50. Etter kommt Aus «Politiker wider Willen»
14 Jahre später erinnerte sich «Königsmacher» Walther an den denkwürdigen Donnerstag, 22. März 1934:
Nach den langwierigen Vormittagsverhandlungen hatte ich mein Mittagsschläfchen im Hotel etwas ausgedehnt. Gegen vier Uhr wollte ich mich in den Nationalratsaal begeben. Unterwegs passierte mir ein kleines Intermezzo. Als ich am Warenhaus Loeb vorbeiging, sah ich in einem Schaufenster Puppensachen ausgestellt. Bei meiner Abreise von Kriens hatte mir mein jüngstes Enkelkindchen nachgerufen: «Grossvaterli, du musst mir Dittistrümpfli und Dittischüeli heimbringen!» Um den Wunsch der lieben Kleinen zu erfüllen, machte ich rasch die nötigen Einkäufe. Mit einer ziemlich grossen Schachtel kam ich ins Bundeshaus.
Schon auf der Treppe trifft Walther auf den mit ihm befreundeten Bundeshausjournalisten Franz von Ernst, der ihn fragt:
Wo hast du auch gesteckt? Umsonst habe ich dich überall telefonisch zu erreichen versucht. Wie eine Bombe ist die Nachricht vom Rücktritt Musy geplatzt, dass Musy die Demission – ohne Kenntnisgabe an Bundesrat und Fraktionsleitung – direkt dem Nationalratspräsidenten Johannes Huber eingereicht hat, welcher diese triumphierend entgegennahm. Im Bundesratszimmer sind schon der Bundespräsident und die anderen Fraktionspräsidenten zur Besprechung der Situation versammelt. Man wartet nur auf dich!
Walther vergisst, seine Sachen in der Garderobe abzugeben, eilt samt Puppenschachtel ins Bundesratszimmer, wo Pilet über die Lage spricht. Die Ersatzwahl, meint er, sollte noch in dieser Session vorgenommen werden, was eine Verlängerung der Session nötig machen wird.
Pilet hat den Rücktritt Musy vorausgesehen und sich seine Gedanken über die Nachfolge gemacht. Wenn den Konservativen kein geeigneter welscher Kandidat zur Verfügung stehen sollte, dürften sich die Romands damit abfinden, dass diesmal ein Deutschschweizer gewählt würde. Walther ist über diesen «loyalen und klugen Vorschlag», mit dem «Herr Pilet sofort Klarheit in die Sitzung gebracht» hat, erfreut.
Vallotton schliesst sich Pilet an. Er zweifelt nicht daran, dass die freisinnige Fraktion seine Auffassung teilen werde. Walther dankt und fügt hinzu: «Wir werden selbstverständlich bei erster Gelegenheit zur Verstärkung der welschen Vertretung im Bundesrat mithelfen.»
Nachdem am Vormittag Freisinnige und Katholisch-Konservative bei den Wahlen uneins gewesen sind und die Freisinnigen die andere Bundesratspartei bei den Bundeskanzler- und Bundesrichterwahlen brüskiert, gedemütigt haben, wird der von Pilet gemachte Schritt zur Versöhnung dankbar entgegengenommen.
Am Mittwochabend stellt die KK-Fraktion den Zuger Ständerat Etter als Kandidat auf, der 41 Stimmen auf sich vereinigt, gegenüber dem St. Galler Mäder und dem Walliser Escher mit je 7 Stimmen. Etter hatte sich zuerst einer Kandidatur widersetzt: «Die Leute überschätzen mich», schrieb er seinem Freund Josef Andermatt:
Heute braucht es in die oberste verwaltende Behörde … Leute mit neuen schöpferischen Ideen, vor allem auch gewiegte Wirtschaftspolitiker, und gerade das bin ich nicht. Und dann sprechen auch gewichtige familiäre Gründe mit. Von meinen zehn Kindern müssen acht noch die Volksschule besuchen. Hier in Zug haben wir gute christliche Schulen.
Auch Etters Mutter ist gegen einen Wegzug ihres Sohns von Zug nach Bern. Motta und Walther überzeugen den Zögernden jedoch, dass er im Interesse von Land und Partei die Kandidatur annehmen müsse. Am Tag vor der Wahl empfängt ihn Bundespräsident Pilet. Etter schreibt seiner Tochter Maria:
Ich kann dir nicht sagen, mit welcher Offenheit und Herzlichkeit er mich begrüsste und mit mir die Fragen besprach, die für den Amtsantritt von Bedeutung sind. Am 1. Mai soll ich antreten.
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Walthers und Pilets Wunschkandidat wird am 28. März 1934 im ersten Wahlgang mit 115 Stimmen gewählt.
In der Bundesratssitzung vom gleichen Tag legt Pilet den Entwurf zu einem Communiqué vor, das die durch den Rücktritt Musys hervorgerufene Unruhe an den Märkten beseitigen soll: An der Finanzpolitik des Bundesrats wird sich nichts ändern. Währungsmachenschaften werden verurteilt. Am Grundsatz der Goldwährung wird nicht gerüttelt. Der Franken wird auf seiner heutigen Parität belassen.
Der Bundesrat nimmt an Pilets Text «einige wenige redaktionelle Änderungen» vor. Möglicherweise wird ein Passus gestrichen, wonach, laut Häberlins Tagebuchaufzeichnung, «die Mitglieder des Bundesrats dem Präsidenten quasi einen Treueid leisten», den «Motta sanft beanstandet, weil der Stellung des Primus inter Pares nicht entsprechend. Vielleicht bremst das Pilet mit seinen unschuldigen Coquetterien mit der Staatsoberhauptschaft.» Häberlin im Tagebuch weiter:
Mit mir ist er [Pilet] übrigens, wie seine ganze Familie, andauernd herzlich. Ich werde wie sein Vater behandelt und musste froh sein, dass seine Beantwortung der Motion Aeby in der er mich über die Hutschnur loben wollte, durch die Demission Musys unter den Tisch gewischt wurde.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
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«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
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Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany