7. Abhörprotokolle Aus «Staatsmann im Sturm»

Pilet verfolgt die Nachrichtensendungen auch deshalb genau, weil er gut informiert sein will. Schon als Präsident der Lausanner Sektion von Belles-Lettres oder als Offizier lag ihm daran, mehr zu wissen als seine Kameraden. Man kann nur richtig entscheiden, wenn man genau Bescheid weiss.

Pilet erwartet von seinen Mitarbeitern, dass sie alle Aspekte der Frage gründlich studieren und ihm Bericht erstatten. Oft gibt er seine Weisungen schriftlich und erwartet schriftliche Antworten. Gegenüber Parlament und parlamentarischen Kommissionen besitzt er fast immer einen Wissensvorsprung, aus dem er kein Geheimnis macht. Nicht alle schätzen seine Neigung zu Rechthaberei. Eine von Pilet regelmässig benutzte Informationsquelle sind die Zeitungen.

Die grossen Schweizer Blätter geben die von den internationalen Nachrichtenagenturen verbreiteten offiziellen Meldungen, besonders die Heeresberichte aus dem Ausland, wieder. Sie drucken ausführliche Zusammenfassungen der Reden ab, die von den massgeblichen ausländischen Staatsmännern gehalten werden. Ihre Leser können sich dann selber einen Reim machen. Die wichtigsten Blätter beschäftigen kluge Kommentatoren und kompetente Militärexperten, die oft besser imstande sind, das Geschehen auf dem diplomatischen Parkett und den Kriegsschauplätzen zu analysieren als die Mitarbeiter von Oberst Massons Nachrichtendienst.

Marcel Pilet liest seit seiner Jugend die Gazette de Lausanne, die er zusammen mit dem Parteiblatt La Revue abonniert hat. Die Gazette, die unbestritten beste Zeitung der welschen Schweiz, ist Pilets Leibblatt, das er täglich sorgfältig liest. In Inhalt und Stil braucht sie den Vergleich mit den besten Pariser Blättern nicht zu scheuen. Redaktoren und Mitarbeiter zeichnen ihre Artikel mit Namen oder den Lesern bekannten Kürzeln. Dies unterscheidet die Gazette von der Neuen Zürcher Zeitung, die in der Deutschschweiz eine ähnlich dominierende Stellung hat wie sie. Die anonymen Artikel in der NZZ geben nicht die Meinung der einzelnen Artikelschreiber wieder, sondern die Meinung der Zeitung. Während sich die Gazette um eine allgemein verständliche Sprache bemüht, bildet sich die NZZ viel auf ihre kunstvoll aufgebaute Satzkonstruktion ein. Sie vermeidet die Nennung von Namen als Quellen und spricht lieber von «gut unterrichteten Kreisen». Eigentlich ist das Blatt an der Falkenstrasse, auch «alte Tante» genannt, nur für Eingeweihte wirklich verständlich. Wenn Pilet eine Deutschschweizer Zeitung liest, was er nicht regelmässig tut, zieht er die Basler Nachrichten Oeris vor. Er durchblättert andere welsche Zeitungen und renommierte französische Publikationen. Zu wichtigen Fragen, die sein Departement oder den Gesamtbundesrat betreffen, schneiden seine Mitarbeiter für ihn einschlägige Zeitungsartikel aus.

Seit Kriegsbeginn sind auch ausländische Radiosendungen für Pilet eine Informationsquelle. Ende August 1939 ist im «Office», der Direktion des verstaatlichten Schweizer Rundspruchs, eine Radioabhörstelle eingerichtet worden – wahrscheinlich auf Anordnung von Pilet persönlich. Die wichtigsten, von den offiziellen Rundfunkanstalten in Deutschland, Frankreich, Italien und England ausgestrahlten Meldungen werden an der Berner Neuengasse abgehört und auf Wachswalzen aufgenommen. Stenografinnen erstellen dreimal täglich einen «Abhörbericht». Pilet verlangt von den Abhörern, dass sie die Meldungen der ausländischen Sender sachlich und kommentarlos zusammenfassen. Die 23 gedruckten Exemplare gehen anteils namentlich genannte Personen in der SR-Direktion an der Neuengasse, in der PTT-Generaldirektion, im Bundeshaus und im Generalstab der Armee.

