm als Kind so lieb gewesen war.»
Immer mehr Marionetten befreien sich von ihren Fäden, steigen herunter von den Gestellen und drängen sich in den Lichtkreis auf dem Estrichboden: Der Gestiefelte Kater und Aladin, Zwerg Nase und Frau Holle, Jim Knopf, Frau Waas und der Scheinriese Turtur, Lukas und die Lokomotive Emma, Räuber Hotzenplotz und Polizist Alois Dimpfelmoser, Kater Mikesch, Professor Habakuk Tibatong und der Kleine Prinz mit dem Füchslein. Es gibt ein Geschiebe und Geschubse, die Figuren scharen sich um das Mädchen, und erst da realisiert es, dass es auf die Grösse der Marionetten geschrumpft ist.
Hannelore – Hatü
Schliesslich tritt eine Frau ins Licht, in einem altmodischen Kleid aus crèmeweisser, glänzender Seide. Wer sie sei, fragt das Mädchen leise. Die Frau lächelt ihm zu und gibt zur Antwort: «Ich bin Hatü. Das klingt lustig, nicht wahr? Meine Schwester hat das erfunden. Eigentlich heisse ich Hannelore, aber das konnte sie als Kind nicht aussprechen.» Hatü erzählt dem Mädchen ihre Geschichte – die Geschichte der Augsburger Puppenkiste.
Hannelore Oehmichen (1931–2003) war Mitbegründerin und spätere Besitzerin der Augsburger Puppenkiste. Sie ist die Künstlerin, welche die «Stars an Fäden» entworfen und geschnitzt hat. Der deutsche Autor Thomas Hettche erzählt im Roman «Herzfaden» von ihren Anfängen im Jahr 1939, als die Familie Oehmichen überstürzt ihre Ferien im Allgäu abbrechen und nach Augsburg zurückfahren muss. «Am Perlachturm und am Rathaus schienen noch mehr Hakenkreuze zu hängen als sonst, dicht an dicht bauschte sich träge der rote Stoff in der Hitze.»
An diesem Abend begreift Hatü, was passiert ist: «… durch die Tränen hindurch sieht sie ihren Vater an, der jetzt in Uniform vor ihr steht, fremd in der grauen Jacke mit den grauen Metallknöpfen und dem silbernen Adler mit dem Hakenkreuz auf der Brust, und unter Tränen mustert sie die grauen Hose und die schwarzen Stiefel, die sie noch nie an ihm gesehen hat, den Stahlhelm auf seinem Kopf, und weiss, es ist Krieg. Jetzt ist Krieg.» Aus der Sicht der neunjährigen Hannelore beschreibt Autor Thomas Hettche, wie das Leben in Augsburg ein anderes wird.
Zerstörung und Wiederaufbau
Nach einem Jahr ist der Vater wieder da, eingestuft als «uk», unabkömmlich. Die Reichstheaterkammer hat ihn, den Schauspieler und Spielleiter am Augsburger Stadttheater, auf die Liste der «Unverzichtbaren» gesetzt. «Führerweisung: Deutschlands modernste Bühne bleibt offen.» In seiner Freizeit schnitzt Walter Oehmichen Marionetten aus Lindenholz, bekannte Figuren wie die Drei Könige oder Hänsel und Gretel. Rose Oehmichen, ebenfalls Schauspielerin, näht aus ihren alten Kleidern die entsprechenden Kostüme.
Hannelore und ihre Schwester Ulla sind verzaubert von den Puppen. Bereits mit dreizehn Jahren beginnt Hannelore selber zu schnitzen. 1943 gründet die Familie ein eigenes kleines Marionettentheater, den «Puppenschrein». In der Bombennacht vom 26. Februar 1944 verbrennt er zu Schutt und Asche. Doch die Familie gibt nicht auf. 1948 wird das Marionettentheater unter dem Namen «Augsburger Puppenkiste» wieder eröffnet und spielt sich in die Herzen der kleinen und grossen Zuschauerinnen und Zuschauer.
Der Roman «Herzfaden» des 56-jährigen Schriftstellers Thomas Hettche endet zehn Jahre später mit einem Besuch der inzwischen verheirateten und schwangeren Hannelore Marschall-Oehmichen bei Michael Ende, dem Schöpfer von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer. Mit Jim Knopf erscheint die Augsburger Puppenkiste 1961 zum ersten Mal im Fernsehen. Es ist der Anfang einer Sendung, die Generationen von Kindern berühren sollte.
- Thomas Hettche: «Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste», Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 280 S., ca. CHF 33.90, https://www.kiwi-verlag.de
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