Distanz und Einsamkeit sind während der Corona-Krise für viele ältere Menschen besonders schmerzliche Erfahrungen. Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello zeigt, welche inneren und äusseren Kraftreserven in dieser Zeit mobilisiert werden können.
Interview: Usch Vollenwyder
Die geltenden Einschränkungen werden zwar langsam gelockert, alle Menschen über 65 gehören offiziell aber immer noch zur Risikogruppe. Wie ist diese Situation auf längere Sicht auszuhalten? Diese Situation ist für uns alle auf die Dauer belastend. Allerdings haben die jüngeren Seniorinnen und Senioren, die digital unterwegs sind, mehr Möglichkeiten, mit anderen Menschen in Verbindung zu bleiben und sich umfassend zu informieren. Im Netz gibt es zudem viele attraktive Angebote, die helfen, in diesen Wochen besser über die Runden zu kommen. Aber auch Persönlichkeitsmerkmale spielen im Umgang mit der Krise eine Rolle: Ängstliche und in sich gekehrte Menschen haben es schwerer; extrovertierte und positiv denkende Personen kommen besser mit der aktuellen Situation zurecht. Schliesslich ist auch die Einbettung in ein gutes Umfeld wichtig: Wer allein und sozial isoliert ist, hat es in dieser Zeit besonders schwer.
Welches sind die Folgen? Erfahrungen auch aus der chinesischen Stadt Wuhan zeigen: Menschen, die isoliert sind und kaum noch Kontakt zur Aussenwelt haben, kommen bald einmal an ihre psychischen Grenzen. Belastungsstörungen nehmen zu, die Suchtgefahr wird grösser, die eigene Person wird vernachlässigt. Soziale Isolation fördert Einsamkeit, Angst und Perspektivenlosigkeit.
Das betrifft vielfach hochaltrige Menschen … … und ausgerechnet sie haben häufig keinen Zugang zur digitalen Welt. Zudem gehören sie aufgrund ihres Alters zur verletzlichen und gefährdeten Risikogruppe und brauchen besonderen Schutz. Können sie den vielen gut gemeinten Rat schlägen von allen Seiten – mehr Bewegung, geistige Aktivität, soziale Kontakte – nicht nachkommen, erfahren sie ihre Grenzen noch deutlicher. Das ist oft zusätzlich bitter und ein Zeichen, dass Hilfe dringend nötig ist und auch eingeholt werden sollte.
Was kann helfen, diese Krise gut durchzustehen? Schwierige Zeiten haben das Potenzial, die innere Widerstandsfähigkeit zu wecken. Alte Menschen haben schon viele schwierige Situationen gemeistert und haben eine grosse Lebenserfahrung, auf die sie vertrauen können. Zusätzlich gibt es viele konkrete Tipps, die im Alltag helfen. Dazu ein paar Stichworte: sich gut informieren, ohne der Panik zu verfallen. Statt ständig vor dem Fernseher die unzähligen Corona-Sendungen verfolgen einfach abschalten und etwas anderes machen. Zum Beispiel telefonieren und auch ohne Scheu alte Kontakte von früher wieder aktivieren. Sich am Telefon mit anderen über seine Gefühle, Ängste und Sorgen austauschen – und zusammen Strategien entwickeln, wie man damit umgehen könnte.
Wie lassen sich Fitness für Körper und Geist trainieren? In den eigenen vier Wänden ist es schwieriger, körperlich aktiv zu bleiben. Dabei wissen wir sehr genau, wie schnell im Alter die Kräfte nachlassen. Also muss man sich selber etwas einfallen lassen. Neben den Gymnastikübungen im Internet und am Fernsehen kann man auch zehnmal am Tag in den Keller steigen, mit gefüllten Petflaschen die Muskeln trainieren oder auch für sich selber tanzen. Und wer hat, sollte das Theraband oder den Stepper wieder hervorholen. Auch die geistige Fitness muss gepflegt werden. Wer im Internet surft, kommt schnell zu entsprechenden Möglichkeiten. Auf den Webseiten der Seniorenuniversitäten zum Beispiel finden sich viele Angebote. Für alle anderen gilt: Am Fernsehen Dokumentarsendungen schauen, Zeitschriften und Bücher lesen, Kreuzworträtsel und Sudoku lösen, Patience legen … Was man macht, spielt keine Rolle. Hauptsache, man tut etwas.