Pilet als Chef des Postdepartements kriegt noch andere Abhörprotokolle, nicht als gedruckte Berichte, sondern in der Form von Kohlekopien auf Transparentpapier. Sie sind geheim, denn die Öffentlichkeit darf nicht wissen, dass Telefonate heimlich abgehört werden. Seit bald zwei Jahren belauscht die von Muri geleitete TT-Direktion Telefongespräche ausländischer Gesandtschaften und verdächtiger Personen. Die Schweiz tut, was im Ausland gang und gäbe ist.

Dass Telefonleitungen angezapft und Briefe geöffnet werden, ist bald kein Geheimnis mehr. Dies zeigt das Gespräch eines Unbekannten mit dem Deutschen Generalkonsulat Zürich: 

Herr: Ich möchte an den deutschen Radiodienst in Stuttgart eine Meldung machen. Wissen Sie, ob die Briefe geöffnet werden? Konsulat: Das kann sein, es werden Stichproben gemacht. Herr: Von welcher Seite? Konsulat: Von beiden natürlich. (rot unterstrichen von Muri)

Im Konsulat in Zürich ist man der schweizerischen Zensur gegenüber noch misstrauischer als in der deutschen Gesandtschaft. Anfrage an die Gesandtschaft in Bern:

Konsulat: Frl. Stark, können Sie mir sagen, ob in der Schweiz irgendeine Verordnung besteht, als Kriegsmassnahme, wonach Briefe zensuriert werden? Ich meine, dass schweizerischerseits Briefe geöffnet werden? Wenn so etwas als Verordnung existierte, so müssten Sie es registriert haben. Frl. Stark: Nein, schweizerischerseits gibt’s das nicht. Wenn Briefe geöffnet werden, war das immer von der deutschen Zensur gemacht. (Dicker Strich von Pilet am Rande von Frl. Starks Antwort.)

Pilet ist sich klar darüber, dass staatliche Schnüffelei Anlass zu scharfer Kritik geben kann. In der internen Diskussion über die Telefonabhörung hat er angemerkt:

Wollen wir wirklich so weit gehen und vor allem wollen wir dies öffentlich bekanntgeben? Was mich betrifft, würde ich dies nie tun. Diese Art von Kontrollen müssen inoffiziell und diskret bleiben, wenn man es für unerlässlich hält, sie vorzunehmen.

Die Protokolle, die bei Pilet landen, sind fast ausschliesslich deutsch abgefasst. Die Gefahr kommt von Norden und deshalb werden die Telefonanschlüsse von deutschen Amtsstellen und von verdächtigten Nazisympathisanten in der Schweiz besonders aufmerksam abgehört.

Zum Autor

Schriftsteller Hanspeter Born

 

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit – Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

Im Oktober nach der Kapitulation Polens häufen sich die Durchschlagskopien auf Pilets Pult. Die meisten mitgehörten Gespräche sind belanglos. Ausländische Diplomaten ebenso wie Schweizer Sympathisanten von Nazis und Kommunistenhaben erraten, was gespielt wird, und sind vorsichtig geworden. Gelegentlich findet sich im Schlamm ein Goldkörnchen. So kann die Telephondirektion Zürich am 8. Oktober ein «dringendes Staatsgespräch» zwischen Eugen Dollman in Rom und Jochen in Berlin abhören. «Jochen», Standartenführer Joachim Peiper, war Adjutant des mächtigen Reichsführers Heinrich Himmler und Dollmann SS-Beauftragter in Italien.

Rom: Ich habe gestern seine Exzellenz [Aussenminister Ciano] gesprochen und es ist alles in vorzüglicher Ordnung. Wir erwarten den Reichsführer um 11.45 in Mailand. Es werde streng privat und streng zivil gehalten. Am besten sei gar keine Uniform, sondern dunkler Anzug, aber kein Frack oder Smoking. Der Reichsführer soll Zigarren mitbringen, während Rom Zigaretten zum Verteilen bereithalten soll. Seine Exzellenz bringt eine Kiste mit verschiedenen Sachen für den Reichsführer mit. Wenn der Reichsführer Skizzen über den Polenfeldzug mitbringen könnte, hätte seine Exzellenz grosses Interesse.

