84. Brot und Arbeit Aus «Staatsmann im Sturm»

Im Dezember 1940 ist die militärische und politische Gefahr, in der sich das Land während Monaten befand oder zu befinden schien, abgeklungen. Alltagsfragen beschäftigen das Volk fast wie zu Friedenszeiten. Zu reden gibt der Mangel an Waren für den Tagesgebrauch, seien es Kleidungsstücke oder Nahrungsmittel, Kohle zum Heizen, Benzin fürs Auto. Vieles ist rationiert. Angebliche Ungerechtigkeiten an der Rationierung werden kritisiert. Alles wird teurer. Zwischen Juni und Dezember ist der Lebenskostenindex von 109 auf 117 Punkte angestiegen.

Der Bundesrat hat viel unternommen, um die Versorgungslage zu verbessern und die Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Handelsabkommen mit Deutschland, Italien und (am 23. Oktober) mit Frankreich sind unter Dach und Fach. Thurnheer und Prof. Keller bemühen sich in London um die Lockerung der Blockade. Mindestensfür den Winter ist für den Lebensunterhalt der Bevölkerung gesorgt. Niemand muss Hunger leiden. Für den immer wahrscheinlicher werdenden Fall, dass der Krieg länger dauern wird, steht der Plan Wahlen bereit.

Noch am Tag der Rede vom 25. Juni beschloss der Bundesrat die Einsetzung einer fünfköpfigen Arbeitsbeschaffungskommission unter dem sozialdemokratischen Fraktionsführer Robert Grimm. Diese Kommission hat ein detailliertes Programm zur Arbeitsbeschaffung zusammengestellt. Ende November übergibt Grimm die 250-seitige Schrift der Presse. Im Vorwort schreibt die Kommission:

Man konnte damals [Ende Juni] annehmen, die Teildemobilmachung würde unmittelbar eine grosse Massenarbeitslosigkeit herbeirufen. Glücklicherweise haben sich die Befürchtungen nicht bestätigt. Noch heute sind die Arbeitslosenziffern nicht beunruhigend.

Ein Sofortprogramm sei nicht mehr «unmittelbar dringlich». Deshalb prüft die Kommission das Arbeitsbeschaffungsproblem langfristig und in seiner Gesamtheit. Sie betrachtet die Exportwirtschaft als das Hauptmittel zur Erhaltung der «Berufs- und Qualitätsarbeit» und will sie mit «allen tauglichen Mitteln» fördern. Zu diesen Mitteln zählt sie:

Ausbau der Exportrisikoversicherung und ihre Ausdehnung auf das Transportrisiko; die Errichtung einer Exportbank; die gemeinsame Werbung im Ausland; die Bildung von Interessengemeinschaften, unter finanzieller Mitwirkung des Staates für den Einkauf von Roh- und Hilfsstoffen und für den Absatz von Exportwaren; die Förderung der Serienarbeit, der Rationalisierung und der Typisierung der Produktion im Inland; die Förderung der wissenschaftlichen und technischen Forschung.

Das Alpenstrassenprogramm soll «unter Fühlungnahme mit der Armee» revidiert und den «veränderten militärpolitischen Verhältnissen» angepasst werden. Grösstenteils soll es dabei um den Ausbau bereits existierender Strassen gehen. Gleich zu Beginn der Dezembersession redet Bundesrat Stampfli über das Thema Arbeit:

Die Unruhe der Bevölkerung kam daher, weil sie wegen dem Zusammenbruch Frankreichs und der Sistierung vieler Kriegsaufträge die Befürchtung hegte, dass in gewissen Gebieten unseres Landes eine grosse Arbeitslosigkeit eintreten könnte. Diese Befürchtung war bis zu einem gewissen Grade auch gerechtfertigt durch Arbeiterentlassungen, wie sie in Genf, La Chaux-de-Fonds und Berner Jura vorgekommen sind. Glücklicherweise zeigte sich dann, dass diese Befürchtungen nicht begründet waren. Die entlassenen Arbeitskräfte konnten wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Es kamen an die Stelle der entgangenen Kriegsaufträge der Entente von der anderen Seite Ersatzbestellungen, so dass die befürchtete Massenarbeitslosigkeit nicht Tatsache wurde, im Gegenteil, die Zahl der Arbeitslosen ging zurück.

