81. Feldgrüne Intrigen Aus «Staatsmann im Sturm»

Am 7. Dezember erscheint Carl Friedrich von Weizsäcker am Wohnsitz seines Schwiegervaters Oberstkorpskommandant Ulrich Wille in Meilen. Der 28-jährige Physiker ist am geheimen deutschen Atomwaffenprojekt beteiligt und ein feuriger Anhänger Hitlers. Er ist im Auftrag seines Vaters Ernst, des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, in die Schweiz gefahren, um Wille vertrauliche Mitteilungen zu machen.

Es geht um die in Dijon gefundenen, seither ausgewerteten Dokumente, die eine geplante militärische Zusammenarbeit zwischen der Schweizer und der französischen Armee belegen – die in der Schweiz immer noch unter der (falschen) Bezeichnung «La- Charité-Papiere» laufen. Der Staatssekretär hat C. F., wie man ihn nennt, beauftragt, die Schweiz zu warnen oder – was wahrscheinlicher ist – Druck auf den Bundesrat auszuüben. Kernpunkt seiner Botschaft: Berlin hält die belastenden Schriften geheim, um sie zu gegebener Zeit zu verwenden.

Wille diskutiert die Angelegenheit in Anwesenheit von C. F. mit dem aus Walenstadt herbeizitierten Schiessschulkomandanten Oberst Gustav Däniker. Wille und Däniker beschliessen später, dass Däniker den Bundespräsidenten warnen solle. Der Oberst ist vorher noch nie bei Pilet gewesen. Dänikers einziger Kontakt mit dem Bundespräsidenten war ein brieflicher: Nachdem Sohn Jacques Pilet seinem Vater erzählt hatte, bei einer Handgranatenübung in Walenstadt seien Vorsichtsmassnahmen missachtet worden, verlangte der Bundespräsident vom Schiesskommandanten eine Erklärung, die dieser ihm lieferte.

Wie mit Wille verabredet, bittet Däniker den Bundespräsidenten schriftlich um eine Audienz. Er möchte über eine «dringende Mitteilung» aus Deutschland berichten. Bovet notiert zur Bundesratsitzung vom Freitag, 20. Dezember:

Conférence Däniker. Bundesrat ermächtigt den Bundespräsidenten, Oberst D. zu empfangen, der wünscht, in einer wichtigen Angelegenheit empfangen zu werden.

Pilet hat gelernt. Er holt vorgängig die Erlaubnis des Gesamtbundesrats zu einem Treffen mit Däniker ein. Am Montag, 23. Dezember, meldet sich Däniker um 17 Uhr beim Bundespräsidenten. Er berichtet Pilet über die brisante Mitteilung des «absolut vertrauenswürdigen Gewährsmannes», dessen Name er verschweigt, und schlägt ihm drei mögliche Massnahmen zur Entschärfung der Angelegenheit vor:

a) die weitgehende Demobilmachung, so dass sich ein Oberbefehlshaber erübrigt.

b) der Oberbefehlshaber ist auf eigenes Gesuch hin wegen Überarbeitung oder wegen Krankheit, zunächst vorübergehend, zu beurlauben (nachher ev. Dauerzustand).

c) Abberufung des Oberbefehlshabers (sollte nach Möglichkeit vermieden werden).

Tags darauf, am Heiligen Abend, bestätigt Däniker schriftlich seine Mitteilungen. Der Bundespräsident leitet Dänikers Brief an Oberauditor Trüssel weiter, der schon im Oktober Guisan von jeder Verfehlung in der «Affäre La Charité» freigesprochen hat. Pilet lädt zudem den General auf den Morgen des 31. Dezember zu sich ins Bundeshaus.

Der Oberbefehlshaber holt sich einmal mehr bei Du Pasquier Rat. Der Oberst, der eben in der Bundesratswahl Kobelt unterlegen ist und den Guisan jetzt für das Kommando der 2. Division vorsieht, schlägt vor (Tagebuch Du Pasquier, 30. Dezember):

Wenn die Deutschen diese Geschichte frei erfunden haben, muss man sich darauf beschränken, sie zu dementieren. Aber wenn sie, wegen der Dummheit der Franzosen, im Besitz der Dokumente sind, welche die Besprechungen mit Oberstleutnant Garteiser wiedergeben, dann wäre es besser, die Flucht nach vorne anzutreten und Pilet-Golaz zu sagen, dass die Franzosen uns für den Fall eines deutschen Angriffs durch die Schweiz über ihre Absichten orientiert haben, aber dass wir ihnen gegenüber keine Verpflichtungen eingegangen sind.

Die beste Taktik, empfiehlt der Neuenburger Rechtsprofessor, sei immer noch, sich möglichst nahe an die Wahrheit zu halten.

Zur Vorbereitung der Aussprache mit Pilet am Sylvestermorgen macht sich der General Notizen: Er sei im Hinblick auf eine mögliche deutsche Aggression vom französischen Oberkommando über eventuelle militärische Vorkehren unterrichtet worden. Diese Auskünfte seien ohne Gegenleistung und ohne Verpflichtung erfolgt. Nichts sei vereinbart worden, das einer Militärkonvention gleichkomme. «Geheim und persönlich» solche Erkundigungen einzuziehen, sei seine Pflicht als Oberkommandierender.