Vieles im Abhörprotokoll bleibt rätselhaft. Was ist das «Ganze», das sich am Lago di Como abspielen soll? Wieso wird das geplante Treffen Ciano-Hitler am Comersee streng geheim gehalten? Pilets blauer Federstrich am Anfang des Aufnahmeprotokolls zeigt, dass er sich der Brisanz des Gesprächs bewusst ist. Aber hat er eine Ahnung, dass es an der italienisch-deutschen Geheimkonferenz vom 11. bis 13. Oktober 1939 um die hochpolitische Frage der Aussiedlung der Reichsdeutschen aus Südtirol gehen wird? Am Schluss des Abhörprotokolls über das Gespräch Rom-Berlin findet sich die Bemerkung:

Das Gespräch wurde irrtümlicherweise über eine Schweizerleitung geführt. Die Berliner Telephonistin sagte nach dem Vergleichen plötzlich: «Mein Gott, wir haben ja eine eigene in Rom!»

Auch die Nazis kochen nur mit Wasser. In einem anderen aufgezeichneten Telefongespräch (17. Oktober) beklagt sich eine Frau Probst bei der Deutschen Gesandtschaft über die Schweizer:

Es ist eine Schande, wie man hier behandelt wird, das Volk ist so hässlich zu uns, ich bin doch schon lange in der Schweiz. Man sollte es der Polizei melden, das Volk ist so verbittert gegen uns, ich habe fürchterliche Sachen durchzustehen. Ich bitte Sie, etwas zu machen. Deutsche Gesandtschaft: Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür und werde sehen, was zu machen ist.

Zwei blaue Randstriche beweisen, dass die Meldung Pilet interessiert. Ebenfalls einer seiner blauen Randstriche findet sich in der Abschrift einer Mitteilung des Luftfahrtministeriums in Berlin an die Berner Gesandtschaft: 

Ich habe etwas durchzugeben wegen der Grenzverletzung von heute Nachmittag bei Stühlingen durch 2 zweimotorige Kampfflugzeuge. Erhielten von den Schweizern 25 Schüsse, sind aber zu uns zurückgekehrt.

Regelmässig belauscht werden die Leitungen des Hotels Bellevue in Bern, wo ausländische Diplomaten und Politiker absteigen. Der Abhördienst kann die Teilnehmer an einem offensichtlich brisanten Gespräch nicht eruieren. Er vermutet aber, dass einer der Abgehörten der vorübergehend im Hotel wohnende deutsche Militärattaché Oberst Ilsemann ist.

Unbekannt: Sie haben also nicht den Eindruck, dass der Entschluss gefasst ist, strategisch.

Ilsemann: Nein, der ist sicher noch nicht gefasst worden, auf deutscher Seite sicher noch nicht und auf französischer Seite komme ich mehr und mehr zur Überzeugung, dass sie gar nicht den Angriff machen können oder wollen, weil sie nicht wissen, was sie im Süden einsetzen müssen. Sie sind also gebremst in einer Hinsicht, die sie nirgends in Erscheinung treten lassen. Man spricht von ganz anderen Dingen, aber man spricht nicht davon, dass man unter Umständen einen Drittel der Armee im Süden muss bereithalten. Auch wenn der dort unten [Mussolini] keine Lust hat zum Mitmachen, so könnte es plötzlich doch ganz anders kommen.

Datum des Telefonats: 20. Oktober 1939. Nach dem Polenfeldzug sind grosse deutsche Truppenverbände nach Westen verlegt worden. Geht es dort bald los? Für den Bundesrat ist aufschlussreich, wie der deutsche Militärattaché in Bern die Lage einschätzt: 

Ich glaube eher an ein konzentrisches Handeln von deutscher Seite und von französischer Seite glaube ich auch, dass man noch viel länger zusehen wird, wenn die Engländer nicht drücken. Die Engländer sind ja immer noch Dilettanten genug, um zu glauben, man könnte es auch anders machen.

