Teil 10: Mein Leben 2.0 Tagebuch einer Sterbenden
Ein kleines Wunder ist passiert, die Hirnmetastasen sind wie durch ein Wunder verschwunden, und mir wird dadurch unerwartet Lebenszeit geschenkt. Die meisten sehen es als pures Glück, länger leben zu dürfen, und es fühlt sich tatsächlich auch so an. Es ist aber auch eine Herausforderung, sich aufs Leben 2.0 auszurichten. Ich muss mir überlegen, was ich damit machen will. Was erfüllt mich und macht mich glücklich?
Ich führe keine «Bucket List», es gibt nichts, was ich unbedingt noch erleben will. Was mir wichtig war, habe ich bereits umgesetzt. Also muss ich mir Neues einfallen lassen. Ich möchte beispielsweise Konflikte schneller klären. Denn oft verbannen wir liebenswerte Menschen aufgrund nichtiger Ereignisse oder Missverständnisse aus unserem Leben, und das ist schade. Auch ich handelte nicht immer klug, nun ist es an der Zeit, sich mit jenen zu versöhnen, die ich unter diesen Vorzeichen aus den Augen verloren hatte. Nur so kann man in Frieden von dieser Welt gehen. Und jene, die zurückbleiben, können später von mir ohne Schuldgefühle Abschied nehmen. Also los.
Auch tanzen will ich wieder. Tanzen ist seit jeher eine meiner grössten Leidenschaften. Schon als ich eine kleine Bohne war, sang und tanzte ich, wo ich immer ich stand und war. Am liebsten bewege ich mich ohne jegliche Vorgaben zur Musik, wild und frei. Also besuche ich eine Ü30-Party. Wildes Hüpfen liegt zwar nicht mehr drin, stattdessen wiege ich mich wohlig im Takt der Musik. Doch auch das bewirkt Glücksgefühle.
In der Onko-Reha trug meine Zimmerkollegin eine wunderschöne Holzbrille. Ich setzte mir das Prachtstück auf und merkte, dass mir dieses auch gut steht. Also ersetze ich meine alte Brille durch das gleiche Modell. Auch von einer neuen Wohnung träume ich. Ich war umgezogen, als ich davon ausgehen musste, bald zu streben. Doch auf längere Sicht ist das Zuhause zu klein und zu teuer. Nun lebe ich in einer grösseren und günstigeren Alterswohnung, fühle mich dort rundum wohl und freue mich über die netten Nachbarinnen und Nachbarn.
Auch ein Haustier will ich mir anschaffen, ein Hündchen. In meinen Berufsjahren fehlte mir die Zeit dazu, nun aber frage ich mich: Wäre es nicht schön, wenn ich jetzt eine andere Seite von mir leben könnte? Mich ganz auf ein anderes Lebewesen einzulassen, mich und meine Bedürfnisse ab und an zurückzustellen, Verbindlichkeit zu üben? Die Antworten führten zu Chico, einem kleinen Malteser. Seit kurzem ist er mir ein intelligenter und treuer Begleiter.
Schon immer wollte ich ein Buch schreiben. Doch lange zweifelte ich daran, ob ich der Welt genügend zu sagen habe. Die Rückmeldungen auf meine Blogg-Beiträge ermutigen mich, trotz der Vorbehalte in die Tasten zu greifen. Die Menschen schätzen es offenbar, wie offen und klar ich über mein Sterben berichte. Der Plan ist gefasst: Mein Buch soll andere dazu anhalten, ihr Leben unter dem Aspekt der Endlichkeit zu betrachten, damit sie weniger Angst vor ihrem Ende haben. Ausserdem möchte ich dazu anhalten, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Ich will den Leuten zurufen, Lebe DEINS – JETZT. Das ist mein Beitrag zu einer friedlicheren Welt.
Doch kaum habe ich das Leben 2.0 in Angriff genommen, kehren die Metastasen zurück. In einer Routineuntersuchung zeigt sich, dass sie sich über meinen ganzen Körper ausgebreitet haben. Sie besiedeln nun diverse Lymphknoten und Organe. Das Tempo ist rasant. Damit hatte ich nicht gerechnet, und meine Ärzte auch nicht. Der Krebs wütet wieder aktiv in meinem Körper und rückt den Tod wieder in die Nähe. Das gilt es erst wieder, zu verdauen.
Die Behandlung startet von neuem: Bestrahlung des Hirns, Immuntherapie. Ich spreche gut darauf an und mache, was notwendig ist. Ich behalte mir jedoch die Option offen, die Therapien zu stoppen, sollten die Nebenwirkungen keine Lebensqualität mehr zulassen. Denn diese ist für mich unantastbar, steht über allem.
Die lebens-begrenzenden Hirnmetastasen ändern meine Haltung aber nicht: Ich habe weiterhin keine Angst vor dem Sterben. Ich lebte mein Leben volle Pulle – und werde das auch in Zukunft tun, sollten meine Kräfte auch schwinden.
Ich sammle Leben – nicht Jahre.
- «Ich habe nichts zu bereuen»: Im Video spricht Michèle Bowley mit Zeitlupe Redaktorin Jessica Prinz darüber, dass man sterben lernen kann, indem man gut lebt. Zum Video.
- Weitere Tagebucheinträge und Beiträge über Michèle Bowley können Sie hier lesen.
Aktuell tourt die Basler Psychologin durch die Schweiz und liest in diversen Städten aus ihrer Autobiografie. Eine Übersicht ihrer Auftritte finden Sie unter psyche-staerken.ch/autobiografie
Mehr über das Buch «Volle Pulle leben – Lebe Deins, jetzt», in dem Michèle Bowley über Ihr Leben und Sterben schreibt, finden Sie hier.