Raus aus dem Alltag, um Neues auszuprobieren. Dieses Mal: Annegret Honegger erlebt am «Silent Reading Rave» Lesen als Miteinander.
Text: Annegret Honegger
Stapeln sich auf Ihrem Nachttisch auch Bücher, die Sie schon lange lesen möchten, aber einfach nie dazu kommen? Dann geht es Ihnen wie mir – und wie den immer mehr Menschen, die einen «Silent Reading Rave» besuchen.
Silent Reading Rave? Die Veranstalter erklären die Idee so: Silent weil still, reading weil lesen, rave weil kurz und knackig. Das bedeutet: Man trifft sich und liest zwei Stunden gemeinsam, aber im eigenen Buch. Hype oder Hilfe für Lesende in Zeitnot? Das will ich an einem sonnigen Samstagmorgen im Zürcher Zollhaus herausfinden.
An den Tischen im Kulturraum sitzen bereits viele junge Leute. Vor sich einen Latte macchiato, ein Buch oder gleich mehrere, einen E-Reader oder einen Stapel Magazine. Nach einer kurzen Begrüssung verstummt das Gemurmel und alle beugen sich über ihre Lektüre.
Normalerweise lese ich auf meinem Sofa oder abends im Bett. Deshalb fällt es mir anfangs schwer, auszublenden, dass mich hier andere Lesende umgeben. Doch schon bald überträgt sich die konzentrierte Stille auch auf mich. Zu wissen, dass ich die nächsten zwei Stunden nichts muss ausser lesen und dass alle anderen dasselbe tun, beruhigt. Ich schiebe die samstägliche Hektik und meine To-do-Liste beiseite und vertiefe mich in meinen Roman.
Erst mein schmerzender Nacken lässt mich wieder auftauchen. Erstaunlich: Bereits ist über eine Stunde vergangen. Verstohlen blicke ich mich um und in lauter entspannte Gesichter. Sind das die jungen Leute, die angeblich kaum mehr lesen? Obwohl wir einander nicht kennen und ich weitaus die Älteste bin im Raum, spüre ich eine Nähe und Verbundenheit in dieser lesenden Gemeinschaft auf Zeit. Dank der Welt der Wörter, die uns alle umfängt.
Nach zwei Stunden verstehe ich, wieso diese Raves so beliebt sind. Sie wirken wie eine Art Auszeit, ein Entschleunigen, Herunterfahren und Durchatmen. Nur widerstrebend trete ich wieder hinaus auf die Strasse. Das Gewusel der Stadt wirkt laut und grell, wie nach einem Waldspaziergang oder erholsamen Ferien in den Bergen. Ein Silent Reading Rave, das weiss ich nun, ist keine lärmende Party, sondern ein wohltuendes Loslassen und Versinken in der Stille. Zum Glück türmen sich auf meinem Nachttisch noch genug Bücher für weitere Kapitel.
Inspiriert von Silent-Reading-Partys in den USA organisiert der Verein Silent Reading Rave
seit 2019 gemeinsames Lesen in Cafés, Museen, Parks oder Buchhandlungen in der Deutschschweiz. Hingehen und mitlesen, kostenlos und ohne Anmeldung: Infos auf www.silentreadingrave.com oder Instagram.