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Schneesturm im Hochsommer (Kapitel 9) Aus «Schneesturm im Sommer»

In diesem merkwürdigen Sommer mit seinen ungewöhnlichen Schnee- und Wetterverhältnissen erlebten wir – zwölf Gebirgsoffiziere – auf einer Höhe von 2400 Meter einen Sturm, den wir der Öffentlichkeit nicht zu schildern brauchten, wenn sein überraschendes Auftreten, seine elementare Wucht und seine Folgen nicht alles in dieser Jahreszeit hier Erwartete und Erfahrene übertroffen hätten. Wir überschritten am Morgen des 28. Juli bei Wind und leichtem Schneetreiben den Rhonegletscher, stiegen zum Nägelisgrätli auf und wollten uns in diesem bekannten Gebiet durch das noch keineswegs ungewohnte Wetter nicht abschrecken lassen. Den Weg bekamen wir bald unter die Füsse und folgten ihm in südwestlicher Richtung, da und dort freilich noch durchknietiefen Schnee, was im Hochsommer auch hier nur selten der Fall ist.

Indessen hatte der Wind an Kälte und Stärke beträchtlich zugenommen. Die wachsenden Schneemengen, die er mit sich führte, waren jedoch erst richtig zu ermessen, als man die Westhänge von ihnen bedeckt sah und den Weg vor wie hinter sich unmerklich aus den Augen verlor. Wir hielten an, bedachten die Umkehr, was wir früher zu tun keinen ernsten Grund gehabt hätten; doch war es von hier aus ebenso schwer umzukehren wie weiter zu gehen, und da uns der Weitermarsch immerhin gewisse Vorteile bot, entschieden wir uns dafür.

Allein nach kurzer Zeit schon war es gewiss, dass wir keinen Weg mehr unter den Füssen hatten, und jetzt begann in diesem verschneiten, wirren Gelände ein stundenlanges, mühevolles Suchen, Vermuten und Tasten. Die Sicht war bald auf etwa fünfzig, bald auf zehn oder noch weniger Schritte beschränkt, der Wind war zum vollen Sturm angewachsen, der Schnee blieb an uns haften, und die schneidende Kälte packte erbarmungslos Gesicht und Hände. Wir suchten erfolglos. Ein ausgetretener, den natürlichen Geländefalten folgender Weg ist auch unter dem Schnee noch oft zu erraten; er wählt fast immer die Strecke der geringsten Hindernisse; doch ein angelegter, da und dort gebauter Weg kreuzt Fels und steile Halden so, wie kein Verirrter es ungezwungen tut. Wir hatten uns verirrt.

In dieser Notlage dachten wir daran, an geschützter Stelle eine Schneehöhle zu bauen, um darin das Ende des Sturmes zu erwarten, und einige begannen denn auch mit den Eispickeln den Schnee aufzugraben, doch bot die Stelle zu geringen Schutz, und eine bessere liess sich nicht finden. Ausserdem erkannte man jetzt, im Verweilen, die ganze ungeheure Wucht des Sturmes, ein schwer zu beschreibendes, pausenlos rasendes Fegen, das den Menschen umwarf, der aus dem tiefen Schnee heraus den kahl gewischten Fels betrat, und dessen ungeahnte Kraft in dieser Höhe, wo man keine Bäume zusammenkrachen, keine Hausdächer wegfliegen sah, sich freilich auch nur durch die beständig geforderte Kraft des eigenen Widerstandes ermessen liess. Dabei begann uns die Kälte auf die Haut zu dringen, trotzdem wir über dichten, warmen Kleidern noch Windjacken trugen; wir froren erbärmlich, sobald wir uns nicht bewegten. Zu alledem war die Tageszeit vorgerückt und ein früher Anbruch der Dunkelheit zu befürchten.

