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Augenblick, verweile doch! 17. November 2025

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von alten Fotos und langen Herbstabenden.

Zahlreiche Jahrbücher reihen sich in meinem Gestell aneinander. In bunten Ordnern erzählen Fotos, Postkarten, Todes- und Geburtsanzeigen, Eintrittskarten, Zeitungsartikel oder Ferien-Prospekte, was mir das Jahr über wichtig war. 2010 endet die Reihe. Die Unterlagen versanken in Kartonschachteln, versehen mit der entsprechenden Jahreszahl. Wahrscheinlich dachte ich damals, nach meiner Pensionierung hätte ich mehr als genug Zeit, die Reihe fortzusetzen. Nun bin ich schon vier Jahre pensioniert, und kein einziges Foto habe ich in dieser Zeit in ein Album geklebt. Jetzt endlich hole ich die Schachteln aus der Versenkung. Die langen Herbstabende laden dazu ein, die gesammelten Erinnerungen in weiteren Jahrbüchern festzuhalten.

Ich blättere durch einen Stapel Fotos. Der vierzigste Geburtstag meiner Redaktionsfreundin. Es gab «Feines vom Blech» in einem Zürcher Restaurant und vorher konnte, wer wollte, an einem Line-Dance-Workshop teilnehmen. Ein Bild von mir beim Interview mit Stefan Gubser. Ich erinnere mich an den hellblauen Pullover und den dunkelblauen Schal, die ich damals trug. Und wie sehr ich den Schweizer Tatort-Kommissar Reto Flückiger mochte. Mein Mann zuoberst auf dem Kirschbaum, wie er sich auch noch nach den äussersten roten Früchtchen ausstreckt. Heute würde er das niemals mehr wagen. Bilder von meiner schwarzweissen Lieblingskatze. Ferien auf dem norddeutschen Darss: Ich weiss noch, welche Ehrfurcht ich beim Anblick der tanzenden und balzenden Kraniche empfand. Das Ultraschallbild, das mir mein Sohn von meinem zukünftigen Enkelkind schenkte, und die grenzenlose Liebe, die mich in diesem Moment überflutete.

Schliesslich die vielen Fotos von der Kleinen, wie sie fragend, zweifelnd und staunend in die Welt schaut. Auf dem Rücken ihres Papas, der sie auf Bergtouren mitschleppte. Auf den Knien ihrer stolzen Urgrossmutter, meiner Mama. Eine ihrer frühen Zeichnungen zeigt eine Raupe, die sich in einen Schmetterling verwandelt. Die ersten Briefchen, die schliesslich immer komplizierter werden: «Grosäte koch Fischschtäbchen + Spinat + Pomes.» Ein unbeschwertes Selfie – sie und ich im Zürcher Zoo.

Eine Welle von Sehnsucht und Wehmut überrollt mich. Wie schnell vergingen die Jahre! Habe ich die Zeit damals genug ausgekostet? Nie mehr werde ich mit der Kleinen so herzhaft schmusen können wie früher, meiner Mama über ihr weisses Haar streichen, mein Gesicht im Fell meiner Lieblingskatze vergraben oder meinem Mann zuschauen, wie er scheinbar mühelos in den Obstbäumen herumturnt. Wie gern hätte ich diese Glücksmomente für alle Ewigkeiten festgehalten! Oft kam mir dann Goethes Faust in den Sinn, der zum Augenblick sagt: «Verweile doch! Du bist so schön!» Doch auch Faust hat dieser fromme Wunsch nichts genützt, obwohl er sein Leben dafür hingegeben hätte: Gegen die Vergänglichkeit gibt es kein Rezept.

Jetzt freue ich mich, die liegengelassenen Jahrbücher fertigzustellen. Ich werde dabei in Erinnerungen schwelgen und hoffen, dass auch in Zukunft Begegnungen und Erlebnisse auf mich warten, die ich von ganzem Herzen geniessen kann. Im Wissen, dass sie sich nicht festhalten, sondern nur im kostbaren Augenblick leben lassen.


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Beitrag vom 17.11.2025
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
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