In einem abgehörten Gespräch (21. Oktober) möchte der freisinnige Nationalratsfraktionschef L. F. Meyer mit dem deutschen Gesandten Otto Carl Köcher vertraulich etwas besprechen. «Aber ja natürlich gern», sagt Köcher. Meyer berichtet, dass der deutsche Grossindustrielle und Reichstagsabgeordnete Fritz Thyssen «mit Frau, Schwiegersohn, Tochter und Enkel als politischer Flüchtling in die Schweiz gekommen ist». Thyssen, der Hitlers Aufstieg mitfinanziert hat, glaubt, der Krieg gegen England werde zum Untergang des Reichs führen. Er verlangt einen Waffenstillstand und Verhandlungen. Die Familie hat provisorisches Asyl erhalten. Thyssen sei nun zu ihm gekommen, vermutlich um die Sache mit dem definitiven Asyl einzurenken. Meyer sagt dann weiter, «Thyssen ist schliesslich ein Name» und es liege weder in deutschem noch schweizerischem Interesse, dass die Familie als Flüchtlinge in der Schweiz bleibe.

Ich habe probiert, ihm Vernunft beizubringen und habe angeregt, ob er mich ermächtige, mit Ihnen den Fall zu besprechen. Köcher: Ja, ich stehe zur Verfügung. Meyer: Göring hat nämlich bereits zwei Männer, Vögler und Bünzgen, in die Schweiz kommen lassen, um ihn zur Rückkehr zu veranlassen, mit Zusicherung, dass ihm nichts geschehe. Das hat er aber abgelehnt. Er hat einen Steckgrind, das tue er nicht, er sei mit der Regierung Hitler nicht einverstanden. Er war ja der grosse Finanzmann.

Meyer sagt weiter, Thyssen sei in grosser Aufregung. Ob Köcher mit Berlin Fühlung aufnehmen könne. Die nächste Passage ist von Muri rot angestrichen: Die Sache ist ungemein heikel. Wir könnten uns beide die Finger daran verbrennen. Man muss ihm sagen, er soll im Ausland bleiben, aber sich absolut ruhig verhalten. Ich habe Herrn Motta gar nicht gesagt, dass ich mit Fritz Thyssen darüber verkehre. Köcher ist bereit, mit Meyer über die Sache zu reden. Es ist Krieg, die Schweizer hassen die Deutschen, aber der Umgang zwischen dem einflussreichen Luzerner Politiker und dem in Basel aufgewachsenen Gesandten – seine Mutter ist Schweizerin –bleibt vertrauensvoll, fast freundlich. Gut zu wissen.



«Staatsmann im Sturm»

Cover: Staatsmann im Sturm

zvg

Hitlers Blitzsiege machten 1940 zum gefährlichsten Jahr in der jüngeren Geschichte der Schweiz. Das völlig eingeschlossene Land war auf Gedeih und Verderb Nazi-Deutschland ausgeliefert. Die Last seiner Aussenpolitik lag auf den Schultern von Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Mit viel Geschick steuerte er die Schweiz unbeschadet durch stürmische Monate. In der Geschichtsschreibung gilt der Waadtländer als «Anpasser», der den Nazis zu Gefallen war. Hanspeter Born zeichnet ein anderes Bild des Juristen, Schöngeists und Landwirts aus der Romandie. Seine auf Primärquellen, teils unbekannte Dokumente aus dem Familienarchiv Pilet, beruhende Studie wertet den Umstrittenen als klugen und standfesten Staatsmann.

«Die kapitale Mission des Bundesrates in den gegenwärtigen Zeitläufen besteht darin, das Land in der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten. Sein Wille, hiefür seine ganze Energie und seine ganze Umsicht einzusetzen, braucht keinerlei besondere Erwähnung. Dinge, die sich aufdrängen und über jeder Diskussionstehen, verlieren, wenn man sie wiederholt.» Marcel Pilet-Golaz, Lausanne,12. September 1940


Hanspeter Born, Staatsmann im Sturm. Pilet-Golaz und das Jahr 1940. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 540 Seiten, CHF 32.–. ISBN 978-3-907 146-72-, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: KEYSTONE-SDA / Photopress-Archiv

Beitrag vom 05.03.2023

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