51. Chef und Mitarbeiter Aus «Politiker wider Willen»
Nach der dramatischen und überladenen Session geht es für Parlament und Bundesrat in die Osterferien. Am Montag gewinnen die Grasshoppers vor 15 000 Zuschauern im Wankdorfstadion, den Cupfinal gegen Servette mit 2:0 und ihr Captain, der spätere Rekordinternationale Severino Minelli kann aus den Händen von Bundespräsident Pilet-Golaz den Pokal entgegennehmen.
Zurück im Büro gibt’s für Pilet Ärger mit Abteilungsleiter Fritz Keller. Ein seit ein paar Monaten schwelender Streit zwischen Departementschef und Mitarbeiter ist eskaliert. Pilet fragt Häberlin, ob er ihm nicht «als Unparteiischem» die Untersuchung übertragen dürfe. Häberlin:
Ich rate ihm hiervon ab. Hier muss er selber den Weg finden. Selbst wenn er im Unrecht wäre, dürfte er nicht einen Dritten entscheiden lassen, sondern sich dann überlegen, ob er das nicht durch ein Wort gutmachen könne … Er wird’s nun aber selber an die Hand nehmen.
Was war passiert? Pilet hatte in der Eisenbahnabteilung einen H. Tapernoux als Kellers Stellvertreter eingesetzt, was diesem nicht behagte. Tapernoux beklagte sich bei Pilet über seine Behandlung durch Keller. Darauf gab der Bundespräsident Keller einen schriftlichen Verweis. Wenn der Departementschef einmal seinen Entscheid getroffen habe, sei es Kellers Pflicht, sich zu fügen. Stattdessen habe Kellers «Unzufriedenheit die Grenzen dessen überschritten, was mit der intelligenten und loyalen Erfüllung in Ihrer Aufgabe vereinbar ist».
Die «Tadelnote» ärgerte Keller und er sagte Pilet, dass er von der Behandlung durch ihn genug habe. Keller war zudem verstimmt durch Pilets
unfreundliche Bemerkungen zum Geschäftsbericht, wobei ich der Sündenbock für andere sein sollte. In dieser Stimmung traf mich Ihre dunkel, aber deutlich beschuldigend und drohend gehaltene Anspielung wegen Tapernoux wie ein Hieb ins Gesicht. Ganz besonders aufreizend war der Umstand, dass Sie sie fallen liessen in einem Moment, wo Sie keine Zeit hatten, mich anzuhören, und mich auf meinen Protest sogar herauswiesen.
Keller möchte jetzt die Vergangenheit ruhen lassen: «Ich wünsche auch nichts als eine Liquidation des 26. März auf dem kürzestmöglichen Weg, und das wäre ein Händedruck, der gegenseitiges Verzeihen bedeuten würde.» Offenbar hat Pilet dann, wie Kollege Häberlin ihm geraten hatte, ein versöhnliches Wort gefunden. Der Händedruck scheint stattgefunden zu haben. Jedenfalls erhält Keller zum Jahreswechsel von Bundespräsident Pilet schriftlich Worte der Anerkennung, die er mit den Worten verdankt: «Gestatten Sie mir, Ihnen zum neuen Jahr Gesundheit, Glück und Gottes Beistand in Ihrem schweren Werk zu wünschen.»
Beamte, Parlamentarier und Zeitungsschreiber, die Pilet gut kennen, überrascht es nicht, wenn der Waadtländer mit seinem manchmal hochfahrenden Wesen und seinen bissigen ironischen Bemerkungen aneckt. Georges Perrin, Revue-Bundesstadtkorrespondent, der Pilets Wirken über Jahre hinaus genau verfolgt hat und ihn, zusammen mit anderen in Bern domizilierten welschen bürgerlichen Journalisten, regelmässig traf, wird rückblickend schreiben:
Er erfasste alle Probleme sehr gut, zog daraus die Hauptelemente hervor, sah, wie sich die Frage stellte, organisierte all dies vollkommen richtig. Aber er hatte nicht das psychologische Gespür, das es ihm erlaubt hätte, seine Argumente auch weniger geschmeidigen Geistern als den seinen zugänglich zu machen. Als Aristokrat der Intelligenz waren ihm gewisse Formen geistiger Schwerfälligkeit zuwider … Er war unfähig, die Leute auf seine Wellenlänge zu bringen. In Kommissionen machte er glänzende Exposés, deren Klarheit alle Nationalräte bewunderten, aber es fiel ihm schwer, Einwände oder überhaupt eine Diskussion anzunehmen. Er glaubte, dass seine Autorität durch die Mühe, die er sich genommen hatte, um die Probleme zu studieren und klar darzustellen, genügend gesichert sei und dass es sich erübrige, darauf zurückzukommen. Seine Erklärungen mussten akzeptiert werden.
