75. Es wird dunkel Aus «Staatsmann im Sturm»

Die Parlamentarier sind nach Hause gegangen. Mit ihrem Aufstand gegen Pilet haben sie Bundesrat und Volk gezeigt, dass sie immer noch da sind, Vollmachten hin oder her. Sind sie sich bewusst, was sie mit ihren Tadelserklärungen angerichtet haben? Der «Kronrat» ist gestorben. Wochenlange intensive Bemühungen zur Schaffung eines interparteilichen Beratungsgremiums sind für die Katz. Undenkbar, dass der Bundespräsident mit Leuten zusammensitzt, die seinen Kopf wollen. Ein zweites Opfer der Audienzaffäre sind Etters «Richtlinien», die dem Parteienausschuss hätten vorgelegt werden sollen. Das Regierungsprogramm bleibt in der Schublade.

Die Blicke der Zeitungsredaktionen richten sich auf die Vorgänge in der Welt. Die schweren Bombardierungen von Südengland halten an, ebenso britische Nachtangriffe auf Berlin. Ihr Schaden ist gering, aber die Bewohner werden um den Schlaf gebracht.

Am 27. September wird im Grossen Saal der Neuen Reichskanzlei der Dreimächtepakt zwischen dem Deutschen Reich, Italien und Japan unterzeichnet. Das Bündnis, das Japan den ostasiatischen Raum als Einflussgebiet zuspricht, droht im Pazifischen Ozean einen neuen Kriegsschauplatz zu eröffnen. Hitler will mit dem Pakt den Kriegseintritt der USA auf Seite Grossbritanniens verhindern oder zumindest aufschieben. Moskau hat keinen Einwand gegen den Dreierpakt erhoben. Stalin sieht zu, wie der andauernde Krieg Kapitalisten und Nazis schwächt.

Hitler hat begriffen, dass er ohne Lufthoheit keine Truppen in England landen kann. Das Unternehmen Seelöwe wird am 17. September verschoben und am 12. Oktober abgeblasen. Hitlers geheimes Ziel ist jetzt die Eroberung der Festung Gibraltar. Ein Treffen mit Franco soll den spanischen Diktator überzeugen, an deutscher Seite in den Krieg zu treten.

Berlin, Rom und London bereiten sich auf einen zweiten Kriegswinter vor. In Bern sieht man ein, dass der Friede in die ferne Zukunft gerückt ist.

Der Bundesrat beschäftigt sich mit Versorgungsfragen. Walther Stampfli, der neue Volkswirtschaftschef, führt sich gut ein und wird zu einer Stütze für Pilet, der jetzt nicht mehr allein die Aussenhandelspolitik leiten muss. An der Fiera in Lugano, am 29. September, redet Stampfli über Schwierigkeiten unserer Gütereinfuhr. Zur Ergänzung unserer Reserven sei es nötig, die eigene Produktion zu steigern. Die Devise lautet: «Kein Quadratmeter kultivierbaren Bodens ungenutzt!» Der Solothurner Bundesrat schliesst seine Luganer Rede mit der festen Zusicherung, dass die Schweiz «die heftigste Erschütterung, die unser Kontinent je durchzustehen hatte, heil und gesund überstehen wird».

Der für Armee und Wirtschaft unentbehrliche flüssige Brennstoff kann nur noch aus Rumänien eingeführt werden, und Rumänien gerät zusehends unter deutsche Kontrolle. Am 7. Oktober begründet das Volkswirtschaftsdepartement einen Kreditantrag zur Umrüstung von Motorlastwagen:

Als Ersatz von importierten flüssigen Kraftstoffen kommt in erster Linie das Holz in Frage, dessen Verwendung im Holzgasbetrieb, insbesondere bei schweren Motorlastwagen, keinen allzu grossen technischen Schwierigkeiten und wirtschaftlichen Bedenken begegnet. Trotzdem die Vorratshaltung an Benzin und Dieselöl wesentlich besser ist als vor dem Kriege, liegt es im höchsten Landesinteresse, vorsorgliche Massnahmen zu treffen.

