49. Regierungskrise nach Schweizerart Aus «Politiker wider Willen»
Montag, 12. März 1934
Häberlin hat genug. «Ich künde dem Schweizervolk», soll er nach der verlorenen Abstimmung bemerkt haben. Vor der ordentlichen Bundesratssitzung teilt er Bundespräsident Pilet-Golaz mit, dass er zurücktreten werde. Für Pilet ist dies keine gute Nachricht, politisch nicht und menschlich nicht. Häberlin wird sich nicht umstimmen lassen, dies weiss er. Er wird seinen besten Freund im Regierungskollegium verlieren.
Als der Bundesrat um 9 Uhr zu seiner ordentlichen Sitzung zusammentritt, kommt Musy wie üblich zu spät. Sarkastisch bemerkt er: «Comment, vous êtes encore là?». Häberlin teilt dann mit, dass er heute dem Ratspräsidenten sein Rücktrittsschreiben schicken wird. Er habe schon im letzten Oktober in den Ruhestand gehen wollen, sich dann von den Kollegen umstimmen lassen – allerdings mit dem Vorsatz, sich am Ende des laufenden Jahres zur Ruhe zu setzen. Das gestrige Abstimmungsresultat habe seinen Entschluss beschleunigt. Der Volksentscheid sei vor allem wegen des Geisteszustands, den er verrate, beunruhigend. Wäre er jünger, er ist 65, würde er der öffentlichen Meinung die Stirn bieten. Aber die körperlichen Kräfte hätten ihre Grenzen und diese seien bei ihm erreicht.
Minger, Motta und Schulthess trösten ihren Kollegen. Der Volksentscheid richte sich in keiner Weise gegen seine Person. Er möge sich den Rücktritt noch einmal überlegen. Zur Verblüffung aller schlägt Musy dann vor, der Bundesrat müsse gesamthaft zurücktreten: Dies sei die einzig mögliche Antwort auf die Volksabstimmung. «Die Regierung ist solidarisch, und es gibt keinen Grund für Häberlin, allein zurückzutreten.» Musy will, dass der Bundesrat am nächsten Tag die kollektive Demission bespricht. Häberlin wendet ein, dass sein Rücktritt aus persönlichen Erwägungen erfolgt sei, was für die andern Bundesräte nicht gelte. Die Kollegen sollten auf keinen Fall einen Entschluss fassen, dessen politische Folgen unabsehbar wären.
Bundespräsident Pilet-Golaz erklärt, er wäre froh, wenn angesichts der neuen, durch den Vorschlag von Herrn Musy geschaffenen Lage Herr Häberlin seinen Entscheid auf den nächsten Tag verschieben würde. Er, Pilet, werde Musys Vorschlag, wonach der Bundesrat gesamthaft zurücktreten solle, nicht Folge leisten. Es gehe hier nicht um persönliche Befindlichkeiten: «Es geht darum, das Schiff im Sturm nicht zu verlassen.»
Darauf erklärt Musy, dass, wenn der Bundesrat nicht gesamthaft zurücktrete, er dies jedenfalls tun werde. Pilet und Motta legen ihm nahe, nichts über seine Rücktrittsabsicht durchsickern zu lassen. Musy ist damit einverstanden.
Was bezweckt Musy mit seiner Forderung nach einer Demission des gesamten Bundesrats und seiner eigenen Rücktrittsdrohung? Politischen Freunden verrät er seine Ideen: Die Schweiz benötigt dringlich eine Erneuerung. Sie braucht eine dynamische, straffe Regierung, die ein rigoroses Sparprogramm durchsetzen kann und nicht allen Begehren um neue Ausgaben nachgibt. Der Bundesrat muss verjüngt werden, Motta und vor allem Schulthess, die beide schon seit vor Beginn des Weltkriegs im Amt sind, müssen weg. Musy erhofft sich, dass die bürgerliche Parlamentsmehrheit einen neuen Bundesrat von ihm Gleichgesinnten wählen wird, einen Bundesrat, in dem er selber die eindeutige Führungsrolle spielen kann.