So blieb uns keine andere Wahl, als den Ausweg zu ertrotzen, auch auf die Gefahr eines Absturzes hin, und wir wollten uns dabei entschlossen auf die Magnetnadel verlassen. Von einem Tüchtigen angeführt, einem erfahrenen Alpenklubmann und zähen Bergsteiger, nahmen wir die Richtung auf Grimsel-Hospiz und arbeiteten uns in zwei angeseilten Gruppen vorwärts, dem wütenden Sturme schräg entgegen gelehntund mit der Hand die Augen schützend, die unter dem waagrecht sausenden, feinkörnigen Schnee zu schmerzen begannen. Wir stiegen, rutschten, kletterten und mussten es bei der immer mehr begrenzten Aussicht völlig dem Zufall überlassen, ob wir so hinuntergelangten oder nicht. Dieser Zufall führte uns denn auch zu einem Punkte zwischen Buckeln, Schroffen und Felsabstürzen, wo es unmöglich schien, weiterzukommen. Die aus der hinteren Gruppe häufig wiederholte Frage «Geht’s?» blieb hier zum ersten Mal ohne die gewohnte, aufmunternde Antwort.

Da standen wir nun und schauten uns an, übrigens spröde genug, mit fast anmassender Ruhe, denn keiner mochte ein Zeichen von Schwäche verraten, aber mit der ganzen heimlichen Erkenntnis dieses verzweifelten Zustandes und mit der ratlosen Ungeduld von Menschen, die auch nach dem härtesten Kampfe noch immer keinen Sinn darin finden, sich dem vernunftlosen Element zu ergeben. Ein solcher Zustand müsste unerträglich sein, wenn nicht wenigstens die äussere Haltung bewahrt würde, und so ertrug man ihn denn auch eine kurze Weile scheinbar gelassen, bis ein fast zorniger Antrieb zur Selbsterhaltungen jeden Ausweg auf Leben und Todwillkommen hiess. 

Der Führende fand im steil abfallenden Gefels den Ansatzeines Kamins, und hier wollten wir jetzt hinunter. Ohne zu ahnen, was ihn untern erwartete, turnte sich Mann für Mann am oben gesicherten Seil ins scheinbar Bodenlose hinab. Mank am auf ein kurzes, schmales Felsband, und die Vordersten blieben die Antwort auf die Frage der Folgenden, ob es da unten weitergehe, abermals schuldig. Man sah nichts vor sich als eine neblige Tiefe. Während dieses Abstiegs durch den Kamin, wo man schliesslich beide Seile zu Hilfe nahm, erschien den Wartenden oben und unten die erforderliche Zeit von wahrhaft folternder Dauer. Auf dem Felsband harrte man, an die Wand gelehnt, mit Schnee bedeckt und von der Kälte geschüttelt, auf das Seil, in einem inneren Wellengang von Ungeduld, Gleichgültigkeit, flüchtiger Selbstbesinnung, Bangnis und Trotz. Das Verhängnisvollste war hier das Nächste und Wahrscheinlichste. Man hatte sich hier wahrscheinlich verstiegen; die Hände waren geschwollen und unempfindlich, sie erfroren wohl jetzt; das Felsband mündet ein eine Lücke, und durch diese Lücke stürzten wir wohl endlich ab; kamen wir aber noch hinunter, dann blieb vermutlich einer nach dem andern mit erschöpften Kräften zurück.

Zum Autor

Meinrad Inglin (1893–1971) Sohn eines Goldschmieds, Uhrmachers und Jägers, wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Uhrmacher- und Kellnerausbildung, trotz fehlender Matura Studium der Literaturgeschichte und Psychologie in Bern, Genf und Neuenburg. Tätigkeit als Zeitungsredaktor, während des Ersten und Zweiten Weltkriegs Offizier im Grenzdienst. 1922 als Journalist in Berlin, danach als freier Schriftsteller in Schwyz. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

Sonderbar schwankender Zustand, der jedem sich anders einprägt, der noch in der Erinnerung bald tödlich beängstigend, bald harmlos erscheint, den man bald zu unterschätzen, bald zu übertreiben fürchtet, während man in Wirklichkeit gewiss weder ein Held noch ein Angstmeier war. Die geheime Schwungkraft des Lebens erhält den bedrohten Menschen so lange im Gleichgewicht, bis er sich selber preisgibt, sie macht ihn blind oder sehend und zeigt oder verhüllt die Gefahren nach dem Masse seines inneren Widerstandes.

Das Seil kam, man kletterte in die Lücke hinab, geriet früher, als man ahnte, auf eine steile Halde und watete durch den tiefen Schnee erleichtert abwärts. Noch waren die Letzten im Zweifel, wo man sich befand, als die Vorderen plötzlich zweihundert Meter unter sich, vom Sturm noch halbverschleiert, das Grimsel-Hospiz erblickten und die Erlösung verkündend in ein unbändiges Jauchzen ausbrachen, das von hinten gläubig genug erwidert wurde.