Guisan – immer gemäss Notizen – ist erstaunt darüber, dass der Bundespräsident einen Generalstabsoffizier – gemeint ist Däniker – empfangen habe, ohne ihn zu benachrichtigen. Dies dürfe Pilet zwar, sei aber kein Zeichen von Vertrauen. Unkorrekt und «wenig elegant» sei es allerdings, eine ihn als General betreffende Aussage an den Oberauditor weiterzuleiten, ohne ihm eine Kopie zuzustellen. Er, der General, werde dies in Zukunft nicht mehr zulassen. Oberst Däniker sei in der Schweiz und im Ausland als Gegner des Generals bekannt. Man dürfe sich durch dessen Behauptungen aus deutscher Quelle nicht ködern lassen.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Es ist unbekannt, ob der General diese geplante heftige Attacke gegen den Bundespräsidenten geritten hat. Das Gespräch Pilet-Guisan fand unter vier Augen statt. Auch über Pilets allfällige Reaktion weiss man nichts. Der Bundespräsident will eine Eskalation des Konflikts zwischen ziviler und militärischer Behörde vermeiden. Er gibt sich mit der Erklärung Guisans zufrieden, wonach «nichts, das einer Militärkonvention ähnlich schaut» von ihm abgeschlossen wurde. Auf Wunsch Pilets hält Guisan noch am selben Abend schriftlich fest:

Hinsichtlich unserer Unterhaltung von heute morgen bestätige ich Ihnen, dass ich keine Militärkonvention irgendwelcher Art mit irgendwelcher ausländischen Macht abgeschlossen habe. Je n’ai fait aucune communication à ce sujet.

Damit können der am nächsten Tag abtretende Bundespräsident und der General unbelastet ins neue Jahr gehen. Die Angelegenheit «La Charité» liegt weiter beim Armeeauditor, der den naiven Vorschlag macht, die Deutschen dazu zu befragen. An der Bundesratssitzung vom 31. Januar wird jedoch Pilet einen Schlussstrich unter die leidige Affäre setzen:

Haben wir ein Interesse, Deutschland Fragen zu stellen? Nein. Affaire liquidée.

Nicht nur «La Charité» belastet das Verhältnis zwischen Armeeleitung und Regierung. Schon Mitte Dezember ist es zu einem Machtkampf zwischen General und Bundesrat gekommen. Es ging um vom General vorgeschlagene Beförderungen im hohen Offizierskorps und seinen Antrag auf Schaffung eines 5. Armeekorps.

An der Sitzung vom 13. Dezember sind Etter und Baumann gegen ein 5. Armeekorps und Pilet schlägt Nichteintreten vor. Pilet hält den als Kommandanten der (Waadtländer) 1. Division vorgeschlagenen Oberst Edouard Petitpierre zwar für einen «exzellenten Generalstabsoffizier», aber er zweifelt, ob dieser «einen guten Divisionskommandanten» abgeben werde. Pilet misstraut auch Guisans Antrag, Generalstabschef Huber zum Korpskommandanten zu ernennen. Es geht ihm nicht in den Kopf, dass die Schweiz künftig sieben Korpskommandanten haben soll: Er hält auch ein 5. Armeekorps für überflüssig:

Übertriebene und unnötige Ausgaben. Ausserdem besteht an der Südfront noch keine Gefahr angesichts der Verlegenheit Italiens [wegen den italienischen Rückschlägen im Griechenland-Krieg] und wegen des Schnees. Würde in Italien schlecht ausgelegt. Unfreundlicher Akt. Einziges Motiv: Personalpolitik. Würde den wirtschaftlichen und sektiererischen Apparat des Militärs vergrössern. 

«Falls im nächsten Frühling die Lage sich ändern sollte, könne man immer noch …» Hier fällt Minger dem Bundespräsidenten ins Wort:

«Wer trägt die Verantwortung für die Landesverteidigung? Der General. Wir haben nicht das Recht, es ihm abzuschlagen, wenn er für Huber verlangt, dass seine Funktion als Chef des Generalstabs einen entsprechenden Grad erfordert. Was das 5. Korps anbelangt: wenn Sie Angst vor dem Echo im Ausland haben, kann man ebenso gut die Armee gleich nach Hause schicken. Wenn ich der General wäre, würde ich auf eine Ablehnung mit meiner Demission antworten.»

Es ist selten, dass Pilet und Minger derart aufeinanderprallen. Bis zur nächsten Sitzung am Dienstag, 17. Dezember, beruhigen sich die Gemüter. «Aus allgemeinen politischen Motiven» gibt Pilet seinen Widerstand gegen die Beförderungen der Divisionäre Borel und Huber auf. Bezüglich Verteidigungsstrategie bestehen zwischen Regierung und Armeekommando keine ernsthaften Meinungsverschiedenheiten mehr. Guisan hat sich der Réduit-Lösung angeschlossen, die ursprünglich von seinen germanophilen Gegnern vorgeschlagen worden war und für die auch Minger und Pilet eintraten.

Dank seiner Beliebtheit in Volk und Truppe kann Guisan seine Stellung als Oberkommandierender mühelos halten. Bezüglich Charisma und politisches Geschick ist der General seinen germanophilen Gegnern weit voraus, auch wenn diese ihm in militärisch-strategischen Fragen überlegen sein mögen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 04.08.2024

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte sie auch interessieren

Fortsetzungsroman

82. Hausamanns Erzählungen

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 82: Hausamanns Erzählungen.

Fortsetzungsroman

80. Wahltheater

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 80: Wahltheater.

Fortsetzungsroman

79. Die Schweiz atmet auf

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 79: Die Schweiz atmet auf.

Fortsetzungsroman

78. Der Bundesrat handelt

In «Staatsmann im Sturm» zeichnet Hanspeter Born ein anderes Bild des umstrittenen Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz, der die Schweiz 1940 unbeschadet durch die stürmischen Monate des zweiten Weltkriegs steuerte. Kapitel 78: Der Bundesrat handelt.