72. Manöverluft Aus «Staatsmann im Sturm»

Am selben Mittwoch, 14. September, an dem das Parlament die Audienzaffäre begräbt, laufen an einem geheimen Ort im bergigen Gebiet zwischen Zentral- und Ostschweiz grosse, von Labhart geleitete Manöver des 4. Armeekorps. Zweck der Übung ist die Schulung der Truppe für den Abwehrkampf im Réduit. Lehren aus dem Norwegen- und dem Frankreichkrieg sollen gezogen, den Soldaten moderne flexible Gefechtsmethoden beigebracht werden. Weil alles vor ausländischen Augen abgeschirmt werden soll, ist selbst der Bundesrat erst am Vortag zum Manöverbesuch eingeladen worden. Die Regierung hat an ihrer ausserordentlichen Mittagssitzung Minger und Etter an die Manöver delegiert, Pilet würde ihnen sobald wie möglich nachfolgen.

Die wichtigste Lektion der deutschen Blitzkriegsführung besteht darin, dass ein Angriff überraschend und mit höchster Geschwindigkeit erfolgt. Es muss also schnell reagiert werden. Am Sonntag bringt ein Motorfahrer dem Kommandanten von «Rot» den Angriffsbefehl. In Windeseile wird seine Truppe aus dem mehrwöchigen Urlaub aufgeboten. In der nächsten Nacht schon marschiert sie ins Manövergebiet. 

Der General hat das Ziel festgelegt: Ein Sektor des Réduits soll im Rahmen einer grossen Einheit angegriffen und verteidigt werden. Innert Rekordfrist hat Oberst Kobelt, Labharts Stabschef, das Szenario und die Befehle für die Übung ausgearbeitet. Das für die kriegsmässige Übung gewählte Gebiet Schindellegi gilt als eines der verwundbarsten im Réduit. Stabschef Barbey, der den General begleitet, hält ein Manöver von derart grossem Umfang für nötig:

Wir müssen jetzt den typischen Auftrag wiederholen mit dem Angriff und der Verteidigung unserer neuen Réduitstellungen.

Der General, die Manöverleitung, eingeladene hohe Offiziere und Einheitskommandanten logieren in dem am Zürichseeufer gelegenen Hotel Schwanen in Rapperswil. An der grossen Abendtafel, an der auch die Bundesräte Minger und Etter teilnehmen, sorgt der süffige Malanser für Stimmung. Um 10 Uhr abends taucht Pilet auf. Barbey im Tagebuch:

Er trägt ein Sporttenue zur Schau – Baskenbéret, Pullover, Skischuhe, helle Handschuhe – was bei den Militärs sogleich Lächeln und Bemerkungen auslöst. Tatsächlich fragt man sich warum: Wieso sollte der Bundespräsident es sich nicht bequem machen, um die Truppe im Feld zu sehen, zu einer Zeit, wo ganz Europa Schlachtuniform trägt und in einem Land, das sich sehr sportfreundlich gibt? Es ist dies ein recht irritierendes bourgeoises Vorurteil. Unsere Offiziere sind tatsächlich immer noch mit ihrem unglaublichen Stehkragen ausstaffiert, der an die Galas des Wiener Kaiserhofs erinnert oder an die Prunkuniform des alten Königs von Schweden.

Beim Anblick der hohen Militärs macht sich Barbey so seine Gedanken. Ist ihr Auftreten anachronistisch? Ist ihr jungenhaftes, fast pueriles Auftreten, ihr Gelächter bei Tisch bloss die Folge einiger guter Flaschen? Barbey weiter:

Man kann aber auch fürchten, dass ihnen, mindestens einigen unter ihnen, das Drama dieses Kriegs fern liegt. Es geht nicht darum, sittenstreng – austère – zu sein. Im Gegenteil, es ist natürlich, dass Kriegsleute zusammen trinken und fröhlich sind. Aber man wünschte sich, dass dies nicht in der genau gleichen seligen Gemütsruhe geschieht wie an den Schützenfesten von einst.

