Grossmutter und Enkelin: Zwei Frauenleben
Anna Vogel-Tarnutzer, Heimwehbündnerin aus Volketswil ZH, schöpft in schwierigen Zeiten Kraft aus der Erinnerung an ihre selbstbewusste Grossmutter Anna Ambühl-Jegi.
Vielleicht sass meine Grossmutter als junge Frau einst genau auf dieser alten Bank der Rhätischen Bahn, die hier in meiner Wohnung steht. Anfangs des 20. Jahrhunderts besuchte sie die Bündner Frauenschule in Chur und liess sich zur Nähschullehrerin ausbilden. Dass sie einen Beruf erlernte und sich für sich selbst und andere einsetzte, bewunderte ich schon als Mädchen. Mein «Nani» Anna Ambühl-Jegi, Jahrgang 1889, ist mir bis heute ein Vorbild.
Warum sie ihren Beruf nie ausübte, sondern als Magd auf dem Hof eines deutlich älteren Bauern arbeitete, weiss ich nicht. Aber es geschah, was die Frauen verschiedener Generationen meiner Familie erlebten: Die beiden verliebten sich und bald war das erste Kind unterwegs. Erst lange nach dem Tod meiner Grossmutter deckte meine Schwester als Ahnenforscherin auf, was bis dahin ein Familiengeheimnis war: Das erste Baby kam ausgerechnet in der Hochzeitsnacht zur Welt.
Unser Neni war ein lieber Mann, der leider verstarb, bevor ich ihn kennenlernte. Als Witwe zügelte Nani in unser Nachbarhaus nach Grüsch GR zu ihrer Tochter, die an Kinderlähmung litt. Nach deren Tod zog sie ihren Enkel Peter gross, der bereits mit fünf Jahren Vollwaise wurde. Besuche bei ihr fühlten sich für mich wie eine Auszeit an, denn daheim musste ich als Älteste von sechs Mädchen viel mithelfen. So kochte ich schon für die Familie, als ich noch einen Schemel brauchte, um überhaupt in die Pfannen zu schauen. Zeit zum Spielen hatten erst meine jüngsten Geschwister.
Arbeiten von früh bis spät
Als grosse Schwester versuchte ich stets, Streit unter uns Kindern zu schlichten, um unsere Mama zu schonen. Auch meine Eltern arbeiteten von früh bis spät. Der Vater verdiente als Monteur auswärts das Geld und meine Mutter führte mit Hilfe von uns Mädchen unseren Bauernhof. Als Kind wäre es mein grösster Wunsch gewesen, dass die Eltern einmal Zeit für uns gehabt hätten. Aber am freien Sonntag wollte mein Vater neben der Arbeit im Stall seine Ruhe und jasste mit Verwandten. Jassen war mir deshalb so zuwider, dass ich es nie lernte. Jetzt im Alter bedaure ich das.
Im Rückblick denke ich, dass die Arbeit und die vielen Kinder meine Eltern überforderten. Meine Mutter habe ich fast ständig schwanger erlebt, in neun Jahren gebar sie sechs Kinder. Mein Vater regierte die Familie mit harter Hand, die wir alle fürchteten. Er kannte wohl nichts anderes als Strenge aus seiner eigenen Kindheit, als sein Vater nach dem Tod seiner lieben Mutter ebenso harsch herrschte. Seine Liebe konnte er uns nur zeigen, indem er sich zum Ziel setzte, jeder Tochter ein selbstgebautes Häuschen zu hinterlassen.
Es tröstet mich zu wissen, dass sich meine Eltern zu Beginn sehr liebten. Mein Vater pflückte unter Lebensgefahr Edelweiss für seine Liebste und fuhr vier Stunden mit dem Velo hin und zurück, um meine Mutter zu besuchen. Aber im harten Alltag rückte die Liebe wohl in den Hintergrund, so zumindest habe ich das empfunden. Gerne hätte ich als Erwachsene mit meinem Vater über meine Kindheit gesprochen. Doch er starb früh, nachdem er die AHV erst zweimal erhalten hatte. Erst viele Jahre nach ihrem Tod gelang es mir, mich mit der Härte meines Vaters und Grossvaters zu versöhnen.
Sparsam und klimafreundlich
Mein Nani habe ich genau so in Erinnerung wie auf dem Foto: Stolz, selbstbewusst und unabhängig. Sie war die Einzige, die meinem strengen Ätti Grenzen setzte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und erklärte ihm, so könne er nicht mit ihr umgehen. Das zu erleben, war wichtig für mich.
Meine Grossmutter lebte sparsam und klimafreundlich, lange bevor es dieses Wort überhaupt gab. Das Wasser vom Händewaschen fing sie auf und verwendete es für die Blumen. Und abends zündete sie das Licht erst eine Stunde nach dem Eindunkeln an, wenn sie ihr «Gelbes Heft» wirklich nicht mehr lesen konnte. Grosszügig war sie nur mit anderen. So erinnere ich mich, wie sie jeweils an Weihnachten mit einer Schürze voll mit liebevoll eingewickelten Päckchen zu uns herüberkam.