Für den Nachmittag hat Bundespräsident Pilet Musy, Motta und Minger in sein Büro geladen, um die Lage zu klären. Motta ist Parteikollege von Musy und von allen Bundesräten steht Minger politisch dem Freiburger noch am nächsten. Das Gespräch endet erfolglos.
Dienstag, 13. März 1934
Der Wunsch des Bundespräsidenten, dass Musy über seine Rücktrittsabsichten schweigen soll, ist illusorisch. Selbstverständlich redet der Freiburger mit Familie und Vertrauten darüber. Und natürlich wird auch Musys Feind Schulthess plaudern. Das Rücktrittsgerücht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Musys Gegner frohlocken.
Mittwoch, 14. März 1934
Im freisinnigen «Hofblatt» Bund zündet Chefredaktor Erich Schürch ein politisches Bömbchen. Die Zeitung fragt, ob an der Nachricht von Musys bevorstehendem Rücktritt wirklich «nichts dran» sei, und erwähnt auch noch ein anderes Gerücht:
Es betrifft ein in seiner Wirkung ausgesprochen antimilitaristisches Verhalten, das darin bestanden haben soll, dass mit dem ganzen Gewicht der höchsten amtlichen Stellung in einen militärischen Disziplinarfall eingegriffen wurde, um einen jungen Herrn, der sich verfehlt hatte, den Folgen zu entziehen, die von der militärischen Disziplin verlangt wurden … Wir haben nun nachgerade des Getuschels genug und meinen, dass es an der Zeit ist, Klarheit zu schaffen, damit man weiss, ob wirklich die Armee gegen Untergrabung der Disziplin sich auch noch gegen ein Mitglied des hohen Bundesrats hat verteidigen müssen.
Für informierte Leser ist unschwer zu erraten, dass mit dem «Mitglied des hohen Bundesrats» Musy gemeint ist. Wütend telefoniert dieser dem Bund-Chefredaktor und droht ihm mit einem Prozess, worauf Schürch antwortet: «Wir warten darauf, Herr Bundesrat.»
Nationalrat Ernst Reinhard, Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, nimmt den Bund-Artikel zum Vorwand, um einen Angriff auf den verhassten Musy zu lancieren. In einer Kleinen Anfrage verlangt er Auskunft über das «Eingreifen eines Bundesrats in einen militärischen Disziplinarfall». Gemeint ist damit die als unzulässig empfundene Reaktion Musys auf eine Bestrafung seines Sohns, Leutnant Pierre Musy.
Am Mittag ist der Zuger Ständerat Etter mit anderen Parlamentariern bei den Pilet-Golaz am Scheuerrain 7 zum Mittagessen eingeladen. Wie gewohnt, berichtet er seiner Frau in Menzingen schriftlich über die Erlebnisse des Tages:
Als wir einen Augenblick allein waren, sagte der Bundespräsident zu mir: «Vous viendrez chez nous!» Ich fragte ihn: «Où?» «Au conseil fédéral!» Ich sage: «Mais non, mais non.» Er antwortet: «Mais oui, ça c’est sûr.» Ich weiss nicht, ob du das verstehst. Mir scheint, es gehe etwas hinter den Kulissen.
Wenn Pilet sich derart auf die Äste hinauswagt und sagt, es sei «sicher», dass Etter Bundesrat werde, dann hat er im Gespräch mit Musy, Motta und Minger den Eindruck erhalten, dass der Freiburger zurücktreten wird.
Donnerstag, 15. März 1934
Vor der Bundesratssitzung drückt KK-Fraktionschef Walther dem Bundespräsidenten ein Papier in die Hand, in dem Musy sein Wirtschafts- und Finanzprogramm darlegt. Pilet informiert den Bundesrat, dass Musy bereit sei zu bleiben, wenn die Kollegen sein Programm annehmen.