In der Nacht gibt es für die Manöverbesucher wenig Schlaf. Bei einem zufälligen Zusammentreffen im Gang bittet Bundesrat Etter seinen schriftstellernden Zimmernachbar Major Barbey, ihm eine Widmung in seinen neusten Roman zu schreiben.

Donnerstag, 15. September, Frühe Tagwacht. Die Truppe hinterlässt bei den Kämpfen an den waldigen Hängen des Etzels einen guten und disziplinierten Eindruck. Labhart, «wie immer intelligent und perfekt didaktisch», macht Manöverkritik. Tagebuch Berbey:

Er interessiert und er instruiert. Schade, dass ihm in Sprache wie im Blick ein wenig Wärme, ein wenig Menschlichkeit fehlt. Aber er besitzt diese Mischung von bon sens und Fähigkeit zur Synthese, die wir brauchen.

Labhart und Guisan mögen sich nicht leiden. Barbey, Guisans treuer Stabschef, bemüht sich um eine gerechte Beurteilung auch der Gegner seines Generals.

Das Mittagessen nimmt Barbey mit den drei Bundesräten und Verbindungsoffizier Bracher ein. Die fünf sind auch während des Nachmittags immer zusammen. Minger gibt seine berühmten Dialektgeschichten zum Besten. Pilet ist froh, die ambiance de la troupe wiederzufinden. Nach dem Wirbel um die Audienzaffäre kann er eine Weile aufschnaufen. Barbey notiert:

Ich höre M. Pilet umso genauer zu, als ich vorausfühle, dass die Atmosphäre dieser Zusammenkunft sich lange nicht mehr wiederholen wird. Was er sagt, ist scharf, enthält einen Teil von Wahrheit, der berührt oder der beeindruckt oder auf irgendeine Weise trifft, selbst wenn die Verallgemeinerung voreilig erscheint, oder selbst wenn sie der Willkür oder der Ungerechtigkeit nahe kommt. Im Grunde genommen handelt es sich bei allem oder fast allem, was er sagt, um Anspielungen auf einen bestimmten Fall, um ein Argument ad hominem.

Hptm. Edmund Wehrli, der auf Seite Rot an den Kämpfen teilnimmt, beschreibt in einem Brief an Frau und Eltern, die Stimmung im Landvolk. Am Montagabend richtet sich sein Bataillon in Wollerau zur Übernachtung ein: 

Oben im Haus bei den Leuten sorgten wir für Ess- und Schlafmöglichkeiten. Eine junge Frau mit zwei Kindern, 3. und 4. Klasse, war sehr nett. Nur klagte sie, die Kinder hätten wegen all der vielen Soldaten die Aufgaben nicht gemacht. Es war schon etwa 20.00 Uhr. Da ich Ortskommandant war, befahl ich sofort, das Schulhaus zu besetzen und entweder als Quartier zu benutzen oder zur Verteidigung einzurichten, jedenfalls so, dass am andern Tag keine Schule gehalten werden konnte. Könnt Euch das Fest vorstellen!

Wehrli schläft den Schlaf des Gerechten. Sein Bataillon marschiert wie befohlen in der Morgenfrüh los. Indessen rasiert sich der Kommandant gemütlich. Als er mit seinem Adjutanten aufs Pferd will, ist dieses schon vom Bataillon mitgenommen worden:

Also spazierten wir zwei gemütlich zu Fuss hinter dem Bataillon her. Unterdessen hörte man schon emsiges Geschiesse. Wir suchten den Kommandoposten, fanden ihn aber nicht. Mit der Zeit wurde die Sache immer komischer, wir lachten sehr ob dem Bild, dass der Bataillonskommandant mit seinem Adjutanten sein Bataillon suchen musste. Schliesslich fanden wir den Kommandoposten. Es war natürlich in dieser Stunde allerhand passiert. Ich machte ein wichtiges Gesicht, liess mir die Lage vortragen und gab sofort Befehle für die weiteren Operationen, 5 Minuten später war das Bataillon schon wieder in Bewegung und alles klappte.