Dieser ganze Abstieg wäre nach alpinistischen Begriffen nun sicherlich keine besondere Leistung, man könnte ihn bei gutem Wetter mit einiger Übung wiederholen, ohne damit gerade das Ungewöhnlichste zu wagen; allein die gefährliche Häufung der schlimmsten Umstände, dieser unerhörte, atemberaubende, nie aussetzende Ansturm, der ständig verwehrte Ausblick, die sausende Kälte, das Waten, Rutschen und Einbrechen im wachsenden Schnee, die fruchtlosen Irrwege, die Nähe der Nacht und die drohende Erschöpfung bewirkten zusammen eine Lage, in welcher auch der Verwegenste mit jedem neuen Wagnis den Untergang zu erwarten hat.

War es so schlimm? Wir möchten heute, das eigene Zeugnis verdächtigend, die Achsel zucken, wenn nicht noch andere Wirkungen des Sturmes es bestätigt hätten. Das Grimsel-Hospiz war von der Aussenwelt abgeschnitten, die Drahtleitungen waren zerrissen, Telefonstangen lagen gekickt am Wege. Das Postautomobil unternahm, wie ein Mitfahrer wenige Tage darauf in diesem Blatte berichtet hat, einen dreimaligen hartnäckigen Angriff auf die Passhöhe; aber umsonst, «die Schneemassen und der zum Orkan angewachsene Sturm leistete zu grossen Widerstand». «Später», fährt jener Bericht fort, «unternahm ich allein den Versuch, die Passhöhe zu erreichen, aber die nun 70 Zentimeter hohe Schneedecke, die zahlreichen Schneewehen, bis zu 3 Meter Höhe, die eisigkalte Luft, die furchtbaren Windstösse und die Schneewirbel zwangen mich zum Rückweg…»

Es war also schlimm genug, und was auf der immer noch sichtbaren Automobilstrasse schon unerträglich schien, muss einige hundert Meter höher, im steilen, weglosen Fels, kaum erträglicher gewesen sein. Doch ist nicht das, was wir zu ertragen hatten, der Teilnahme wert, sondern allein das Ereignis selbst, dieser Sturm, der nach glühenden Tagen gegen alle Voraussicht mit Winterkälte und unbegreiflicher Gewalt in den Hochsommer bricht, den elementaren Geschehnissen in wilderen Breiten vergleichbar, die dem Mass und geordneten Bereich des Menschen wie ungeheure Symbole immer wieder das Masslose und Ausserordentlich entgegenhalten.



«Schneesturm im Sommer»

Meinrad Inglin ist einer der bekanntesten Unbekannten, seinen Namen kennen fast alle, seine Werke die wenigsten. Dabei ist er ein grosser Könner in einem grossen Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres, stilistisch abwechslungsreich und sprachlich wohlkomponiert. «Schneesturm im Hochsommer» versucht, sein vielfältiges Schaffen abzubilden und damit einen literarisch hochinteressanten und oft überraschend aktuellen Schweizer Klassiker wieder breiter bekanntzumachen.

«Inglin ist seit Jahren genau der, von dem viele sagen, man hätte ihn ‹nicht auf dem Schirm› und der deshalb allen so präsent ist. Die Frage ist doch vielmehr: Was macht den Kerl so interessant, dass er nicht verschwindet? Er hat nie auf Effekt geschrieben. Er hat versucht, Verhältnisse zu beschreiben, wie sie sind. Eine Haltung, die nach dem ganzen postmodernen Klimbim auf eine neue Art interessant ist.»
Peter von Matt

Meinrad Inglin, «Schneesturm im Hochsommer».
Herausgegeben von Ulrich Niederer, Nachwort von Usama Al Shahmani, 256 Seiten, Leinenband, CHF 28.– (UVP), Limmat Verlag, Zürich

Umschlagfotografie: Dino Reichmuth, Unsplash
Typografie und Umschlaggestaltung: Trix Krebs
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 978‑3‑03926‑021-8
© 2021 by Limmat Verlag, Zürich www.limmatverlag.ch

Beitrag vom 18.12.2022

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