Vermächtnis für die Nachwelt
Mike Fuhrmann, einst Marketingchef eines grossen Versicherungskonzerns, gab seinen Job auf, um etwas zu tun, das ihn wirklich begeistert: die Erinnerung an Verstorbene wachzuhalten. Nun möchte er aus Friedhöfen Orte der Inspiration machen.
Interview: Claudia Senn
Mike Fuhrmann, Sie haben eine Firma gegründet, die unsere Trauerkultur verändern will. Was stört Sie denn daran, wie Beerdigungen heute ablaufen?
Im Jahr 2018 starben meine Grosseltern beide innerhalb von einer einzigen Woche. An der Beerdigung las der Priester einen lieblos verfassten Lebenslauf vor. Geburt, Heirat, Beruf, Hobbys – nichts, was die Leute nicht sowieso schon wussten. Die Rede spiegelte kein bisschen, wer sie wirklich waren und was sie als Menschen ausmachte.
Das enttäuschte Sie.
Mehr noch, es ärgerte mich. Und ich war überzeugt, dass es vielen Leuten ähnlich geht. Lebensläufe bei Abdankungsfeiern sind oft blutleer und emotionslos. Das muss doch auch anders gehen, dachte ich. 2017 hatte meine Frau zudem eine Lungenkrebs-Diagnose bekommen. Hochaggressiv, viertes Stadium – es hiess, sie habe noch drei bis sechs Monate zu leben. Wir versuchten trotzdem alles medizinisch Mögliche, deshalb hat sie bis heute überlebt. Die Erkrankung hat uns beide als Paar zusammengeschweisst. Mich hat sie auch darüber nachdenken lassen, was mir im Leben wirklich wichtig ist. Mein damaliger Job gehörte definitiv nicht dazu.
Sie waren als Marketing-Chef beim Versicherer Generali angestellt. So eine Karriereposition gibt man nicht leichtfertig auf.
Tatsächlich fiel mir die Kündigung schwer, denn der Job war sicher und gut bezahlt. Doch er passte einfach nicht mehr zu mir. Je höher man in der Hierarchie eines grossen Unternehmens aufsteigt, desto mehr Leute lernt man kennen, die keine wirkliche Verbindung zu sich selbst haben, die gar nicht mehr spüren, dass sie an sich vorbei leben. So wollte ich nicht enden. Es war an der Zeit, etwas zu tun, das mich wirklich begeistert.
Was schwebte Ihnen vor?
Erst einmal liess ich mich zum Coach und zum Hypnosetherapeuten ausbilden. Schon 2007 hatte ich zudem in Los Angeles eine Ausbildung zum Filmproduzenten abgeschlossen. Ich wusste, wie man Drehbücher schreibt, hatte Kurz- und Langfilme gemacht und eine Zeitlang auch bei einer Neurorehabilitationsfirma gearbeitet, wo ich Patientengeschichten per Video dokumentierte. Storytelling war also kein Fremdwort für mich. Nun kam mir die Idee, all diese Fähigkeiten zusammenzubringen. Ich gründete mein Start-up «Eternal Echo».
Was ist mit diesem «ewigen Echo» gemeint?
Jeder Mensch hat doch eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Alle haben etwas im Leben gelernt, tragen einen Rucksack voller Erfahrungen, Gedanken und Weisheiten mit sich herum, die andere inspirieren könnten. Wäre es nicht toll, wenn man auf Grabsteinen mit Hilfe neuer Technologien wie QR-Codes mehr über den Verstorbenen erfahren könnte? Mit dem Smartphone könnte man sich dann einen Videoclip über die Person ansehen, sie sehen und spüren. Man könnte hören, welche Erfahrungen sie im Leben gemacht und welche Schlüsse sie daraus gezogen hat. So würden Friedhöfe zu Orten der Inspiration. Man könnte diese QR-Codes auf die Todesanzeige oder Trauerkarte drucken, die dadurch viel lebendiger wird. Das Video könnte auch auf der Beerdigung gezeigt werden. Es gibt sogar eine Firma in Hamburg, die aus zweidimensionalen Videos dreidimensionale Hologramme herstellen kann, wenn das jemand möchte. Ein Video ist eine viel authentischere Erinnerung als ein lieblos verfasster Lebenslauf. Man hört den Menschen lachen, man sieht Emotionen.
Sie drehen also Filme über Menschen, die für die Nachwelt über ihr Leben sprechen.
Genau. Man bekommt das vollständige Interview, das eher für die Familie gedacht ist, und einen kurzen Zusammenschnitt mit Botschaften und Erkenntnissen, die für alle relevant sind. Diese Kurzfassung kann öffentlich gezeigt werden.
Warum ist es so wichtig, dass etwas von uns bleibt? Schliesslich hatten wir die Spanne unseres gesamten Lebens zur Verfügung, um einen Eindruck in der Welt zu hinterlassen.
Für manche Menschen ist das tatsächlich nicht wichtig. Doch stellen Sie sich zum Beispiel eine junge Mutter vor, die Krebs hat und weiss, dass sie ihre Kinder nicht gross werden sieht. Jemanden, der mit Exit aus dem Leben scheidet und sich im Video erklären möchte. Oder jemanden, der an Demenz erkrankt ist und von seinen Liebsten so in Erinnerung behalten werden will, wie er wirklich war und nicht so, wie er am Ende durch die Krankheit sein wird. So ein Video kann den Angehörigen bei der Trauerverarbeitung helfen.
Was für Botschaften haben Ihre bisherigen Kundinnen und Kunden ihren Nachkommen hinterlassen?
