Ein tierisches Pflegekind
Myrta Berweger zog einen Labradorwelpen auf, aus dem später ein Blindenhund werden sollte. Eine grossartige Erfahrung!
Text: Claudia Senn
Als kleines Kind war die Hundehütte ein Wohlfühlort für Myrta Berweger gewesen. Die Fünfjährige kroch hinein, um mit Afra zu kuscheln, einer gutmütigen Entlebucher Sennenhündin. Afra liess sie dort sogar mit ihren Welpen spielen – eine Erfahrung, die sich mit allen Geräuschen und Gerüchen, der Körperwärme der Tiere und der ganzen Hundehüttengemütlichkeit tief in ihr einprägte. Später, als Erwachsene, stellte sie sich immer wieder vor, wie es wohl wäre, noch einmal die Nase im Fell eines eigenen Hundes vergraben zu können. Vielleicht, wenn ich pensioniert bin, dachte Myrta Berweger.
Dann war sie pensioniert – aber die ehemalige Rhythmiklehrerin fragte sich, ob sie überhaupt noch die Kraft haben würde, mit einem Hund durch die Wälder zu ziehen. Oder ob es nicht vielmehr der Hund sein würde, der sie hinter sich herzog. Ältere Dame – kraftstrotzender Vierbeiner: Das ist nun mal keine so gute Kombination. Einen Partner oder Kinder, die ihr dabei helfen konnten, den Hund zu bändigen, hatte sie nicht. Eine kleinere Rasse auszuwählen war auch keine Option – zu wenig wie Afra. Myrta Berweger fand trotzdem einen Weg, um an die Hundeerfahrung aus ihrer Kindheit anzuknüpfen.
Bei der Schweizerischen Schule für Blindenführhunde in Allschwil erfuhr die heute 70-Jährige, dass alle Hunde, die später so treu und brav ihren Dienst an der Seite von Sehbehinderten versehen, während ihres ersten Lebensjahres bei Privatpersonen aufwachsen. Sie sind dann noch klein und süss und können überhaupt nichts, ausser ihre temporären Halterinnen und Halter zu bezaubern. Myrta Berweger bewarb sich um einen Labradorwelpen. Jemand von der Schule kam vorbei, um sie selbst, ihre Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Zürich und die Umgebung zu inspizieren, dann kam Barko ins Haus. Es war, als hätte sie ein Kind bekommen.
Wichtige Prägungsphase
Barko nagte die Möbel an, war noch weit davon entfernt, stubenrein zu sein, spielte mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, und wenn nicht gerade sämtliche Kinder der Nachbarschaft unter Jööö-Rufen mit ihm herumtollten, schlummerte er wie ein narkotisiertes Lämmchen. Myrta Berwegers Aufgabe bestand vor allem darin, ihn vor Schaden zu bewahren. Von der zehnten bis zur sechzehnten Woche dauert die Prägungsphase. «Alles, was dem Hund in dieser Zeit passiert, ist tief drin, im Positiven wie im Negativen», sagt sie.
Die ersten drei Wochen durfte sie ihn keine Minute allein lassen. Danach begann Schritt für Schritt ein ausgeklügeltes Training. Wenn Barko Angst vor einem Besen oder einer Giesskanne bekam, weil beides neu und somit furchteinflössend für ihn war, musste Myrta Berweger den Welpen ganz vorsichtig daran heranführen. Schau, Barko, ist nur eine Giesskanne. Tut dir nix. Beisst auch nicht. Gibt nicht mal ein Geräusch von sich. Am 1. August fuhr sie mit ihm in die Berge, damit ihn auf keinen Fall die Böller erschreckten.
Einmal im Monat gab es ein Treffen in Allschwil: acht Hundepatinnen und Hundepaten mit acht Blindenhunden in spe – allesamt Barkos Geschwister aus demselben Wurf. Barko lernte, auch mal ohne seinen Lieblingsmenschen klarzukommen. Er musste ganz tiefenentspannt an seinen Geschwistern vorbeilaufen, ohne die übliche begeisterte Schnüffelei und Begrüssung. Er übte auch, an etwas Fressbarem vorbeizugehen, ohne es sofort hinunterzuschlingen – was eine ungleich höhere Herausforderung darstellte. Denn wie alle Labradore ist Barko ein begeisterter Schlinger. Sein Geschäft verrichtete er nicht etwa auf dem Trottoir, sondern diskret im Rinnstein, wo es die Strassenputzmaschine wegwischen würde – weil sein späteres sehbehindertes Herrchen oder Frauchen das auch nicht selbst tun könnte.
Barko entwickelte sich prächtig. Die Nachbarskinder turnten auf ihm herum, und er blieb ausnahmslos cool. Nicht einmal der Erzfeind konnte ihn noch aus der Reserve locken: Seine anfänglichen Scharmützel mit Katzen verwandelten sich in ruhige, bisweilen sogar freundschaftliche Akzeptanz. Zwar vergass er in der Pubertät – die auch bei Hunden keine leichte Zeit ist – alles, was er gelernt hatte, doch das war nur vorübergehend. Barko war so gutmütig, ruhig und vor Gesundheit strotzend, dass die Blindenführhundschule ihn für eine besondere Karriere auserkor: Er sollte ein Zuchthund werden.
Nun hat er ab und zu ein Date mit einer attraktiven Hundedame. «Wenn sie gut riecht, klappt es nahezu immer», sagt Myrta Berweger mit Mutterstolz in der Stimme. Bisher hat Barko etwa 30 Nachkommen gezeugt – lauter kleine zukünftige Blindenhunde. Da er nun doch keinem Sehbehinderten zur Seite steht, hätte ihn Myrta Berweger auch behalten können, doch das wollte sie nicht. Zuviele Reisen, zuviele andere Interessen, zuwenig Bereitschaft, das Leben ganz auf den grossen Hund einzustellen. Ausserdem ist Barko, das Kraftpaket, einfach zu stark für die 70-Jährige.
Auf den Abschied hatte sie sich von Anfang an eingestellt. «Der Hund gehörte nicht mir, das wusste ich ja.» Nach zwölf Monaten in ihrer Gesellschaft zog Barko auf einen Bauernhof zu einer Familie, die die Blindenhundeschule für ihr ausgesucht hatte. Myrta Berweger versicherte sich, dass er es dort gut haben würde. Als er abgereist war, sei die Wohnung plötzlich so leer und still gewesen, doch Myrta Berweger fühlte sich auch frei, so ganz ohne Gassi-, Spiel- und Fütterungspflichten. «Einen Hund auf Zeit zu haben, war eine wunderbare Erfahrung», sagt sie. Fast wie mit Afra, aber doch ganz anders. Einzigartig.
Kontakt und Informationen: www.blindenhundeschule.ch, Tel 061 487 95 95