
Generationen-Zugehörigkeit 20. Oktober 2025
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Begegnung mit alten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.
Über fünfzig Freundinnen und Weggefährten, Familienmitglieder und Nachbarinnen hat meine Schwägerin zu ihrem siebzigsten Geburtstag eingeladen. Sie und ich sind im gleichen Ort aufgewachsen. Während ich schon bald einmal von zu Hause fortzog, blieb sie mit ihrer Gemeinde und unserer ehemaligen Heimatpfarrei verbunden. Und so treffe ich an diesem Fest auf Menschen, die ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben. Aus den vertrauten Mädchen und Jungen von damals sind alte Frauen und Männer geworden. Einige Namen sind mir noch in vager Erinnerung, andere habe ich völlig vergessen. Und doch: Es ist, als wären die mehr als fünfzig Jahre zwischen damals und heute aufgehoben.
Wir verlieren uns in Erinnerungen: Die Pfingstlager von anno dazumal, als wir Blauringleiterinnen und Jungwachtleiter samt Präses – das war der für uns Jugendliche zuständige Geistliche – das Zelt teilten. Die endlosen Diskussionen über die Kirche, die uns zwar beheimatete, aber mit der wir immer weniger anfangen konnten. Die langweiligen bischöflichen Hirtenbriefe in so manchen Sonntagsgottesdiensten. Das schreckliche Tremolo der Solo-Sopranistin im Kirchenchor. Die Rebellion gegen die Eltern und die absolute Gewissheit, dass wir selber alles besser machen würden. Wir tauschen uns über Eckdaten in unserem Leben aus: über Beruf, Hochzeit, Kinder, Enkelkinder…
Ich mag junge Menschen sehr. Ich freue mich über den regen Austausch mit Sohn und Tochter und die spannenden Diskussionen mit Neffen und Nichten. Ich geniesse es, wenn mein Göttibub mit seiner ganzen Familie zu Besuch kommt, oder wenn die Tochter unserer deutschen Freunde – inzwischen mit ihrem kleinen Mädchen – gleich ein paar Ferientage bei uns verbringt. Mit jungen Leuten herrscht eine andere Stimmung in unserem alternden Haushalt: farbiger, leichter, zukunftsgerichtet. Mit Zeitgenossinnen und langjährigen Weggefährten hingegen bin ich zutiefst vertraut: Wir wurden vom gleichen Zeitgeist geprägt.
Die Lehrer und der Pfarrer hatten immer Recht. Am Mittagstisch bekam der Vater das grösste Stück Fleisch. Das Zeitzeichen und die anschliessenden Nachrichten um halb eins waren heilig. In den Skilagern tanzten wir Twist unter einem möglichst tief gehaltenen Besenstiel hindurch. Später kam die erste Beatles-Platte auf den Markt, und die «Langhaarigen» erschreckten das biedere Kleinbürgertum. Wie die meisten meiner Seminar-Kolleginnen musste ich vor den Eltern verheimlichen, dass ich die Pille nahm. Ich bezahlte sie mit meinem spärlichen Sackgeld. Die Hälfte wurde von meinem damaligen Freund gesponsert. Gleichzeitig kursierte der Spruch «Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Velo».
Mit meinen Zeitgenossinnen teile ich Erfahrungen über Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung, wie sie damals üblich waren: jedenfalls ganz anders als heute. Bei niemandem war die Mutter die beste Freundin. Man war Staatsfeind und Armeegegnerin, ging an Demos und hatte Angst vor der Atombombe. In den letzten Jahren lösten neue Themen die alten ab: Pensionierung, Wohnsituation, chronische Krankheiten, der Verlust eines lieben Menschen…
Für junge Menschen sind meine Erfahrungen Geschichten aus einer anderen Welt. Meine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hingegen wissen, wovon ich spreche. Am siebzigsten Geburtstag meiner Schwägerin realisierte ich einmal mehr: Ich geniesse dieses Gefühl von Generationen-Zugehörigkeit.


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