Teil 7: Hirnmetastasen ade Tagebuch einer Sterbenden
Der Tod scheint nahe: nicht operable Hirnmetastasen. Die palliative Bestrahlung, die ich fünf Wochen lang bekomme, soll das Wachstum der Metastasen im Zaum halten und unangenehme Symptome des Hirndrucks lindern. Mir wird gesagt, dass die Bestrahlung im besten Fall eine Remission (Rückbildung) bewirken kann. Aber: Ein neuer Hirnscan zeigt keine dieser Metastasen mehr. Sie sind weg.
Ich bin baff und kann es kaum glauben. «Hat vielleicht das Kontrastmittel nicht richtig gewirkt und täuscht uns damit?», frage ich den Radiologen. Er zeigt mir die Bilder, keinerlei Tumore auszumachen. Der Arzt meint trocken: «Es gibt nichts zu behandeln, liebe Frau Bowley. Die Metastasen sind weg.» Ich bin verblüfft, doch der Mann fährt fort: «Sie sterben, wie alle: wie und wann ist ungewiss. Gehen Sie nach Hause, leben Sie Ihr Leben so, wie bis anhin. Denn Sie haben etwas richtig gemacht. Von Herzen alles Gute.»
Viele glauben, ein Wunder hätte diese Metastasen verschwinden lassen. Ich sehe das anders.
Welch freudige Überraschung! Ich bekomme nochmals Zeit geschenkt. Nochmals Zeit, um meine Botschaft «Lebe DEINS – JETZT» in die Öffentlichkeit zu tragen – und damit den Menschen Mut zu machen, über die eigene Endlichkeit und das Sterben nachzudenken und darüber zu reden. Der überraschende Befund gibt mir die Gelegenheit, meiner Aufgabe hier auf Erden länger nachzugehen als gedacht. Ich möchte das Tabu «Sterben» brechen.
Zu Hause angekommen, telefoniere ich mit meinem Vater und seiner jetzigen Frau. «Ich wusste es immer, Du wirst noch nicht sterben», sagt er. «Das Wunder, auf das wir alle gehofft haben, ist eingetroffen. Lass uns so bald wie möglich essen gehen. Wir sollten das Wunder feiern.» Auch alle andern freuen sich über diese Nachricht, manche sprechen sogar von einem Wunder. Ich sehe das etwas anders.
Zwar freue auch ich mich über diese Offenbarung. Doch gleichzeitig frage ich mich: Weshalb jubiliert mein Herz, hatte ich mich zuvor nicht mit der Aussicht angefreundet, bald zu sterben, ja sogar für diesen letzten Übergang Neugierde entwickelt? Nun aber möchte ich mein Glück in die Welt hinausschreien, mich laut dafür bedanken, dass ich diese Zusatz-Chance erhalten habe. Eine Chance, das zu lernen, was ich bislang nicht gelernt hatte. Eine Chance, mich mit weiteren Menschen zu versöhnen. Ausserdem kann ich andern Menschen ohne Zeitdruck aufzeigen, wie sie genau das tun können, was ihnen entspricht.
Meine Gefühle überwältigen mich. Mit der Diagnose Hirnmetastasen, unheilbar, kann ich von Anfang an gut umgehen. Ich hadere nicht mit meinem Schicksal, sondern nehme es an. Doch plötzlich steht mir das Leben wieder volle Pulle offen. Mit allem Glück und allen Herausforderungen. Ich fühle mich überfordert. Soll ich mich jetzt freuen oder grämen? Ich brauche Zeit.
Etwas beschäftigt mich besonders. Was hat wohl dazu beigetragen, mein Leben zu verlängern? Die Antwort liegt im Nebel. Offenbar gibt es auch in den Wissenschaften so vieles zwischen Himmel und Erde, das (noch) nicht erklärt werden kann. Wovon ich aber überzeugt bin: Meine psychologischen Strategien haben ihren Teil dazu beigetragen, diese Hirnmetastasen zu überwinden. Ich nahm sie an, statt sie zu bekämpfen, vergeudete keine Energie mit Hadern und Schimpfen.
Ich spreche bewusst von «diesen» und nicht etwa von «meinen» Metastasen. Sie gehören mir nicht, und ich will sie auch gar nicht haben. Ich bekämpfte sie zwar nicht, doch Freunde sind sie mir auch nicht geworden. Wie sollten sie? Vor allem die drei grossen, unten am Kleinhirn bereiteten mir einigen Kummer. Keine Voraussetzungen für ein inniges Verhältnis.
In der Nacht schmiege ich mich wohlig in die Achselhöhle meines Liebsten. Ein Platz der Geborgenheit. Er fühlt sich warm und weich an. Ein kurzer Kuss, nochmals auf die andere Seite gedreht, dann von der Zukunft träumen.
Anderntags will ich genauer herausfinden, was ich zu diesem sensationellen Resultat beitrug.
- «Ich habe nichts zu bereuen»: Im Video spricht Michèle Bowley mit Zeitlupe Redaktorin Jessica Prinz darüber, dass man sterben lernen kann, indem man gut lebt. Zum Video.
- Weitere Tagebucheinträge und Beiträge über Michèle Bowley können Sie hier lesen.
Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie
Mehr über das Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.