Die meisten sprechen über ihre Kinder, über die Meilensteine ihres Lebens, sie erzählen, was ihnen wichtig ist und was sie gelernt haben. Kürzlich war ich bei einer 95-jährigen Dame aus Luzern, die den Zweiten Weltkrieg erlebt und für das Frauenstimmrecht gekämpft hatte. Sie machte sich Sorgen über das Wiederaufflammen des Rechtspopulismus in Europa und sagte: «Das hatten wir doch alles schon mal, und es führte direkt in die Katastrophe. Aber die Leute, die davor warnen könnten, sind alle schon gestorben.» Das fand ich toll. Ein Mann war in seinem Leben immer wieder beruflich gescheitert, hatte sich aufgerappelt und etwas Neues versucht. Das war schwer für ihn, doch am Ende seines Lebens konnte er auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken. Er sagte, dass viele nach einem Misserfolg liegen bleiben würden, doch im Leben sei es wichtig, immer wieder aufzustehen und den Misserfolg als Ansporn zu betrachten, es nächstes Mal besser zu machen. Nur so lerne man. Diese Geschichte könnte andere ermutigen.
Was für eine Atmosphäre herrscht bei den Dreharbeiten?
Ich habe verschiedene Kameras getestet, von ganz klein bis ganz gross. Einmal habe ich sogar mit zwei «Reds» gedreht, das ist die Kamera, mit der «Herr der Ringe» aufgenommen wurde, ein Riesenapparat. Da ging es um eine Person, die auf der Bühne des Casino-Theaters in Winterthur gefilmt werden wollte, weil sie dort involviert ist. Für eine wirklich intime Atmosphäre sollte die Kamera jedoch so klein wie möglich sein, damit sie den Leuten gar nicht auffällt. Deshalb drehe ich meistens mit zwei Smartphones, eines für die Nahaufnahmen, das andere für die Totale. Ich frage die Leute auch immer, ob es einen Ort gibt, an dem sie sich besonders wohl fühlen. Für die meisten ist es das eigene Wohnzimmer.
Wie bringen Sie die Menschen dazu, auf den Punkt zu kommen und die wirklich persönlichen Dinge zu erzählen?
Die meisten sind am Anfang etwas schüchtern. Sie sehen die Kamera und denken: Ou, jetzt wirds ernst. Dann machen wir eine kleine Entspannungsübung, und danach klappt es meistens wie von selbst. Als Coach weiss ich, wie man eine Atmosphäre schafft, in der die Leute sich öffnen. Ich kenne die Fragen, die man stellen muss, um Erinnerungen auszugraben, die man vielleicht noch gar nie erzählt hat.
Haben Sie auch schon ein Eternal Echo von sich selbst angefertigt?
Nein, aber ich habe kürzlich ein Kapitel zu einem Buch beigesteuert, in dem 21 Autorinnen und Autoren ihr Vermächtnis formulieren. Da steht drin, was mich geprägt hat. Ich bin in einer auf Leistung und Status fixierten Familie aufgewachsen. Mein Grossvater hat meinen Vater als Mann seiner Tochter nie akzeptiert, denn er wollte einen Arzt für sie haben, und mein Vater war Strassenbauer. Dieses «Du bist nicht genug» steckt auch in mir drin. Viele Jahre lang habe ich den Applaus von aussen gebraucht, wechselte häufig die Jobs, machte Karriere, lebte in verschiedenen Ländern. Erst jetzt, mit 47 Jahren, habe ich das Gefühl, bei mir selbst angekommen zu sein.
Wie stellen Sie sich unsere Beerdigungs- und Trauerkultur in zwanzig Jahren vor?
Ich wünsche mir, dass es bis dahin Hunderttausende von digitalen Vermächtnissen gibt. Wenn das Wissen und die Erfahrungen von Verstorbenen auf diese Art und Weise erhalten bleiben, könnte das ein riesiger Schatz für die Gesellschaft sein, eine Art Schwarmintelligenz der Menschen, die nicht mehr da sind. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz könnten wir die Botschaften über Generationen hinweg analysieren und daraus Erkenntnisse gewinnen. Zum Beispiel, mit welchen Problemen die Menschen in einem bestimmten Jahrzehnt am meisten zu kämpfen hatten und auf welche Arten sie damit fertig geworden sind.
Ich merke, Sie denken gross.
Absolut. Und da jeder und jede von uns einmal sterben muss, ist auch jeder ein Kunde oder eine Kundin. Zumindest potenziell.
Mike Fuhrmann hat verschiedene «Echos» im Angebot. Für 2499 Franken bekommt man ein ungeschnittenes Videoporträt sowie einen kurzen Zusammenschnitt der Highlights. Inbegriffen ist eine intensive Vorbereitung auf das Gespräch mit einem Coach. Langversionen unter Einbezug von nahestehenden Menschen sind entsprechend teurer. Genauere Infos auf www.eternalecho.ch
- Mehr Artikel zum Thema finden Sie in unserem Dossier «Memento mori».
Ich bin selber in einem Alter, wo man an das Ende denken muss. Die Idee finde ich toll. Ich habe selbst erlebt, was der Pastor bei der Abdankung meiner Mutter für einen Quatsch geredet hat.
Genau das ist es was ich schon sehr lange suche, bzw. für mich überlegt habe, zu tun. Es ist also kein Zufall, dass ich via des ZFF auf diesen gar interessanten Artikel der Zeitlupe gestossen bin. Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen. Danke herzlich für dieses sehr umfassende Interview über Ihre sehr spannende Tätigkeit.