Ihre erste Hauptrolle – mit 94 Jahren!
June Squibb glänzt in der Komödie «Thelma» mit Schalk und einer spitzen Zunge. Die US-Schauspielerin spielt eine Seniorin, die auf Enkeltrickbetrüger hereingefallen ist – und ihr Geld zurückerobern will. Auf einem Elektroscooter!
Text: Fabian Rottmeier
Sie werten Filme auf, ohne dass sich danach jemand an ihre Namen erinnert: die Schauspielerinnen und Schauspieler in Nebenrollen. June Squibb war eine von ihnen, jahrzehntelang. Bis sie 2013 für ihre Nebenrolle im grossartigen, absurd komischen Film «Nebraska» eine Oscarnominierung erhielt. Seither musste sie nie mehr für eine Rolle vorsprechen.
Elf Jahre später, mit 94 Jahren, erhält die US-Amerikanerin zum ersten Mal in einem Film die Hauptrolle. Dass dabei der verrückte Inhalt der Geschichte auf wahren Tatsachen beruht, scheint nur passend. Squibb spielt in der Komödie «Thelma» die 93-jährige Seniorin Thelma Post, die sich am Telefon von Enkeltrickbetrügern übers Ohr hauen liess. Ihr Enkel sei in einen Unfall verwickelt worden und sei nun im Gefängnis, hatte der Anrufer erklärt, der sich als dessen Anwalt ausgab. Vor lauter Schreck tat Thelma alles, was er verlangte, und verschickte 10’000 Dollar per Postkuvert. Als ihr Enkel sie später über die Masche der Betrüger aufklärt, schämt sie sich.
Ein Zeitungsartikel über Tom Cruise, betitelt mit «Mission: Possible», weckt Thelmas Kampfgeist. Kurzerhand beschliesst sie, die Sache nicht auf sich sitzen zu lassen und das Geld von den Betrügern zurückzufordern. Und zwar mit einer persönlichen Überraschungsvisite. Die Postfachadresse der Gauner hat sie noch.
Und so nimmt das Abenteuer seinen Lauf – auf einem Elektroscooter, den Thelma sich im Altersheim von ihrem Freund Ben ausleiht. Dieser ist so besorgt (nicht zuletzt um seinen Scooter), dass er Thelma begleitet. Mit wärmendem Schaffell auf beiden Sitzen begibt sich das Duo auf eine Reise durch Los Angeles. Im Schritttempo. Ben wird gespielt von Richard Roundtree, bekannt als Detektiv John Shaft in «Shaft» (1971). «Thelma» sollte sein letzter Film sein. Er verstarb kurz nach den Dreharbeiten mit 81 Jahren.
Einmal ohne Filter, bitte
Für die Rolle von Thelma ist June Squibb die perfekte Besetzung. In «Nebraska» hatte sie allen die Show gestohlen als Ehefrau des Hauptdarstellers. Ungefiltert gab sie darin alles von sich, was sie gerade dachte. Ihr dabei zuzuhören, war ein grosser Spass, und mit ihren unverfrorenen Aussagen machte sie selbst vor Verstorbenen an deren Grabsteinen nicht Halt. Ihre direkte Art ist auch in «Thelma» köstlich. Aber diesmal ist ihre Filmfigur liebenswürdiger – zumindest meistens. Denn ohne Knarre will Thelma den Übeltätern lieber nicht begegnen. Ob sie denn überhaupt wisse, wie man eine Pistole bediene, will der besorgte Ben wissen. Thelma winkt ab: «So schwierig kann es nicht sein, Idioten benutzen sie ja andauernd.»
June Squibb, 1929 geboren in Vandalia, Illinois, begann schon in der Schule, Theater zu spielen. Später trat sie 20 Jahre lang in New Yorker Musicals auf. Eine Schlüsselrolle nahm ihr zweiter Ehemann Charles Kataksakis ein: Der Schauspiellehrer ermutigte sie dazu, sich auch für ernste Rollen zu bewerben. Mit 61 Jahren gab sie ihr Filmdebüt – in Woody Allens «Alice». Es folgten Nebenrollen in bekannten Hollywoodfilmen wie Martin Scorseses «Zeit der Unschuld», Martin Brests «Der Duft der Frauen», Frank Oz’ «Rendezvous mit Joe Black» oder «About Schmidt» an der Seite von Jack Nicholson.
Bald folgt die zweite Hauptrolle
Mit weit über 90 Jahren ist sie so gefragt wie nie: Diesen Sommer war sie im Kino im Pixar-Animationsfilm «Inside Out 2» als «Nostalgie» zu hören, eine von zehn Emotionen, die darin als Charakter dargestellt wurden. Bald wird sie in einem Horrorfilm als bluttrinkender Kobold zu sehen sein (eine Rolle, die sie unmöglich habe ausschlagen können, wie sie sagte). Und im Drama «Eleanor The Great» folgt nächstens ihre zweite Hauptrolle. Im Regiedebüt von Schauspielerin Scarlett Johansson freundet sie sich mit einem 19-Jährigen an.
June Squibb bestand in «Thelma» darauf, möglichst viele Szenen auf dem Elektroscooter selbst zu drehen. Alter bedeutet für sie auch, «auf niemanden zu hören, der dir sagt, was du nicht mehr tun kannst oder sollst», wie sie in einem Artikel von «Sky News» anmerkte. Erfreut stelle sie in der Öffentlichkeit ein grösseres Interesse und eine andere Einstellung zum Alter fest. Viele Hauptrollen würden heute an Frauen in den 50ern und 60ern vergeben, das habe es zuvor noch nie gegeben.
«Thelma» ist eine unterhaltsame Komödie mit klugem Dialogwitz. Und man spürt, dass der Film für Regisseur und Drehbuchautor Josh Margolin eine Herzensangelegenheit ist. Denn: Thelma Post ist seine Grossmutter – und die verrückte Handlung tatsächlich passiert. Josh Margolin sagt, dass Sterben für seine mittlerweile 103-jährige Oma nicht in Frage komme. Er realisierte den Film, weil er ihren starken Geist und ihre Hartnäckigkeit ehren wollte. Zugleich sensibilisiert Margolin mit «Thelma» auch für Themen wie Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Zwei Dinge, die hochaltrigen Menschen noch immer häufig abgesprochen werden. Selbst von ihren Familien. Auch davon erzählt Margolins Film – ohne belehrend zu wirken.
«Thelma», USA 2024, 98 Minuten, ab 17. Oktober im Kino