Die Welt rätselt über das Treffen zwischen Mussolini und Hitler am 4. Oktober auf dem Brenner. Selbst Goebbels weiss nicht, was die beiden Diktatoren ausgeheckt haben.

Rossier schreibt in der Gazette, dass Hitler und Mussolini mächtiger seien als selbst die grossen Vier, die einst den Vertrag von Versailles aushandelten:

Es ist zweifellos die frappierendste Tatsache der ausserordentlichen Zeit, die wir durchleben, dass zwei Männer, die weder von ihrer Geburt und noch von ihrer Erziehung dazu berufen schienen, sich über ihre Mitbürger zu erheben, jetzt auf der Weltkarte spielen. Sie sind, wie ich gesagt habe, ausserordentlich mächtig. Doch sind sie sich auch der Zeit gewiss?

Beim Schreiben seines Artikels gingen Rossier die Verse eines von ihm verehrten, aus der Mode gekommenen Dichters durch den Kopf. Sich an Napoleon wendend, dichtete Victor Hugo:

Dieu garde la durée et vous laisse l’espace;
Vous pouvez sur la terre avoir toute la place,
Etre aussi grand qu’un front peut l’être sous le ciel.
Sire, vous pouvez prendre à votre fantaisie
L’Europe à Charlemagne, à Mahomet l’Asie;
Mais tu ne prendras pas demain à l’Eternel.

Gott behält die Dauer und überlässt Ihnen den Raum. Sie können auf der Erde jeden Ort haben, so gross sein wie eine Front es auf dieser Erde sein kann. Sire, Sie können in Ihrem Geist Europa Karl dem Grossen wegnehmen und Asien Mohammed, aber Du wirst dem Ewigen nicht die Zukunft nehmen.

Für die Schweiz ist die Gefahr einer Invasion, wenn sie denn überhaupt je bestand, in die Ferne gerückt. Zwar ergehen sich deutsche Zeitungen und deutsche Gesprächspartner in orakelhaften Drohungen über eine Aufteilung der Eidgenossenschaft, aber die einflussreichsten Persönlichkeiten in der Regierung, der Partei und der Wehrmacht wünschen bloss, dass die Schweiz sich dem Reich gegenüber freundlich zeigt.

Hitler bestimmt ohnehin alles. Der Führer verschwendet seit der Schliessung des Waffenstillstands mit Frankreich keine Gedanken mehr an die Schweiz. In den Kriegstagebüchern Halders und des Oberkommandos der Wehrmacht, die nach 1945 zugänglich werden, taucht das Wort Schweiz in den letzten drei Monaten des Jahres 1940 nie auf. In den Geheimprotokollen der Gespräche, die Hitler in der zweiten Jahreshälfte mit ausländischen Staatsmännern führt, kommt die Schweiz nicht vor. Solange sich die Eidgenossen stillhalten und Deutschland ihre Produkte liefern, lässt Berlin sie in Ruhe.

Die Beruhigung der Lage erlaubt dem Bundespräsidenten eine zehntägige Erholungspause:

Vom 12. bis zum 22. Oktober haben Tillon und ich uns auf Les Chanays aufgehalten. Ich hatte ein dringendes Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf – nach den parlamentarischen Vorkommnissen vom September hatte ich kaum mehr geschlafen. Wir haben uns angestrengt, so natürlich zu sein wie möglich und zu tun, als ob nichts passiert sei.

Am 2. November notiert Pilet in seinem Livre de raison das Wesentliche, das sich im Oktober auf seinem Bauernhof abgespielt hat. Befriedigt stellt er fest, dass 25 % mehr Getreide gedroschen wurde als im Vorjahr. Die séléctionneurs hätten für das Jahr 5050 Kilogramm angenommen, die den Bauern von Essertines übergeben würden. Die Kartoffeln (Erdgold) sind von mittlerer Qualität, aber besser als der Durchschnitt. Die Sau hat neun Schweinchen geworfen. Eines war sofort tot und zwei wurden an den folgenden Tagen von ihrer Mutter erstickt. Für die Metzgerei im November hat Pilet ein 13/14-monatiges Schwein und für April zwei weitere.