Zwischen Pilet und Anton Schrafl, dem 17 Jahre älteren, autoritären Direktionspräsidenten der SBB, stimmte die Chemie nicht. Der erfahrene Verwaltungsmann Schrafl, der seit Ende des 19. Jahrhunderts diverse wichtige Aufgaben im Bahnwesen erfüllte, wird es nicht geschätzt haben, wenn ihn Pilet gelegentlich schulmeisterte. So, als Schrafl mit konkreten Preisvorschlägen ein Postulat beantworten wollte, das eine Senkung der Generalabonnementspreise verlangte. Brieflich wies ihn Pilet wenig elegant zurecht: «Ihre Absicht lässt sich in meinen Augen nur durch eine ungenügende Kenntnis des Unterschieds zwischen einer Motion und einem Postulat im parlamentarischen Verfahren erklären.» Bei einem Postulat brauche sich die Regierung auf nichts zu verpflichten, sondern bloss zuzusichern, dass man das Problem studieren werde. Genau das tat dann Pilet in der Nationalratssitzung.
Der kluge Menschenkenner Heinrich Walther konnte als Verwaltungsratspräsident der SBB fast ein Jahrzehnt lang beobachten, wie Pilet und Schrafl miteinander umgingen. Er stellte fest, wie die Zusammenarbeit zwischen den beiden «an Intensität und Intimität» stark abnahm. Walther war auch aufgefallen, dass der Waadtländer im Gegensatz zu seinem Vorgänger Haab Mühe hatte, mit Leuten «Fühlung zu finden».
Dr. Pilet war stets reserviert und trat nicht leicht aus sich heraus. In persönlicher Beziehung liess er sich etwas stark von Sympathien und Antipathien leiten.
Ein ausgezeichnetes Verhältnis hatte Pilet mit Alois Muri, dem Chef der Technischen Abteilung der Obertelegrafendirektion, später PTT-Generaldirektor und Direktor des Weltpostvereins. In einer Festschrift zum 75. Geburtstag Muris wird alt Bundesrat Pilet-Golaz von einem Ereignis im Jahr 1934 berichten. Muri leitete damals mit grossem Geschick den Ausbau des Telefonnetzes, wobei seine aussergewöhnlichen Managerqualitäten der Industrie nicht verborgen blieben. Eine ausländische Firma machte ihm ein verlockendes finanzielles Angebot. Das Beamtenstatut gestattete es Pilet nicht, seinen wertvollen Mitarbeiter mit einem ähnlich hohen Gehaltsangebot zurückzuhalten. Was tun? Pilet bat Muri in sein Büro. Es entwickelte sich folgendes Gespräch:
«Alors, mon cher Muri, Sie werden uns wohl verlassen?» «Wieso euch verlassen? Was wollen Sie damit sagen?» Was ich sagen will, ist, dass man Ihnen eine Stellung anbietet, die auszuschlagen man ein Held oder Heiliger sein müsste.» «Wie wissen Sie das? Nicht einmal meine Frau weiss es; ich habe mit niemandem darüber gesprochen. » «Wie ich das weiss? Dies ist meine Sache. Hauptsache, ich weiss es. Ist es – übrigens – nicht meine Sache zu wissen, um vorauszusehen und manchmal vorzubeugen?» «Ich habe noch keinen Entscheid getroffen und ich verhehle Ihnen nicht, dass ich zögere.» «Sie wissen, dass ich Ihnen nichts Vergleichbares offerieren kann.»
