Fernweh? 21. Mai 2024
Die langjährige Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder erzählt alle zwei Wochen aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Altwerden und einem afrikanischen Fächer.
Ich begleite meine Tochter an den Flughafen. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz kehrt sie zurück nach Marokko, wo sie eine längere Auszeit geniesst. Glücklich sieht sie aus, rundum zufrieden. Von Heimweh keine Spur. Ich gebe mir Mühe, sie ohne Abschiedsweh ziehen zu lassen. Ich weiss noch zu gut, wie ich selber vor fünfzig Jahren ausgewandert bin. Zu einer Zeit ohne Handy, ohne Telefonverbindungen und im Wissen, dass ich meine Eltern und Geschwister mindestens zwei Jahre lang nicht mehr sehen würde. Meine Familie begleitete mich damals ebenfalls an den Flughafen. Heute denke ich, dass auch das Herz meiner Mutter schwer gewesen sein muss. Doch sie liess sich nichts anmerken – im Gegenteil: Sie machte mir Mut für das vor mir liegende Afrika-Abenteuer.
In der Bye-bye-Bar trinken meine Tochter und ich noch ein Glas Wein zusammen. Dann ist auch schon Zeit, sich zu verabschieden. Ich sehe sie hinter der Glastür durch den langen Gang Richtung Sicherheitskontrolle verschwinden. Immer wieder dreht sie sich um und winkt und lacht, und ich wünsche ihr alle Schutzengel der Welt als ihre Begleiter. Schliesslich ist sie weg, und ich gehe zurück in den Flughafen-Untergrund Richtung Bahngeleise. Ein letztes Mal schaue ich zur grossen Tafel mit den Destinationen und Abflugzeiten hoch, als mich urplötzlich ein solches Fernweh packt, dass ich gegen die Tränen kämpfen muss. Ich spüre ein Reissen und Ziehen und Sehnen – ein Gefühl, das sich nicht abschütteln lässt.
Während ich im Zug Richtung Bern sitze frage ich mich, was denn eigentlich mit mir los ist. Fernweh? Ich möchte ja nicht das nächste halbe Jahr in Marokko verbringen. Und von all den Zielen auf der Anzeigetafel hätte ich nicht einmal gewusst, welches ich anpeilen möchte. Ich mache nie Hotelferien, keinen Strandurlaub, und nehme auch an keinen organisierten Reisen teil. Trotzdem bin ich immer noch traurig und niedergeschlagen, als ich nach Hause komme. Mein Mann schaut mich verständnislos an. Ich kann ihm nicht einmal erklären, warum ich einen solchen Kloss im Hals habe. Ich weiss ja selber nicht genau, woher er kommt.
Erst am Abend im Bett löst sich er sich. Ich höre das leise Schnarchen meines Mannes aus dem Nebenzimmer, spüre die Katze auf der Bettdecke über meinen Beinen, horche auf das Glockengeläute der weidenden Kühe vor dem Fenster und denke, dass es gut ist, so wie es ist. Und dass ich es ja gar nicht anders haben möchte. Plötzlich wird mir auch klar, warum ich so traurig bin: Ich trauere um all die Chancen, die mir mit ü70 nicht mehr offenstehen. Wo ich in jungen Jahren nur auswählen musste, was ich anpacken wollte, sind meine Möglichkeiten im Alter beschränkt. Das weiss ich mit dem Kopf schon lange. Nur das Herz hat es vielleicht noch nicht ganz begriffen.
Es ist wie der Fächer, den meine Tochter einem afrikanischen Strassenhändler abgekauft und mir aus Marokko mitgebracht hat. Er lässt sich zu einem Rund öffnen, dann sind seine Farben leuchtend gelb, orange, blau und schwarz – wie das Leben, das in jungen Jahren als grosses Versprechen vor einem liegt. Im Alter schliesst sich das Fächerblatt immer mehr, irgendwann ist es ganz geschlossen. Die bunten Farben werden zu Erinnerungen. Das muss mir genügen. Es gibt keinen Grund, mich damit schwer zu tun.
- Zieht es Sie auch immer mal wieder in die Ferne? Wohin würden Sie am liebsten reisen? Wir würden uns freuen, wenn Sie uns Ihre Traumdestination verraten oder die Kolumne teilen würden. Herzlichen Dank im Voraus.
- Hier lesen Sie weitere «Uschs Notizen»
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