Meisterknecht Frédéric und seine Frau haben Pilets neue Bedingungen angenommen. Der Hofbesitzer, skeptisch wie üblich, will sehen, ob sie sich daranhalten. Marie ist schwanger und erwartet im Mai ein zweites Kind. Sie klagt über Herzbeschwerden. Willy, ihr Sohn, ist gesund, mutig, wild, roh und grausam zu den Tieren. Die Eltern sind zu wenig streng mit ihm. Vielleicht könnte ein zweites Kind ein «ausgezeichnetes Korrektiv» sein. Emil Stauffer, der den im Militärdienst weilenden Frédéric für 25 Franken Wochenlohn vertreten hat, ist bereit, den Winter hindurch für 60/70 Franken monatlich zu bleiben. Vorausgesetzt er darf Französischstunden nehmen. Emil hat genug vom Militärdienst, dessen gegenwärtige Notwendigkeit er nicht einsieht. Im Dienst werde man bloss faul. Pilet im Rechnungsbuch:

Er hat mich gebeten, für ihn eine Dispensation vom Dienst zu beantragen. Ich werde dies à contre coeur tun, da ich nicht gerne etwas für mich verlange, aber um einen launischen Anfall (Wegzug nach Frankreich) zu verhindern, der seine Zukunft kompromittieren würde.

In gutem Zustand sind die Kühe, aber Linotte hinkt:

Ich habe den Veterinär benachrichtigt. Die Herde hat allgemein eine Tendenz zur Rachitis. Dies hat mir auch die Jury (Nationalrat Melly und Hptm. Rubattel) am Concours der Stiere bestätigt, an den ich am 15. Franco nach Gimel geführt habe. Er ist in der 1. Klasse mit 86 Punkten bewertet worden. Diesen Winter wird man Calcium geben. Ich weiss, dass der Boden entkalkt ist, was Futter und Kulturen beeinträchtigt.

Landwirt Pilet schreibt über getätigte oder geplante Käufe von gemahlenem Kalkstein, von Potassiumsalz und von Nitrophosphaten. Es gilt sich vorzusehen, denn die Preise werden steigen, und die Ware wird rar werden. Reparaturen am Dach, das im vergangenen strengen Winter sehr mitgenommen wurde, verursachen Kosten:

Solange ich die Ausgaben ertragen kann, möchte ich ein Gut in perfektem Zustand haben. Später? Wer weiss, was uns die Zukunft reserviert? Der Krieg breitet sich aus und verlängert sich. Das Elend gelangt nach Europa, das sich tollwütig zerstört. Moskau wartet und wacht.

Die drei letzten Sätze im Büchlein fassen Pilets Meinung über den Krieg zusammen. Weil er französisch denkt, hier seine genaue Formulierung:

La guerre s’étend et se prolonge. La misère gagne l’Europe qui se détruit avec rage. Moscou attend et veille.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

In der Nacht auf den Montag, 21. Oktober, überfliegen Staffeln von Whitney-Bombern auf dem Weg nach Italien schweizerisches Gebiet. Der Bundesrat verschiebt die bei einer neuen Neutralitätsverletzung angekündigte automatische Verdunkelung. Für den Wiederholungsfall beschliesst der Bundesrat,

schon vom folgenden Abend an ohne weiteres für das ganze Gebiet der schweizerischen Eidgenossenschaft die Verdunkelung auf unbestimmte Zeit anzuordnen sei, und zwar durch den Herrn General.

Thurnheer überbringt der britischen Regierung ein Memorandum, das die von ihr für die Neutralitätsverletzungen ins Feld gebrachten Argumenten entkräften will:

Motive der Opportunität vorzubringen, um gegenüber einem kleinen Staat nicht Wort zu halten, wäre nicht zu vereinbaren mit der Respektierung des gegebenen Wortes, die der Bundesrat glaubt, berechtigt zu sein, von Grossbritannien zu erwarten … Der Bundesrat schätzt den Geist loyaler Freundschaft der Regierung Seiner Majestät zu hoch ein, um daran zu zweifeln, dass eine Prüfung der Frage die Regierung dazu führen wird, die nötigen Befehle zu geben, um die vollständige Beachtung der gegenüber der Schweiz eingegangenen Verpflichtungen sicherzustellen.