Das Materielle steht für Muri nicht im Vordergrund, das Werk, das er angefangen habe, liege ihm am Herzen, er möchte es fortführen. Pilet: «Ich bin froh, dies zu hören, mon cher Muri. Wie kann ich Ihnen den Entscheid erleichtern?» Muri möchte gerne dem Departmentvorsteher direkt verantwortlich sein und nicht über die Generaldirektion der PTT. Pilet will mit Generaldirektor Furrer reden.
Ich kannte M. Furrer zu gut, um an seiner Antwort zu zweifeln. Furrer war ebenfalls ein grosser Staatsdiener – grand commis. Wir hatten damals einige und, Gott sei gedankt, hat es immer noch solche. Furrer besass eine derartige Autorität, dass sich für ihn Fragen von Eigenliebe oder Prestige nicht stellten. Er war sofort einverstanden. Die Partie war gewonnen. Muri blieb an seinem Posten, er war zufrieden.
Nicht zufrieden war Pilet. Ihm schien, Muris Selbstlosigkeit verdiene eine gebührende Anerkennung. So setzte er sich mit ETH-Präsident Rohn in Verbindung, der sogleich auf Pilets Vorschlag einging. Bald darauf beschlossen die ETH-Professoren, Muri den Ehrendoktortitel zu verleihen. Als Muri davon hörte, telefonierte er dem Departementsvorsteher und fragte, ob er ihn dringlich ein paar Minuten sprechen könne. Selbstverständlich.
Ich sehe noch, wie er in mein Arbeitszimmer trat, dieses lange und tiefe Büro des Post- und Eisenbahndepartements, das nicht enden wollte. Kaum hatte er die Tür geschlossen, schwenkte er einen Brief und rief zutiefst gerührt aus: «Dieser Brief, das sind Sie.» Ja, dieser Brief war ich und ich war beinahe so glücklich wie er. Von da an war Muri Dr. Muri und würde es immer bleiben.
Damals war ein Doktortitel etwas.
Noch bevor Etter überhaupt in den Bundesrat gewählt ist, heben bereits die Mutmassungen über die künftige Departmentsverteilung an. Grellet glaubt, dass Pilet-Golaz das «schwere Portefeuille der Finanzen» übernehme werde. Das Journal de Genève wünscht sich an der Spitze des Finanzdepartements «einen Mann, der sich durchsetzen kann, der gleichzeitig Mut, Prestige und technische Kompetenz besitzt. Wir sehen nur einen: M. Pilet-Golaz.»
Obwohl die NZZ nach beschlossener Departementszuteilung am 13. April mitteilt, im Bundesrat seien «nur drei Minuten nötig gewesen zur Verteilung der sieben Ressorts», hatte die Frage unter den freisinnigen Bundesräten zuvor einiges zu reden gegeben. Die Tagebuchaufzeichnungen Häberlins verraten, wie die Diskussion verlief.
Man ist sich einig, dass Motta, Schulthess und Minger auf ihren Posten bleiben. Der mit Häberlin befreundete Jurist Baumann übernimmt dessen Justiz- und Polizeidepartement. Wohin mit Etter? Infrage kommen für den Neuling entweder das Innere oder Post- und Eisenbahn. Weil Etter als kulturkämpferischer Katholik gilt, zögert man, ihm das für Bildung und Religion zuständige «Kulturministerium» anzuvertrauen. Schulthess und Pilet wollen ihn aus unterschiedlichen Gründen nicht als Eisenbahnminister.
Schliesslich sieht man ein, dass der hochgebildete Etter der geeignete Mann für das Innendepartement ist. Dies heisst, dass Meyer in ein anderes Ressort wechselt. Eisenbahn oder Finanzen? Pilet, der Finanzminister werden möchte, versucht, Meyer sein bisheriges Departement mundgerecht zu machen. Auch Schulthess tut dies, und versucht, Meyer «das Gruseln vor dem Finanzdepartement» beizubringen. Ohne Erfolg. Meyer will das dornenvolle Eisenbahnressort nicht.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Häberlin, der selber nicht mehr dem Bundesrat angehören wird, findet das Ei des Kolumbus: Da er es für unklug hält, Pilet «aus der sorgfältig geplanten SBB-Reorganisation herauszunehmen», fragt er ihn, bis wann diese beendigt sein könnte. Pilets Antwort: Bis Ende 1935 oder im Jahr 1936. Häberlin macht nun folgenden Vorschlag: Meyer soll «für zwei bis drei Jahre» das Finanzdepartement leiten. Pilet bleibt vorläufig an seinem Posten, übernimmt aber die Stellvertretung für Meyer. Damit sind alle einverstanden. Auch Schulthess, der den eigenen Sessel für den befreundeten Aargauer Finanzdirektor Emil Keller warmhalten will.