Besuchte ich Nani zur Zvieri-Zeit, tischte sie mir Brötchen mit gekauftem Käse auf, der mir viel besser schmeckte als der scharfe von unserem Hof. Auch liebte ich es, in ihrem Estrich in ihren Sachen zu stöbern. Kein Wunder, wurde ich später Trödlerin und leitete einige Jahre ein Brockenhaus. Bis heute umgebe ich mich gerne mit alten Dingen.
Schwangerschaft und Heirat
Bezüglich Berufsausbildung hiess es bei uns: «Mach etwas, das schnell geht, du heiratest ja sowieso bald.» So arbeitete ich nach einem Welschlandjahr und der Bäuerinnenschule als Köchin in einem Kinderheim in Zürich und später im Fernamt der PTT. Dort konnte ich als Vermittlerin meine Liebe zu Sprachen ausleben und hätte gerne verschiedene Sprachaufenthalte gemacht. Doch bereits nach zwei Monaten merkte ich, dass ich schwanger war.
Meine Eltern erlaubten uns Töchtern ab der Konfirmation, junge Männer mit nach Hause zu bringen. Mein Freund stammte aus dem Nachbardorf, was in Grüsch nicht gern gesehen wurde. War er zu Besuch, warfen die jungen Männer Steine an Fenster und Läden, um den auswärtigen Konkurrenten zu vertreiben. In meinem Fall blieb dieses «Gräberle» allerdings erfolglos.
In unserer Familie bekamen die Frauen über mehrere Generationen hinweg früh Kinder. Trotzdem sprachen weder meine Grossmutter noch meine Mutter mit uns über diese Dinge. Heute bin ich sehr glücklich als Mutter und Grossmutter, aber damals hätte ich mir gewünscht, noch einige Jahre zu warten mit der Familiengründung. Denn das war klar: War man schwanger, wurde geheiratet.
Wachsendes Selbstbewusstsein
Am Anfang unserer Ehe besassen mein Mann und ich praktisch nichts. Der Ochsnerkübel mit einem Tuch darüber diente uns als Esstisch. Doch mein Stolz liess nie zu, daheim um Geld zu bitten. Nach der Geburt von Tochter und Sohn hätte ich gern wieder gearbeitet und hätte dank der Hochkonjunktur problemlos eine Stelle gefunden. Doch mein Mann war dagegen und verlangte sein Essen dreimal täglich pünktlich auf dem Tisch. Dass ich im evangelischen Bildungshaus Boldern mit anderen Frauen Selbsterfahrungskurse besuchte und jedes Mal stärker nach Hause kam, gefiel ihm gar nicht.
Unsere Ehe ging schliesslich in die Brüche. Es war schwierig zu gehen, aber ich habe es nie bereut. Mit fast fünfzig war ich von heute auf morgen auf mich selbst gestellt. In jener Zeit lernte ich, mich zu wehren, für mich selbst einzustehen und nein zu sagen. Das Beispiel meiner Grossmutter gab mir viel Kraft.
Ich bildete mich zur Geburtsvorbereiterin aus und erteilte Kurse. Später arbeitete ich als Pflegehelferin in einem Heim und bei einer MS-Patientin. Meine letzten Berufsjahre waren streng, aber mit jedem Tag wurde ich unabhängiger. War ich vorher immer gebremst worden, konnte ich meine Stärke endlich entfalten.
Herzensangelegenheiten
Unterdessen lebe ich seit fast dreissig Jahren allein in meiner Blockwohnung, die mir heute gehört. Obwohl ich immer von einem kleinen «Häxehüschi» träumte, ist das fürs Alter viel praktischer. Zum Glück bin ich mit bald achtzig kerngesund, das ist ein Geschenk des Himmels. Meine Wohnung ist meine Höhle, in der mich alles umgibt, was mir lieb ist. Hier kann ich mich meinen Herzensangelegenheiten widmen: Dem Schreiben und meiner Kreativarbeit. Meine Texte verfasse ich teilweise in meiner Muttersprache, dem Prättigauer Dialekt. Und meine Toilette ist wohl die kleinste Galerie der Welt. Ab und zu veranstalte ich eine Ausstellung mit meinen Werken aus Dingen, die andere wegwerfen. «Upcycling», wie das heute heisst, mache ich schon seit Jahren.
Ich gäbe viel darum, noch einmal mit meiner Grossmutter zu sprechen. So vieles hätte ich sie noch fragen wollen! Aber wenn man jung ist, stehen andere Themen im Vordergrund als die Vorfahrinnen und Vorfahren. Doch die Erinnerungen an mein Nani stärken mich bis heute.
Aufgezeichnet von Annegret Honegger
- Weitere Erinnerungen der Zeitlupe-Leserinnen und -Leser finden Sie in der Rubrik Anno dazumal