Rosmarie Meier ist Soziologin und ehemalige Leiterin des Städtischen Alterszentrums Bürgerasyl-Pfrundhaus in Zürich. Sie plädiert für eine Gesellschaft, in der alle Bevölkerungsgruppen ihren Platz haben.
Gibt es eine Gemeinsamkeit, die hundertjährige Menschen auszeichnet?
Im Gegenteil – die Unterschiede werden mit zunehmendem Alter eher grösser. Die Bandbreite reicht von sehr pflegebedürftigen, demenzkranken Menschen bis hin zu solchen, denen man ihr hohes Alter weder körperlich noch geistig anmerkt. Auch ihre Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich: Die einen nehmen gern an verschiedensten Aktivitäten teil, andere suchen Rückzugsmöglichkeiten. Einmal sagte mir eine sehr alte Bewohnerin, sie benötige einfach viel Zeit zum Nachdenken über ihr langes Leben. Was vielen alten Menschen gemeinsam ist: Sie werden zunehmend verletzlich, verfügen aber auch oft über wachsende emotionale und geistige Ressourcen. Ich erlebte bei vielen hochaltrigen Menschen eine grosse Zufriedenheit und Heiterkeit – trotz zunehmender Gebresten.
Wie erklären Sie sich das?
Die altersbedingten Einschränkungen entwickeln sich langsam. Man gewöhnt sich daran, dass die Kraft nachlässt, dass man langsamer wird, die Sinne nachlassen und der Radius kleiner wird. Ich habe oft eine erstaunliche psychische Widerstandskraft beobachtet. Viele alte Menschen entwickeln die Gabe, sich an kleinen Dingen zu freuen: an einer Blume, an Musik, an Beziehungen … Sie schauen oft auch dankbar auf ihr langes Leben zurück und realisieren, wie reich es war und wie viel sie geleistet haben. Sie mussten schmerzlich lernen, mit Verlusten und Abschied umzugehen. Das hilft vielleicht, Einschränkungen besser zu akzeptieren.
Was können junge von alten Menschen lernen?
Alte Menschen lehren uns den Umgang mit Grenzen, mit Verlusten und Rückschlägen. Durch sie lernen wir den Wert der Langsamkeit kennen. Wer sich darauf einlässt, merkt, wie wohltuend diese Langsamkeit ist. Sie können uns aber auch im sorgfältigen Umgang mit Ressourcen ein Beispiel sein: Wie oft habe ich im Pfrundhaus gehört, ich solle das Licht löschen! Schliesslich lehren sie uns Achtsamkeit, gerade weil sie die kleinen Dinge des Alltags schätzen.
Am anderen Ende dieser Bandbreite stehen die vielen Demenzkranken. Schafft unsere Gesellschaft den Umgang mit ihnen?
Auf jeden Fall. Sie muss es schaffen. Bereits in der Bundesverfassung steht, dass jeder Mensch das Recht auf geistige und körperliche Unversehrtheit hat. In einer so weit entwickelten Zivilgesellschaft wie in der Schweiz ist es selbstverständlich, dass wir für alle Bevölkerungsgruppen gut sorgen – besonders jedoch für diejenigen, die unsere Hilfe und Unterstützung nötig haben: Kranke jeden Alters, Kinder, fragile alte und sehr alte Menschen.
Woher das Geld nehmen?
Es ist eine Frage des politischen Willens, wie und wo das doch reichlich vorhandene Geld in unserem Land umverteilt und eingesetzt wird. Alten Menschen gebühren jedenfalls Wertschätzung und Respekt. Es ist ein Skandal, wenn man von Altersschwemme oder Alterstsunami spricht und ältere Menschen nur noch als Kostenfaktor betrachtet. Es ist mir wichtig, hervorzuheben: Die Altersgruppe der über 65-Jährigen ist nicht grösser als diejenige der unter Zwanzigjährigen; sie liegt bei je etwa zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung. Es stimmt, die Zahl der alten Menschen und damit auch der Hundertjährigen wird wegen der Babyboomer noch zunehmen; danach wird sie wieder zurückgehen. Und ob die Lebenserwartung tatsächlich weiter ansteigen wird, wissen wir nicht.
Und doch redet man immer davon, dass die Alten auf Kosten der Jungen leben.
Und vergisst, was die ältere Bevölkerung für die jüngere tut und schon immer getan hat: Sie ist in der Freiwilligenarbeit tätig, engagiert sich als Grosseltern, betreut kranke Familienmitglieder, vererbt Geld weiter …
Alles in allem fliessen Milliarden von Alt zu Jung! Deshalb ist es richtig und wichtig, dass alle Altersgruppen gut in unserer Gesellschaft integriert sind und ihnen bis zuletzt Teilhabe ermöglicht wird. Dazu gehören für alte Menschen der Zugang zum öffentlichen Raum, eine barrierefreie Umgebung oder auch generationenübergreifende Wohnformen. Wir brauchen eine Kultur des humanen Alters und Alterns! ❋
Rosmarie Meier (64) unterrichtete als Dozentin für Soziologie in den Fachgebieten Sozialarbeit und Pflege und leitete im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes von 1996 bis 2003 das Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe in Aarau. 2003 begann sie im deutschen Erlangen ihr Gerontologiestudium und übernahm 2006 das Städtische Alterszentrum Bürgerasyl-Pfrundhaus in Zürich. Seit Juni 2019 ist Rosmarie Meier pensioniert. Die studierte Soziologin wohnt in Zürich.