Braucht es in diesen Zeiten besondere Strukturen? Es ist wichtig, dass man nicht den ganzen Tag im Morgenrock oder im Trainer bleibt. Dass man aufsteht, sich zurechtmacht, ein Frühstück zubereitet. Dass man sich überlegt, was man mit dem ganzen Tag anfangen soll: Vielleicht Dinge erledigen, die man schon lange auf der Liste hat? Entrümpeln, Fotos sortieren, die Steuererklärung machen? Auch sich verwöhnen sollte auf dem Programm stehen – zum Beispiel mit einem Wellnesstag zu Hause, wenn man schon nicht zur Coiffeuse gehen kann. Viele entdecken das Briefeschreiben neu oder führen ein Corona-Tagebuch, für sich selber oder dereinst für die Enkel. Positives Denken, Geduld und Hoffnung können den schwierigen Alltag zusätzlich leichter machen.
Welche weiteren persönlichen Eigenschaften helfen, gut durch diese Zeit zu kommen? In der Positiven Psychologie redet man von Charakterstärken. Zu ihnen gehören Dankbarkeit, Hoffnung, Gelassenheit, Neugier, Humor, Nachsicht, Weitsicht, einen langen Atem … Solche Charakterstärken sind uns selten in die Wiege gelegt; man muss sie stärken und trainieren. Zum Beispiel Dankbarkeit: Wir sind dankbar, dass es uns nicht noch schlimmer geht, dass wir Hilfen von Pro Senectute haben, dass immer noch die Spitex kommt. Es gibt so vieles, für das wir dankbar sein können! Wir können Dankbarkeit üben, etwa indem wir jeden Tag mindestens zwanzig Mal für etwas danken.
Sie sind Fachfrau für Lebensübergänge. Wie ordnen Sie die jetzige Situation im Lebensverlauf ein? Es ist ein kritisches Lebensereignis, durch das wir jetzt alle, als Kollektiv, durchgehen müssen. Wir lernen unsere Grenzen kennen. Der mittelalterliche Mystiker Johannes Tauler spricht von der «Gnade des Nullpunkts»: Wenn man ganz unten angekommen ist, nicht mehr weiterweiss und sich verloren glaubt, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man geht unter oder wird aktiv. Der Nullpunkt zwingt zu einer Neuorientierung und ermöglicht persönliches Wachstum. Vielleicht ist mit der Corona-Krise ein solcher Moment gekommen: Wir lernen, neue Wege zu gehen.
Das würde bedeuten, dass wir daraus auch etwas lernen würden. Was könnte das sein? Ich hoffe sehr, dass uns diese Krise als Familien und als Generationen näherbringt. Manche Medien beschwören wieder einmal einen Generationenkrieg herauf. Ich sehe im Alltag jedoch viele Formen von Solidarität; nicht nur innerhalb von Familien, sondern auch von jungen Berufsleuten und vielen Studierenden. Diese schwierige Zeit zeigt, wie sehr wir voneinander abhängig sind und einander brauchen. Zudem wird unser Glaube an Machbarkeit und Kontrolle relativiert. Daraus könnten wir lernen, dankbarer und demütiger zu werden. Warum müssen wir um die Welt jetten? Im Winter Erdbeeren und im Sommer Orangen essen können? Diese Krise hat das Potenzial, uns Genügsamkeit zu lehren – wenn auch vielleicht nur kurz- oder mittelfristig. Aber ich bin zuversichtlich! ❋
Pasqualina Perrig-Chiello
ist em. Prof. Dr. phil., Psychologin und Generationenforscherin. Das Fachgebiet der 67-Jährigen ist die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, insbesondere der biografischen Übergänge. Ein Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit dreht sich um Bewältigungsstrategien während kritischer Lebensereignisse. Seit ihrer Emeritierung amtet sie als Präsidentin der Seniorenuniversität Bern. Pasqualina Perrig-Chiello ist verheiratet und wohnt in Basel. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen und seit kurzem Grossmutter eines Enkels.
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