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Pubertäts-Workshop 7. April 2025

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von der Königin, Fritz und Lobra und von Maria Goretti.

Zwischen den beiden Schatzkästchen und dem Wellnessbereich gebe es eben kein WLAN, sagt die grosse Kleine beim Nachtessen. Deshalb könnten die Spermien auch nicht wissen, wo das Ei zu finden sei. Eigentlich habe sie gut gewürfelt, dann jedoch Lobra in die falsche Richtung geschickt. «Und schon war das Rennen verloren.» Gewonnen habe Fritz, das Spermium ihrer Banknachbarin Lena. «Fritz hat halt die richtige Abzweigung erwischt.» Die grosse Kleine erzählt vom Pubertäts-Workshop in der Schule, in dem alle eine Rolle übernehmen mussten. Sie habe ein Spermium gespielt und ihm den Namen Lobra gegeben. «Ich weiss schon, dass der Name nicht recht passt. So heisst ja mein Lieblingshuhn.»

Wir sitzen mit der jungen Familie um den Tisch, löffeln aus einer dampfenden Tajine – mein Mann hat für alle ein köstliches marokkanisches Couscous gekocht – und lachen Tränen ob der Beschreibung. Die grosse Kleine lacht mit und versucht, uns mit anderen Worten aufzuklären. «Ach Goog», seufzt sie schliesslich, als ich mich immer noch begriffsstutzig anstelle. Sie holt ein Blatt Papier und einen Bleistift und beginnt zu zeichnen. «Also, das ist der Wellnessbereich, ich sage ihm normalerweise Gebärmutter», sagt sie und malt Liegestuhl, Sonnenschirm, Palmen und ein kleines Hotel hinein. Die Frühlingsbotinnen würden jeden Monat alles wieder neu parat machen für den grossen Gast. Der grosse Gast entpuppt sich als die Eizelle, die nach dem Follikelsprung in den Eileiter aufgenommen wird und später befruchtet werden kann. Doch mit so nüchternen Begriffen wird im Pubertäts-Workshop nicht gearbeitet.

In Windeseile zeichnet die grosse Kleine den Monatszyklus auf: Die Zauberfee, die in einem der Schatzkästchen – profan Eierstock – mit ihrem Zauberstab das schönste Ei zur Königin macht. Diesem setzt sie eine Krone auf und schickt es auf die wundersame Reise Richtung Wellnessbereich, wo dank der Frühlingsbotinnen alles schön hergerichtet und vorbereitet ist. Dort würde die Königin bleiben, falls sie unterwegs Fritz oder Lobra getroffen habe. Da es zwischen ihnen jedoch kein WLAN gebe, entscheide der Zufall, mit wem sie zusammenkomme. «Fritz hatte an der Spitze einen Druckknopf, damit konnte er sich als erster mit ihr verbinden.». In der Schule sei das alles aber nicht gezeichnet, sondern am Boden auf einer grossen, flauschigen Decke ausgelegt worden. 

Ich versuche, mich an den Aufklärungsunterricht – so hiess das zu meiner Zeit – zu erinnern. Ich weiss schlicht nichts mehr. Bestimmt wurde nicht am Familientisch darüber gesprochen. Ich erinnere mich auch nicht an ein klärendes Gespräch zwischen Mutter und Tochter, das wäre wohl beiden peinlich gewesen. Ich war ohnehin eine Spätzünderin: Dass mein Grossvater mit Vrene, Fürstin oder Berna zum Muni musste, mein «Moudi» Peter im Frühling jämmerlich durchs Quartier miaute oder der Hahn im Hühnerhof meiner Grosseltern ständig die Hennen piesackte, brachte ich nie in Verbindung mit den Kälbchen, Kätzchen oder Küken, die später geboren wurden. 

Zum ersten Mal richtig ernst wurde es, als unser alter Pfarrer im Religionsunterricht als Beispiel zum sechsten Gebot «Du sollst nicht Unkeuschheit treiben» die Geschichte von Maria Goretti erzählte. Vierzehnmal stach der reiche Sohn des Pächters mit einer Ahle auf das Mädchen ein, weil er nicht bekam, was er wollte. Der Pfarrer erzählte ausführlich und in blumigen Worten, aber das Wichtigste liess er aus. Ich wusste nicht recht, was der Pächtersohn eigentlich wollte, und konnte nicht verstehen, warum Maria Goretti ihr Leben für ein bisschen Keuschheit opfern sollte. Aber ich ahnte, dass es etwas war, worüber man in meiner Kindheit und Schulzeit nicht sprach. Glücklicherweise kam schon bald die Zeit der Achtundsechziger. Die alten Tabus fielen, und zumindest verbal liess die neue Freizügigkeit keine Wünsche offen. 

Ich hoffe, dass heutige Jugendliche und junge Menschen mit ihrer Sexualität entspannter und lustvoller umgehen können als wir anno dazumal. Für die grosse Kleine war der Pubertäts-Workshop jedenfalls ein Erfolg: «Wir hatten einen lustigen Tag zusammen – endlich einmal ohne die doofen Jungs!» 


  • Hatten Sie früher in der Schule Aufklärungsunterricht? Wurde auch zu Hause darüber gesprochen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 07.04.2025
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

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