Schon in der Nacht auf Mittwoch, 6. November, kommt es zu einer neuen schweren Verletzung der Schweizer Neutralität durch die Royal Air Force. Die Protestnote an Lord Halifax ist detailliert:

Zwischen 10 Uhr 10 und 11 Uhr 45 p.m. flogen ungefähr vierzig Flugzeuge in verschiedenen Gruppen von Nordwesten nach Südwesten und kreuzten den Rhein und den Jura zwischen Hallau und Les Verrières. Die Schweizer Bodenverteidigung eröffnete das Feuer und zerstreute mehrere Formationen, die umdrehten. Andere Formationen überkreuzten die südliche Schweizer Grenze zwischen Rolle und Champéry, Monte Leone und Ofenhorn, Mesocco und Poschiavo.

Es konnte sich demnach nicht um eine irrtümliche Verirrung der britischen Flieger handeln. Wie vom Bundesrat beschlossen, ordnet der General schon auf die kommende Nacht die Verdunkelung an.

Minister Kelly reagiert und schreibt Pilet:

Wie Ihre Exzellenz weiss, haben die Piloten der Royal Air Force strikte Befehle, in der Verfolgung von in Deutschland gelegenen militärischen Operationen die Überfliegung schweizerischen Gebiets zu vermeiden. Ich schreibe deshalb sofort, um Ihre Exzellenz darauf hinzuweisen, dass es nach Meinung technischer Experten für die besten Piloten äusserst schwierig ist, die Nordgrenze der Schweiz von anliegenden deutschen oder deutschbesetzten Gebieten zu unterscheiden, wenn auf beiden Seiten gleiche Dunkelheit herrscht, insbesondere bei Langdistanzflügen und Winterwetter. Da es keine Frage sein kann, die Verfolgung militärischer Ziele in Deutschland aufzugeben, werden Sie begreifen, dass das Risiko irrtümlicher Bombenabwürfe über Schweizer Gebiet notwendigerweise zunehmen muss.

Pilet antwortet umgehend:

Es ist nicht leichten Herzens – wir bitten Sie, dessen sicher zu sein –, dass der Armeekommandant in Übereinstimmung mit dem Bundesrat eine Massnahme befohlen hat, die der Schweizer Bevölkerung lästige Unannehmlichkeiten verursacht und auf verschiedenen Gebieten schwere Nachteile und Risiken nach sich zieht.

Die Neutralitätserklärung von 1815 verpflichte die Schweiz, «in keiner Weise eine kriegführende Partei zugunsten der anderen zu begünstigen». Sie werde sich daran halten. Dank der Beleuchtung hätten die britischen Flieger beim Überflug der Alpen gute Bedingungen gehabt. Nachdem die Regierung Seiner Majestät sich über die legitimen Proteste der Schweiz hinweggesetzt habe, müsse sie gerechterweise die Verantwortung übernehmen.

Pilet hat mit Kelly ein freundschaftliches Verhältnis. (Er hat, wie Jacques Pilet später berichten wird, den Gesandten sogar einmal abends zu sich nach Les Chanays eingeladen, damit er selber sehen kann, wie britische Bomber das Waadtland überfliegen.) Pilet schliesst seine Worte mit der persönlichen Bitte an Kelly, seiner Regierung klarzumachen, dass die von ihr zugelassene straflose Überfliegung der Schweiz für das Land grosse Gefahren in sich birgt. Sie möge «endlich die geeigneten Massnahmen » treffen, um neue Zwischenfälle zu vermeiden:

Wenn wir die Sicherheit hätten, dass der schweizerische Luftraum nicht mehr absichtlich durch die britische Luftwaffe verletzt würde, würden wir mit Erleichterung die Möglichkeit in Betracht ziehen, die Massnahme rückgängig zu machen, welche die Verfehlungen, die sich ereignet haben, uns aufzwingen.

Die Überflüge werden weitergehen, die Verdunkelung bleibt.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 23.06.2024

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