Von der Mündung bis zur Quelle: Seit fast 15 Jahren wandert Liliane Waldner Schweizer Flüssen entlang. Mit, trotz und wegen ihrer Multiplen Sklerose.
Text: Annegret Honegger Bilder: Jessica Prinz
Jeder Schritt zählt. Jeder Meter. Jeder Kilometer, den Liliane Waldner zurücklegt. Fast täglich schnürt sie ihre Schuhe, packt ihre Stöcke und zieht los. Ihr Ziel: möglichst alle Schweizer Flüsse erwandern, von der Mündung oder der Landesgrenze aufwärts bis zur Quelle. 87 hat sie schon abgehakt, bei 37 steht noch «pendent» in ihrem Internet-Logbuch. Längst ist die marschierte Kilometerzahl fünfstellig. Und Liliane Waldner zur «Flussfrau» geworden.
Für sie zählen all diese Schritte, Meter und Kilometer doppelt. Denn mit ihrem Flussprojekt läuft die 73-Jährige auch ihrer Krankheit davon, der Multiplen Sklerose (MS). «Jetzt erst recht», sagte sie sich vor 30 Jahren nach der Diagnose. Damals wurde das Gehen zur Therapie. In ihrer «Glanzzeit», wie sie sie nennt, wanderte sie am Wochenende jeweils 30, 40 Kilometer. Von Zürich nach Luzern etwa, nach Schaffhausen oder nach Beromünster: «Ich lief mich in einen richtigen Rausch.»
Daneben kletterte die Betriebsökonomin die Karriereleiter hoch. Wurde Kantonsrätin, Verwaltungsrätin der Zürcher Kraftwerke, Bankrätin der Kantonalbank. Oft marschierte sie zu Fuss zu den Sitzungen. Im Hosenanzug, mit den Akten im Rucksack.
Doch MS ist eine Krankheit, die ständig fortschreitet – und Liliane Waldner immer wieder einholt. Nach einem schweren Schub gab sie das Auto auf, kaufte sich ein GA – und entdeckte die Flüsse. Unterwegs von Thun Richtung Bern, erzählt sie, spürte sie plötzlich diese Kraft der Aare, die sie packte: «Davon wollte ich mehr erleben.»
So begann sie erst spontan, dann immer systematischer mit ihren Flusswanderungen. Von A wie Aare bis W wie Wyna. Die Flüsse führen sie in die verborgensten Winkel des Landes. In malerische Landschaften wie auch in vergessene Gegenden, deren Schönheit sich erst auf den zweiten Blick erschliesst. Auf www.fluss-frau.ch dokumentiert sie ihre Touren in Wort und Bild.
Brenno, Moesa, Maggia, Verzasca, Melezza – die Flussnamen lässt Liliane Waldner auf der Zunge zergehen wie südländische Köstlichkeiten. Hört man ihr zu, werden die Gewässer lebendig: «Jedes von ihnen erzählt eine Geschichte.» Mit manchen verbindet sie eine grosse Liebe wie mit der Aare, dieser «Powerfrau und Königin der Schweizer Flüsse». Andere sind widerspenstiger wie der «freche Inn», mit dem sie sich nach einem Sturz auf Glatteis erst allmählich versöhnte. Steht sie schliesslich an der Quelle, empfindet sie Freude und Wehmut zugleich: Das Ziel ist erreicht, aber der Abschied schmerzt.
Die Flüsse haben Liliane Waldner nicht nur das Land nähergebracht, sondern auch die Leute. Immer wieder sprechen Menschen sie an, möchten ein Stück mit ihr gehen, schütten ihr das Herz aus. «Dass ich trotz meiner Schwierigkeiten durchhalte, macht vielen Mut.» Oft trifft sie auf ihren Märschen aber auch stundenlang niemanden. Dann spürt sie Gott an ihrer Seite: «Der Glaube gibt mir Kraft.»
Ihr Projekt bestärkt sie auf ihrem Weg: «Seit ich als Flussfrau unterwegs bin, hat diese unsinnige Krankheit einen gewissen Sinn.» Ihrem Ziel ordnet sie viel unter. Rumpfstabilität, Gleichgewicht, Koordination, Kondition, Beweglichkeit, Schnellkraft, Sprungkraft – ihr Trainingsprogramm klingt fast olympisch. Es beginnt frühmorgens mit einer Dehn- und Kräftigungsstunde und endet abends auf dem Hometrainer. In ihrem Wohnblock steigt sie x-mal das Treppenhaus hoch in den neunten Stock. Und in der Physiotherapie arbeitet sie gezielt an ihren Schwachstellen. Bewusst trainiert sie auch, vom Boden aufzustehen. Denn: Sich immer wieder aufzurappeln, wieder auf die Beine zu kommen, im eigentlichen und im übertragenen Sinn, gehört zur MS.
Für Liliane Waldner bedeutet das Wandern Freiheit und Unabhängigkeit: «Solange ich kann, laufe ich.» Auch wenn die Etappen kürzer werden, der Aufwand grösser. Mit 73, weiss sie, läuft sie nicht mehr nur gegen die MS, sondern auch gegen die Zeit. Ihr Gang ist langsam geworden, etwas schleppend, manchmal zieht sie die Füsse nach. Die Krankheit, die sie früher versteckte, ist heute offensichtlich. Liliane Waldner steht längst dazu. Und läuft weiter. Jeder Kilometer zählt. Jeder Meter. Jeder Schritt.
Unterwegs am Wasser
Liliane M. Waldner (* 1951) wächst in Zürich als Tochter einer alleinerziehenden Mutter auf. Ihren Vater, Freiheitskämpfer und kurz Staatspräsident von Uganda, lernt sie erst mit über 30 kennen. Bereits als Kind spürt sie körperliche Symptome, erhält die Diagnose Multiple Sklerose aber erst 1993. Die 73-jährige Betriebsökonomin und SP-Politikerin war in verschiedenen Gremien im Energie- und Finanzbereich tätig und engagiert sich heute für die Reformierte Kirche. Ihre Website informiert übers Flusswandern und gibt Tipps zum Umgang mit Krankheit und Krisen.
Multiple Sklerose (MS) ist eine unheilbare, fortschreitende entzündliche Erkrankung des Nervensystems im Gehirn und im Rückenmark. Sie wirkt sich auf ganz unterschiedliche Körperfunktionen aus wie das Sehen oder Gehen, es kommt zu Schmerzen, Muskelverkrampfungen, Lähmungen und/oder starker Müdigkeit. In der Schweiz leben mehr als 18000 Menschen mit MS, etwa drei Viertel davon Frauen.
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