Bei einem Bauernhaus in der Nähe von Feusisberg war die Strasse gesperrt:

Plötzlich kamen zwei mächtige Luxusautos, und der Herr Minger stieg aus. Ich begrüsste ihn. Er hatte noch zwei Chläuse bei sich, alle in Zivil. Da ich nur Minger kannte, standen sie etwas überflüssig daneben, bis mich Minger den andern auch vorstellte. Es waren Pilet-Golaz und Etter. Die Mannschaft lacht sich ins Fäustchen. Unterdessen hatten die Bauernmeitli des Hauses sich in Trachten gestürzt und überbrachten den drei Bonzen Blumensträusse. Dann wurden sie noch abfotografiert. Minger wollte sich bei der Truppe populär machen. Er ging zu einer Maschinengewehrstellung. Der Wachtmeister, der das Gewehr befehligte, sagte zu ihm: »Sind Sie nicht der Bundesrat Minger?» Antwort, ja. Darauf der Wachtmeister: «So, das freut mich.» Dann zogen die Bonzen wieder ab. Ein Soldat sagte nachher, das sei jetzt die zweite Audienz gewesen des Bundesrats mit den nationalen Kreisen!

Helvetische Idylle. Die Bundesräte, die in der Herbstsonne Blumensträusse entgegennehmen, werden für kurze Zeit vergessen haben, dass im Süden und Westen der Schweiz der Krieg tobt. 

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Bei nächtlichen Bombenangriffen auf London und Südengland sind 90 Menschen getötet worden. Die Royal Navy stoppt die italienischen Truppen in Libyen auf ihrem Vormarsch zum Suezkanal. Ribbentrop ist an der Stazione Termini in Rom feierlich empfangen worden. Die gespannte Lage auf dem Balkan, ein Angriff auf Gibraltar und der vor dem Abschluss stehende Dreimächtepakt Deutschland-Italien-Japan sind Themen der Römer Gespräche. Die United Press veröffentlicht den Bericht eines amerikanischen Konteradmirals:

Im Pazifik folgen sich die Ereignisse sehr rasch und es scheint, dass der von den Strategen seit langem vorhergesehene Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan nicht vermieden werden kann.

Ähnlich wie die helvetischen Magistraten Pilet, Etter und Minger besuchen auch britische Royals an jenem Spätsommerdonnerstag ihre Schäfchen. König Georg VI. sieht sich die Schäden besonders betroffener Quartiere des East End an, tröstet Verletzte und beglückwünscht Helfer. Glück hat der Herzog von Kent auf ähnlicher Mission. Sein zum Stillstand gekommenes Auto wird von einem durch eine explodierende Zeitbombe ausgelösten Hagel von Steinen und Erde zugedeckt. Der Duke entsteigt unversehrt dem Wagen und begutachtet die Explosionsstelle. Londoner Alltag.

Derweil trudelt in Etters Zugerland die bundesrätliche Limousine dem Ägerisee entlang. Etter lässt den Wagen anhalten. Eine um den 85-jährigen Grossvater gescharte Fischerfamilie lädt Bundesräte und General, die noch das opulente Mittagessen verdauen, zu einer knusprigen Friture von Zugerseefischen ein, arrosé de Maienfeld. In Neuägeri Zwischenhalt mit weiteren verres d’amitié. Minger gerät immer mehr in Schwung.

Bundespräsident und General besteigen endlich den offenen Buick und fahren nach Gümligen. Worüber reden die beiden Waadtländer? Im Schloss wird bei Kerzenschein gespiesen. Ein nachdenklicher Barbey schreibt:

Bern ist nahe. Unsere Bundesräte sind wieder zurück bei ihren Sorgen. Der Präsident spricht zu mir über Telefonanrufe, die ihn in der Nacht aufspringen lassen.


«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne, 12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv 

Beitrag vom 02.06.2024

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