Pilet ist über den Ausgang der Sitzung nicht unglücklich. Schielt er auf das bald frei werdende Volkswirtschaftsdepartement? Franz von Ernst schreibt dazu: «Es war viel davon die Rede, dass Pilet zu den Finanzen hinneige, tatsächlich bleibt er … abwartend, ob nicht ein anderes wichtiges Departement nach einer zu Ende des Jahres möglicherweise eintretenden Vakanz ihm anvertraut wird.»
Zu seinem Abschied schickt Pilet Häberlin einen sauber handgeschriebenen Brief:
Mein lieber Kollege, und erlauben Sie mir beizufügen, Freund.
Ich möchte nicht, dass Sie ihr Amt ablegen, ohne dass ich Ihnen einmal mehr sage, welch grossen Kummer ich empfinde, Sie weggehen zu sehen, und die Dankbarkeit, die ich Ihnen für die grossen geleisteten Dienste bewahre. Nicht nur sind Sie in meinen Augen ein in jeder Beziehung der hohen übernommenen Aufgabe würdiger Bundesrat, sondern ein Mensch, dessen Qualitäten der Geradheit, der Loyalität, der Selbstlosigkeit, der Hingabe und des Herzens ein Vorbild sind und bleiben. Wenn ich, seit ich im Bundesrat sitze, viel gelernt habe, dann verdanke ich dies zum grossen Teil Ihnen. Ich weiss nicht, ob ich mich täusche, aber ich habe das Gefühl, Ihre väterliche und herzliche Achtung gewonnen zu haben. Darauf bin ich sehr stolz. Indem ich mich stets bemühen werde, diese zu verdienen, werde ich ihnen meine Dankbarkeit am meisten bezeugen können. Glauben Sie, lieber Kollege und Freund, an meine treue Verbundenheit. Pilet-Golaz
Mitte Juli erhält Pilet eine Ansichtskarte aus Sils Maria. Sie beginnt mit der Anrede: «Ave imperator, moriturus – ah, non – vivus, vivissimus te salutat!» Auf Französisch berichtet Häberlin Pilet über sein Leben als nunmehr alt Bundesrat:
Er ist ein bisschen vernachlässigt, dieser Pensionierte. Wenn Sie ihn sehen könnten, würden Sie von einem Skandal reden. Auf dem Kopf ein alter Schlapphut, auf dem keine Federn die Löcher verdecken. Aber ich kann doch nicht die marmottes mit dem Zylinder des Eidgenössischen Schützenfests erschrecken! Wir verstehen uns gut, die Murmeltiere, die Blumen, die Bächlein und ich. Ich schicke Ihnen demütigste Grüsse und ich küsse die Hand der charmantesten aller Präsidentinnen. Ihr ergebener Häberlin.
An dem von Häberlin erwähnten Eidgenössischen Schützenfest lernt der französische Botschafter Clauzel den Bundespräsidenten näher kennen und fragt ihn, ob es wahr sei, dass Ulrich Wille Kandidat auf das Generalsamt sei, das sein Vater im Grossen Krieg ausgeübt hatte. Pilet antwortet, dass dies tatsächlich Willes Bestreben sei, aber dieser habe nach den jüngsten Ereignissen überhaupt keine Chance, General zu werden – auch weil dies den in der Schweiz geltenden, eifersüchtig gehüteten demokratischen Regeln widersprechen würde, der höchsten Armeefunktion einen erblichen Charakter zu verleihen.
Selbst die von Hitler befohlene Ermordung seiner Gegner beim sogenannten Röhm-Putsch hat Wille nicht von seiner positiven Einstellung gegenüber der Innen- und Wirtschaftspolitik des dritten Reichs abgebracht. Dem italienischen Militärattaché sagt Pilet: «Wille, c’est un danger pour notre neutralité.»
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Fotos und Dokumente zum Buch
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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