Stampfli berichtet, dass gegenwärtig im Baugewerbe und in der Landwirtschaft gar ein Mangel an Arbeitskräften herrsche. Man habe für den geplanten Ausbau der Susten- und der Oberalpstrasse keine Arbeiter gefunden. Die Ernte im Herbst habe man nur dank der Hilfe von Studenten und Schülern einbringen können. Wenn man sage, «nicht mehr diskutieren, sondern, handeln», sei daran zu denken, dass vor anderthalb Jahren eine vom Volk angenommene «gewaltige Arbeitsbeschaffungsvorlage » Kredite von 400 Millionen vorsieht, die «zum grossen Teil noch unverwendet zur Verfügung stehen». Die Arbeit der Kommission Grimm sei für sein Departement «ein wertvoller Leitfaden, eine wertvolle Direktive für die weitere Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und ihrer Folgen».

In der Session erhält Grimm Gelegenheit zu einer Rede, die selbst in der Berichterstattung des liberalen Journal de Genève positiv vermerkt wird:

Seit M. Grimm (Berne, soc.) in der Materie der Kriegswirtschaft beträchtlichen Einfluss besitzt, hat er den Sinn für Verantwortung übernommen. Er erklärt die gegenwärtigen Schwierigkeiten unserer Versorgung. Er kündigt die Rationierungen an, die noch kommen werden.

Grimm schlägt Töne an, die an Pilet erinnern, wählt Worte, die Pilet hätte sprechen können:

Ich glaube, es sei notwendig, dass man dem Schweizervolk in aller Klarheit und in aller Offenheit heraussagt, dass die Lage der nächsten Monate sich nicht verbessern wird; dass wir Zeiten entgegengehen, die schwerer und schwieriger sein werden, und dass jeder Einzelne sich darüber klar sein muss, dass wir mit den bisherigen Massstäben die Dinge nicht mehr messen können. Es geht heute vielleicht weniger darum, einen Vergleich zu ziehen zwischen der gegenwärtigen Lage und der vergangenen Zeit, als zwischen der gegenwärtigen Lage und den kommenden Dingen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Stampfli macht in seiner Schlussrede die Nationalräte darauf aufmerksam, dass die Schweiz von der Weiterführung des «mit unverminderter Heftigkeit und steigender Erbitterung» andauernden Wirtschaftskriegs schwer getroffen wird:

Je länger der Krieg dauert, je mehr er sich zum Endkampf um die Verteilung der Welt entwickelt, um so geringer werden die Rücksichten auf Nichtkriegführende und um so mehr wird versucht, ihre wirtschaftliche Hilfeleistung zu erzwingen. Wenn kürzlich von massgebender Stelle gesagt wurde, dass Deutschland heute in der Lage sei, die Kräfte von ziemlich ganz Europa für sich zu mobilisieren, so kann auf der andern Seite England sich darauf berufen, dass alle Zugänge von den Überseegebieten zu Europa immer noch unter seiner Herrschaft stehen.

In England wisse man,

dass in Holland, Belgien und im besetzten Gebiet grosse Vorräte, Benzin, Kupfer, auch Lebensmittelvorräte, dem Eindringling in die Hände gefallen sind. Weil die Schweiz von den beiden gegnerischen Mächten umschlossen ist, fürchtet man, dass sich hier etwas Ähnliches wiederholen könnte, zum mindesten wird unser Wirtschaftsgebiet als bedroht betrachtet, und man hat Bedenken, dazu beizutragen, dass die in unserem Lande sich anhäufenden wirtschaftlichen Vorräte ein gewisses Mass überschreiten. So sind seit Mitte Juni über 20, für die schweizerischen Bedürfnisse bestimmte Schiffe mit über 150 000 Tonnen Gütern zurückgehalten worden.

Stampflis Schlussworte erinnern an Pilets Versprechen, «dem Volk die Wahrheit zu sagen»:

Wir werden, wenn der Krieg noch lange dauert, in eine Mangelwirtschaft hineinkommen, in der sich unsere Lebenshaltung immer mehr derjenigen des übrigen Europas anpassen wird und muss, ob wir wollen oder nicht. Je eher sich unser Volk mit diesem Gedanken abfindet, je eher und je gründlicher es sich damit vertraut macht, je leichter wird es ihm auch fallen, seinerseits die unausweichlichen Opfer zu tragen und hart genug zu sein, um durchhalten zu können.

Walther Stampfli, der von Parteifreunden überredet werden musste, sich in den Bundesrat wählen zu lassen, erweist sich als würdiger Nachfolger seines verstorbenen Vorgängers Obrecht. Er beherrscht seine Dossiers und dominiert die Ratssitzungen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 25.08.2024

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