52. Die Sowjets in Genf Aus «Politiker wider Willen»

Die Westmächte Frankreich und Grossbritannien sind beunruhigt über Japans expansionistische Politik und über die von Hitler betriebene deutsche Aufrüstung. Sie suchen deshalb eine Annäherung an die Sowjetunion. Paris, unterstützt von London und Rom, setzt sich für die Aufnahme Moskaus in den Völkerbund ein. Maxim Litwinow, Stalins Volkskommissar des Äusseren, ist bestrebt, das Land aus seiner diplomatischen Isolierung heraus und in den Völkerbund hineinzuführen. Litwinow ist ein brillanter, erfahrener Diplomat mit hervorragenden Sprachkenntnissen, den viele westliche Kollegen schätzen.

Wie soll die Schweiz sich verhalten, wenn in Genf über die Aufnahme der Sowjetunion abgestimmt wird? Am 3. September 1934 bespricht die aus Motta, Pilet und Schulthess bestehende aussenpolitische Delegation des Bundesrats diese Frage mit Mitgliedern der Schweizer Völkerbundabordnung und andern Experten. Frankreich, Grossbritannien und Italien sind beim Bundesrat vorstellig geworden, um für die Stimmenthaltung der Schweiz zu werben, wenn sie aus innenpolitischen Gründen nicht ja stimmen könne.

Motta meint, dass die Stimme der Schweiz keine praktische Bedeutung habe, da es ohnehin klar sei, dass Russland aufgenommen werde: «Wir haben also nur zu verlieren und nichts zu gewinnen, wenn wir uns einer Aufnahme widersetzen.» Motta findet, eigentlich sollte die Schweiz ja stimmen. Weil dies angesichts unserer öffentlichen Meinung aber kaum möglich sei, solle sie sich der Stimme enthalten. William Rappard, der Direktor des Genfer Institut de Hautes Etudes Internationales, teilt Mottas Meinung.

Anders tönt es von Seiten der nachfolgenden Redner. Minister Walter Stucki erinnert daran, dass die sowjetische Führung immer einen offenen Kampf gegen den Völkerbund geführt habe und dass sie nun bloss wegen ihrer Spannungen mit Japan dabei sein wolle: «Selbst wenn wir die Einzigen sind, stimmen wir nein.» Für Nein sind auch Ständerat Robert Schöpfer und Nationalrat Albert Oeri. Camille Gorgé, Abteilungsleiter im Politischen Departement, befürwortet Stimmenthaltung. Schulthess plädiert für Nein, will es aber Motta überlassen, die Lage neu zu über prüfen, wenn sich ein Nein für die Schweiz als politisch gefährlich erweisen sollte. Dann spricht Pilet:

Man muss Nein stimmen. Der Bundespräsident [das heisst er Pilet selbst] hat M. Rappard mit grossem Interesse zugehört, aber er ist nicht imstande, die Lage mit dem gleichen Abstand zu betrachten. Er fragt sich, wozu der Völkerbund überhaupt noch dient. Dieser ist ja bisher mit allen seinen Versuchen gescheitert. Er ist ein Instrument der Grossmächte geworden und die Demarche, welche drei von ihnen beim Bundesrat gemacht haben, ist sehr unangenehm. Anderseits sind die innenpolitischen Erwägungen entscheidend.

Wenn der Bundesrat sich der Stimme enthielte, würde er der Unzufriedenheit der nationalen Parteien Vorschub leisten. Indem er Nein stimmt, ist der Bundesrat in einer besseren Position, um eine allfällige Initiative für einen Austritt aus dem Völkerbund zu bekämpfen. Dem Völkerbund anzugehören, ist trotz allem zu unserem Vorteil.

Nach Anhörung Pilets und der anderen Redner erklärt Motta, dass er seine ursprüngliche Meinung – Stimmenthaltung – geändert habe und jetzt für das Nein sei. Die aussenpolitische Delegation des Bundesrats schlägt dem Gesamtbundesrat vor, einstimmig für ein Nein einzutreten. Was dieser tut. In Genf hält Motta eine auch im Ausland stark beachtete Rede gegen den Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund. Bei der Abstimmung im Plenum ist die Schweiz nicht allein, auch Portugal und Holland stimmen gegen die Aufnahme.

Zum Autor

Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».

 

Der Einzug der von Litwinow geleiteten sowjetischen Delegation in Genf wird von der bürgerlichen Presse mit Missfallen registriert. Als Genfer Regierungspräsident will Nicole den frostigen Empfang wettmachen, indem er die russische Delegation am Eingang zum Völkerbundspalast mit Blumenstrauss begrüsst. Er schickt dem Bundesanwalt zudem Exemplare zweier rechtsgerichteter Genfer Zeitungen, die den sowjetischen Aussenminister beleidigt haben.

Oltramares Le Pilori hatte eine Zeichnung veröffentlicht, auf der die russische Delegation durch ein Schädelspalier marschiert und dazu die Legende: «Messieurs les assassins soyez les bienvenus.» Der Courrier hatte Litwinow als «ehemaligen Gangster, Dieb und Mörder» beschimpft. Der Bundesanwalt erteilt den zwei Blättern einen Verweis.