Dann erläutert Musy seine Vorstellungen:
Trotz des Finanzprogramms wird die Bundesrechnung dieses Jahr wieder mit einem Defizit abschliessen. Auch die Lage der SBB verbessert sich nicht. Ende 1934 werden ihre Schulden im Vergleich zum Beginn des Vorjahrs um 200 Millionen zugenommen haben. Dem Land ist schwerlich eine neue fiskalische Anstrengung zuzumuten, wenn die Getränkesteuer schon jetzt auf ernste Schwierigkeiten stösst. Die Arbeitslosigkeit kommt zu teuer zu stehen. So kann man unmöglich fortfahren. Eine Herabsetzung der Preise ist das einzige Mittel, um die Abwertung des Frankens zu vermeiden. Zudem muss der Bundesrat eine Organisation unseres Wirtschaftslebens im Sinne einer berufsständischen Ordnung prüfen. Dies ist das einzige Mittel, um dem sterilen Arbeitskrieg, der das Land erschöpft, ein Ende zu setzen. Man muss aus der wirtschaftlichen Anarchie herauskommen und den Staat entschlacken. Ansonsten wird der Staatsinterventionismus sich in neuen Steuererhöhungen niederschlagen, die unsere Volkswirtschaft schliesslich erdrücken werden. Der Volksentscheid vom vergangenen Sonntag darf den Bundesrat nicht entmutigen. Wir haben die Verpflichtung, hinsichtlich der Ausländer noch strenger zu sein als bisher.
Wenn der Bundesrat seinem Programm beipflichten könne, sagt Musy, werde er keinen Grund haben, ihn zu verlassen. Wenn nicht, würde er es vorziehen, zurückzutreten.
Bundespräsident Pilet will wissen, ob Musy dem Bundesrat Zeit lasse, sein Programm zu studieren. Musy verlangt, dass der Bundesrat bis spätestens morgen (Freitag) erklären müsse, ob er mit den grossen Linien seines Programms einverstanden sei.
Häberlin kann es nicht verstehen, dass ein Bundesratsmitglied für den Fall, dass sein Programm nicht innert vierundzwanzig Stunden angenommen wird, mit Demission droht. Ein solches Vorgehen sei mit der Würde und dem Prestige des Bundesrats unvereinbar. Wenn Musy an seinem Standpunkt festhalte, werde er, Häberlin, sich weigern, die Einzelheiten des Programms überhaupt zu diskutieren.
Pilet dankt Häberlin für seine Intervention,
denn besser als er könne keiner das Zögern und die Befürchtungen ausdrücken, welche die Regierungsmitglieder erfüllen. Monsieur Musy wird zweifellos verstehen, dass dies die Sprache der Vernunft ist und dass er seinen Kollegen Zeit lassen muss, seine Vorschläge zu überdenken, ohne sie unter Druck zu setzen.
Musy gibt darauf dem Bundesrat bis Montag Zeit zu entscheiden, ob er mit den grossen Linien seines Programms einverstanden ist. Diese geringfügige Konzession genügt Schulthess nicht. Unter einer Rücktrittsdrohung kann er kein Programm diskutieren. Musys neues Programm enthalte zwar viele richtige Dinge, könne aber nicht in einer Sitzung behandelt werden. Zum Studium werde man mehrere Monate brauchen.
Es ist der Wunsch aller Bundesratsmitglieder, das Land durch einen kollektiven Akt zu retten. Wir sind bereit, das Programm von Herrn Musy gewissenhaft zu studieren, und bitten ihn inständig, auf seinen Rücktritt zu verzichten.
Auch Pilet bittet Musy dringlich, dem Bundesrat genügend Zeit zu lassen. Wenn er vom Bundesrat bis im Juni die erwünschten Zusicherungen nicht erhalten werde, könne er die Konsequenzen ziehen. Motta, Minger und Meyer wollen ebenfalls mehr Zeit zum Studium von Musys Vorschlägen. Musy will Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen. Häberlin erwartet von Musy eine sofortige Antwort. Musy bleibt hart und behält sich seine Antwort bis zum morgigen Freitag vor.
