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Dünnhäutig 10. März 2025

Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Ferien in Marokko mit Höhen und Tiefen.

Ich komme aus den Ferien bei meiner Tochter zurück, die sich in Marokko eine längere Auszeit nimmt. Ihr niederes, einfaches Steinhaus steht auf einem Grundstück, das zum Schutz vor Wind und Sand von einer Mauer umgeben ist – wie die meisten Häuser auf dem Land. «Heile Welt», habe ich sie jeweils geneckt, wenn wir von einem Ausflug zurückgekehrt sind. Behaglich hat sie sich mit Hund und Katzen eingerichtet. Mit den marokkanischen Möbeln, den orientalischen Decken, Lampen und Laternen wähnte ich mich in einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Ausser dem regelmässigen Ruf des Muezzins war kaum je etwas zu hören. Weit weg von jeder Lichterstadt zog sich des Nachts ein Meer von Sternen über den Himmel. Ich fühlte mich wohl in ihrem Zuhause.

Wohin auch immer mich meine Tochter mitnahm, wurde ich begrüsst und umarmt. «La maman» ist etwas Besonderes. Ich liebte die Warmherzigkeit ihrer einheimischen Kolleginnen und Freunde und genoss es, überall willkommen zu sein: Bei ihrem Obsthändler, in ihrem Lieblingsrestaurant, bei einem Glas Fruchtsaft im «Ocean View» am Strand, bei ihren Schweizer Freundinnen und ihrem marokkanischen Freund. Ich mochte die Landschaft: Diese kargen Weiten mit dornigen Büschen und vom Wind schiefen Bäumchen, die rotbraunen Felder, der Sand, die Berge am Horizont, die schneebedeckten Gipfel des Atlas. Und das aufgewühlte Meer, die Wellen des atlantischen Ozeans, ein Paradies für Surferinnen und Surfer.

Doch während ich früher mit offenen Sinnen, voller Neugier und abenteuerlustig eine neue Weltgegend kennenlernte und jede Begegnung auskosten wollte, ertappte ich mich dabei, wie ich mich immer wieder der Realität zu verschliessen versuchte. Mir machten die vielen Touristinnen und Touristen Mühe, die in knappsten Shorts und Tops durch die Gassen der muslimischen Städte flanieren. Die Golfanlagen in üppigem Grün, während die mageren Ziegen und Schafe am Strassenrand entlang nach spärlichem Futter suchen. Die gebeugten alten Männer auf ihren Eselchen. Die behinderten Jungen, die als Schuhputzer einen Dirham verdienen möchten. Die Äffchen an ihrer Kette, die auf dem zentralen Marktplatz in Marrakech den Touristen vorgeführt werden. Die zahllosen Strassenhunde und Katzen, die so dünn sind, dass sich jede Rippe unter ihrem Fell abzeichnet. Ihre Welpen, die am Strassenrand geboren werden. Die Abfallberge abseits der Touristen-Hochburgen und die bunten Plastiksäcke, die vom Wind weit über die Felder getragen werden.

Ich weiss, dass es das alles gibt. Aber ich muss es nicht mehr sehen. Nicht erst in Marokko realisiere ich, dass ich dünnhäutiger werde. Vieles geht mitten ins Herz. Ich denke an meinen wortkargen Vater und wie seine im Alter blassblau gewordenen Augen immer öfter in Tränen schwammen. «Ich bin mit den Jahren empfindlicher geworden», sagte er einmal. 

Doch ebenso ist es das Schöne, das mich tiefer berührt als früher. Als die untergehende Sonne den Horizont in ein rotgoldenes Lichtspiel verwandelte, der Neumond mit seiner von blossem Auge sichtbaren Sichel den Beginn des Fastenmonats Ramadan verkündete und darüber der Abendstern leuchtete: da spürte ich während eines mystischen Augenblicks meine vergängliche Winzigkeit. Oder wenn ich laut «Allah o Akbar» von Dollar Brand hörte, dem begnadeten südafrikanischen Pianisten und Komponisten, der sich seit seinem Übertritt zum Islam Abdullah Ibrahim nennt: Wenn nach dem Gebetsruf das Klavier und die Band einsetzen, durchfuhr jedes Mal ein Schauer meinen Körper. Wenn eine so schlichte Melodie Menschenherzen zu berühren vermag, kann die Welt nicht nur ein «unheiler» Ort sein. 

Und so versuche ich, meine Dünnhäutigkeit auch als Gewinn zu sehen. Die äussere Welt wird im Alter zwar begrenzt, aber es gibt keine Grenze, die den Aufbruch in die Tiefe stoppt – um dem Geheimnis des Lebens immer noch mehr und noch intensiver auf die Spur zu kommen, bis zuletzt.


  • Haben Sie auch das Gefühl, mit den Jahren empfindlicher zu werden? In welchen Momenten zeigt sich das? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns davon berichten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
  • Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»

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Beitrag vom 10.03.2025
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin
© Jessica Prinz

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