An einer politischen Versammlung in Genf hält ein Nazigegner eine Rede auf Deutsch, die Nicole übersetzt und mit eigenen Kommentaren ergänzt. Dabei redet der höchste Genfer Magistrat vom «hitlerschen Stiefel» und vom «Naziterror». Er nennt den kurz vorher in Marseille ermordeten jugoslawischen König Alexander einen «Tyrannen» und meint, der beim Anschlag ebenfalls getötete französische Aussenminister Barthou habe jetzt den Preis für den ungerechten Versailler Frieden bezahlt. Auf Nicoles Ausfälle aufmerksam gemacht, rügt ihn der Bundesrat in einem «vertraulichen Brief». Nicole habe die Grenzen überschritten, die eine mit Regierungsaufgaben betraute Person nicht übertreten dürfe:

Wir bedauern, dem Präsidenten einer kantonalen Regierung mit diesen Worten schreiben zu müssen, und wir sind geneigt, diese Demarche mit aller Diskretion zu behandeln. Aber wir hoffen, dass Sie ihr aufs Ernsthafteste Rechnung tragen werden.

Nicole antwortet dem Bundesrat trocken, «er habe nur seine verfassungsmässig garantierten Rechte auf freie Diskussion und Kritik» wahrgenommen. Ausserdem publiziert er den bundesrätlichen Brief und seine eigene Antwort in Le Travail, wo er von einem neuen «germanophilen Akt» des Bundesrats spricht. Dies können sich Pilet-Golaz und seine Kollegen nicht gefallen lassen. Motta will, dass der Bundesrat Nicole antwortet und die ganze bisherige Korrespondenz mit ihm veröffentlicht. Der Bundesrat ist einverstanden und publiziert den Brief mit einigen von Pilet vorgeschlagenen stilistischen Änderungen.

Jede Diskussion mit ihm sei steril und wertlos, schreibt der Bundesrat an Nicole:

Da es dabei um Weisheit und Takt geht, laufen unsere Argumente aneinander vorbei … Eines der Mittel, die wir haben, um die Auswirkungen einer solchen Haltung abzufedern, besteht darin, sie öffentlich zurückzuweisen. Was wir hiermit tun.

Im November befindet sich der Kanton Genf in einer trostlosen Lage. Die Staatskasse ist leer, die Banken gewähren keine neuen Kredite. Finanzdirektor Albert Naine, wie sein verstorbener Bruder Charles ein gemässigter pragmatischer Sozialist, versucht das Menschenmögliche, um das Kantonsbudget ins Lot zu bringen. Trotzdem wird er Ende Monats die Löhne der Kantonsangestellten nicht mehr bezahlen können. Die Genfer Regierung hofft auf Hilfe vom Bund.

Am 22. November 1934 fährt der Genfer Staatsrat in corpore nach Bern, wo er um 15 Uhr von Pilet von oben herab – de très haut – empfangen wird, wie sich Albert Picot, Chef der Genfer Liberalen, dreissig Jahre später erinnern wird. Nicole klagt, dass der bürgerliche Grosse Rat alle Bemühungen seiner Regierung zur Verbesserung der Kantonsfinanzen hintertreibe. Pilet fragt Finanzdirektor Naine, was er kurz- und mittelfristig zu tun beabsichtige. Naine antwortet, der Kanton brauche bis zum 1. Januar unbedingt 4 Millionen vom Bund, um seinen Verpflichtungen nachkommen zu können.

Pilet hat nicht Forderungen erwartet, sondern präzise Vorschläge: «Wenn kein gemeinsames und dauerhaftes Handeln der Genfer Regierung zugesichert werden kann, dann ist die Lage ausweglos.» Der Bundespräsident lässt immerhin ein Türchen offen: Wenn es Naine gelinge, in Kürze einen von der sozialistischen Regierung und der bürgerlichen Opposition gebilligten Finanzplan vorzulegen, sehe er eine Lösung. Damit zwingt Bundespräsident Pilet die zerstrittenen Genfer zu einem Kompromiss.

Gemäss Picots späteren Erinnerungen soll Pilet «vielleicht mit einer gewissen Boshaftigkeit» dafür gesorgt haben, dass die Genfer Regierungsräte den letzten um 17.50 Uhr fahrenden direkten Zug nach Genf verpassten. Sozialisten und Bürgerliche, die jeweils in separaten Wagen reisen, sind gezwungen, in Neuenburg, wo der Bahnhof gerade umgebaut wird, einen langen Zwischenhalt einzuschalten. In der als Restaurant dienenden Notbaracke setzen sich die verfeindeten Brüder nolens volens an einem Tisch, um gemeinsam das Nachtessen einzunehmen. Man unterhält sich und redet auch über mögliche gemeinsame Lösungen zur Überwindung der Finanzkrise. Hat Pilet, der schon immer die SBB-Fahrpläne genau studiert hat, dies geplant?

Zurück in Genf macht sich jedenfalls Naine sofort an die Arbeit und legt dem Grossen Rat einen Finanzplan vor, der neue Einsparungen vorsieht. Der Bundesrat ist nunmehr bereit, der Genfer Regierung zu helfen. Pilets Rechnung ist aufgegangen.


«Politiker wider Willen»

Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen  Wissens, seiner militärischen Kenntnisse  und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten  Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.

«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.


Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany

Beitrag vom 14.09.2025

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