Freitag, 16. März 1934
Nach einer kurzen Morgensitzung verreisen die Parlamentarier ins Wochenende. Sie sind überzeugt, dass Musy zurücktreten werde. In den Zügen wird die Nachfolgefrage diskutiert. Um 10 Uhr Bundesratssitzung. Pilet gibt seinem Missfallen Ausdruck, dass die verabredete Geheimhaltung verletzt wurde. Man dürfe die Meldung in La Suisse nicht stehen lassen, wonach Musy dem Bundesrat ein Ultimatum gestellt habe. Musy verteidigt sich. Er habe mit den fraglichen Meldungen nichts zu tun. Seine Rücktrittsabsichten seien im In- und Ausland auf eine Art ausgelegt worden, die negative Auswirkungen auf unsere Wertpapiere haben könnten. «Unter diesen Umständen und um zur Entspannung der Geister beizutragen», verliest Musy folgende Erklärung:
Aufgrund des vom Bundesrat ausgesprochenen Wunsches, wonach er meine weitere Mitarbeit wünscht, habe ich beschlossen, meinen definitiven Entscheid zu verschieben, bis der Bundesrat Zeit gehabt hat, meine Vorschläge zu prüfen und diesbezüglich Stellung zu beziehen.
Musy geht davon aus, dass dies «sehr bald» geschehen werde. In seinem Entwurf hatte er «unverzüglich» geschrieben.
Pilet erklärt sich befriedigt, dass die Krise sich auf diese Weise entspannt hat, «wenigstens vorläufig». Auf Antrag von Schulthess wird der Bundespräsident beauftragt, ein Communiqué zu redigieren, aus dem namentlich hervorgehen soll, dass Musy kein Ultimatum gestellt habe. Pilet formuliert ein schwammiges Communiqué, das Differenzen im Regierungskollegium verneint.
Gleichzeitig billigt der Bundesrat – und mit ihm Musy – die vom Departement Minger entworfene schriftliche Antwort auf die «Kleine Anfrage Reinhard i. S. Leutnant Pierre Musy». Darin wird dementiert, dass Bundesrat Musy Druck auf die Offiziere ausgeübt habe, die seinen Sohn bestraft hatten. Die Angelegenheit sei korrekt und ohne Einmischung erledigt worden. Entgegen den von Bundesrat Musy erhobenen Vorwürfen sei den Offizieren nichts vorzuwerfen. «Dagegen musste ein Offizier zur Verantwortung gezogen werden wegen des ungebührlichen Tons, dessen er sich in seinem direkt an Bundesrat Musy gerichteten Briefe schuldig gemacht hatte.»
Die bundesrätlichen Mitteilungen werden am Nachmittag der Depeschenagentur zugestellt. Pilet kann damit rechnen, dass sich die Wogen glätten werden. Musy wird noch bis im Juni bleiben. Die Anfrage Reinhard ist entschärft. Gegen aussen steht der Bundesrat wieder «einmütig» da. Der Bundespräsident hat seine Sache als Krisenmanager gut gemacht.
Montag, 19. März 1934
Als die Parlamentarier am Nachmittag nach Bern zurückkehren, ist der «Fall Leutnant Pierre Musy» plötzlich wieder in aller Leute Mund. Der Chefredaktor der Schulthess nahestehenden Aargauer Zeitung hat nämlich auf die als «schmerzlich empfundene» bundesrätliche Stellungnahme mit einem Artikel «Die Wahrheit im Falle Musy – Straumann» reagiert. Das Blatt ist entrüstet, dass
der «Privatmann» Musy wegen solcher Eingriffe und schwerer Beleidigungen nicht zur Rechenschaft gezogen wird, dass man im Gegenteil dem Offizier [Straumann] einseitig einen Verweis erteilt. Wir und mit uns jeder, der Gefühl für Recht und Gerechtigkeit hat, kann sich mit einer solchen Erledigung dieses Falles nicht zufriedengeben! Sollen wir noch deutlicher werden?
Für die Sozialdemokraten ist der Artikel ein gefundenes Fressen. Gestützt auf den «verdienstlichen Tatsachenbericht» über den «unglücklichen Hofbescheid» Mingers, reicht Reinhard eine zweite Kleine Anfrage ein. Die linke Presse startet eine neue Polemik gegen Musy und auch gegen den ihn verteidigenden Minger. «Eine kleine Antwort auf eine Kleine Anfrage», titelt die Zeitung der Zürcher Sozialisten, das Volksrecht.Untertitel: «Minger deckt Musy und gibt einen korrekten Offizier preis – das Regime der Extravergünstigungen und der Vertuschung». Das Blatt meint:
Dass ein Mitglied der höchsten exekutiven Landesbehörde sich so benimmt, wie Bundesrat Musy sich gegenüber den vorgesetzten Offizieren seines Sohnes benommen hat, dass ein Bundesrat dermassen vergisst, was er seiner Stellung und der primitivsten Anstandspflicht schuldig ist, wird im ganzen Schweizervolk als wahrhaft skandalös empfunden.
Anders sehen Rechtskreise die Sache. In der Gazette empört sich Pierre Grellet über die «Hetzjagd» der Meute, die über Musys Entscheid, auf seinem Posten zu bleiben, enttäuscht ist:
Unter seiner garstigen Maske verfolgt der Hass weiterhin den Mann, der die Kühnheit hatte, den Marxisten zu trotzen. Neulich hat einer der Leithetzhunde, M. Reinhard, versucht, M. Musy über seinen Sohn zu treffen. Dies sind neue und wilde Sitten in unserem politischen Leben … Am Montag ist M. Reinhard zu einem neuen Angriff geschritten. Er hat eine Sammlung von Gerüchten zusammengetragen und sie in kleine Fragen an den Bundesrat zerschnitten. Nichts Widerlicheres als diese Art, einen öffentlichen Mann durch Hinabsteigen in sein Privatleben zu diskreditieren.
Obschon die National-Zeitung am Morgen mit fingerdicken Buchstaben verkündet hat: «Bundesrat Musy erkrankt», hält ein «prosper und munter» aussehender Finanzminister am Abend im Nationalrat eine fünfviertelstündige Rede, in der er sein Programm erläutert. Die Räte hätten seit dem letzten Budget Neuausgaben von über 40 Millionen beschlossen, trotz der im Finanzprogramm eingegangenen Verpflichtungen. Er weigere sich, für eine derartige Politik die Verantwortung zu übernehmen. Die SBB müssen Kosten sparen. Sie verlangen eine Milliarde. Wo soll man diese Milliarde finden? Das Land hat nur eine Chance, aus der Finanzkrise herauszukommen, wenn billiger gelebt und mit dem zentralisierenden Etatismus Schluss gemacht wird. Sein Achtpunkteprogramm sei kein Ultimatum. Es sei für ihn Gewissenspflicht gewesen, seine Sorgen auszudrücken und die seiner Meinung nach einzigen Lösungen zur Bewältigung der Krise dem Bundesrat zu unterbreiten. Applaus aus den bürgerlichen Rängen quittiert Musys Appell an Volk und Regierung. Der Freiburger hat einen sanfteren Ton angeschlagen und einen Schritt zur Entspannung getan.
Am gleichen Montag diskutiert der Zentralvorstand der Freisinnigen die Nachfolgefrage Häberlin, die schon in der Vorwoche in der Presse und in den verschiedenen Fraktionen viel zu reden gab. Verschiedene Namen sind im Gespräch – darunter auch der Leiter der Handelsabteilung, Minister Walter Stucki –, aber schliesslich wird ersichtlich, dass nur zwei Kandidaten eine reelle Chance haben: der liberale 45-jährige Basler Regierungsrat Carl Ludwig und der freisinnige Ausserrhoder Ständerat Johannes Baumann. Henry Vallotton verlangt die rasche Verjüngung und eine Verstärkung der Autorität. Er ist der Meinung, dass die «älteren Mitglieder Musy, Motta, Schulthess, Meyer im Laufe des Jahres ihren Rücktritt nehmen sollten ». Er ist für den Liberalen Ludwig. Der freisinnige Zentralvorstand nimmt Vallottons Resolution an.
Dienstag, 20. März 1934
Das Aargauer Tagblatt, die Hauszeitung von Schulthess, kritisiert Musy erneut scharf. Gleichzeitig verteidigt die Zeitung Schulthess gegen die Angriffe, die ihn der «Verschwendung» ziehen, wodurch der Sparwille Musys durchkreuzt werde, während es doch Musy war, der «als Herr der Finanzen» in gewissen Gebieten mehr zusprach, als von den entsprechenden Ressortchefs verlangt wurde.
Wenn das weiter so geht, wird der Chef des Volkswirtschaftsdepartements anhand von Zahlenmaterial nachweisen, dass er sehr oft mit geringeren Krediten auszukommen trachtete, als der Bundesrat ihm zuhielt.
Pilet sieht, dass der Brand gelöscht werden muss. Auf den Nachmittag arrangiert der Bundespräsident ein formelles Gespräch zwischen Musy und Schulthess. Zu dem Versöhnungsversuch lädt Pilet als Vertreter der Bundesratsfraktionen auch die Nationalräte Walther und Vallotton, die den beiden bundesrätlichen Streithähnen ins Gewissen reden. Schulthess und Musy sollen sich bis im Juni auf ein gemeinsames Wirtschafts- und Finanzprogramm einigen. Musy schluckt einstweilen die Verschiebung.
In ihrer Abendsitzung vom 20. März beschliesst die freisinnige Fraktion entgegen dem Wunsch ihres Fraktionsvorsitzenden Vallotton mit 30 zu 25 Stimmen, dass sie ihren vierten Bundesratssitz nicht preisgeben will, und nominiert den bereits im 60. Altersjahr stehenden Ausserrhoder Ständerat Johannes Baumann. Er ist tüchtig, aber ein eher farbloser Verlegenheitskandidat.
Mittwoch, 21. März 1934
Der jugendliche, zupackende Ludwig (45) gefällt Erneuerern jeder Art und, was wichtiger ist, auch vielen Katholisch-Konservativen. Er ist Musys Wunschkandidat. Motta und Fraktionschef Walther glauben jedoch nicht an Ludwigs Wahlchancen und treten für Baumann ein. Sie wollen das gute Einvernehmen mit den Freisinnigen nicht aufs Spiel setzen. Gegen Walthers Willen entscheidet sich seine Fraktion mit 28 zu 26 Stimmen jedoch für den liberalen Aussenseiter Ludwig. Erstmals folgt sie bei einer Bundesratswahl nicht dem «Königsmacher». Sie wird sich bis zu dessen Rücktritt 1943 hüten, diesen «Fehler» noch einmal zu begehen.
Im Auftrag der Fraktion redet Walther anschliessend noch mit Musy. Musy klagt über Schulthess, dem der Wille zu einer konsequenten Sparpolitik fehle. Auch im Bundesrat und Parlament fehlte ihm oft die Unterstützung. Walther setzt Musy auseinander, wieso er diese Unterstützung vielfach nicht kriege. Man stosse sich an der Sprunghaftigkeit seiner Finanzpolitik und vermisse ein Dauerprogramm. Mit gutem Willen müsse es doch möglich sein, sich mit Schulthess auf gewisse Richtlinien zu einigen.
Gegen sieben Uhr abends gibt Musy Walther die Hand:
Ich bin bereit, im Bundesrat zu verbleiben und alles zu tun, um eine erspriessliche Zusammenarbeit zu fördern. Wollen Sie Herrn Dr. Motta und Herrn Bundespräsident Dr. Pilet umgehend von meinem Entschluss in Kenntnis setzen.
Walther dankt Musy «warm» und informiert Motta, der mit Musys Entschluss sehr zufrieden ist. Pilet ist schon gegangen, aber Walther trifft zufällig Häberlin, der es übernimmt den Bundespräsidenten, mit dem er am Abend noch zusammenkommt, zu orientieren. Alles scheint sich einzurenken.
Am späteren Abend sitzt Musy mit seiner Familie und ein paar befreundeten Journalisten zusammen. Madame Musy, der sehr rechts stehende Leiter der Agentur Schweizer Mittelpresse Samuel Haas und der später ins nationalsozialistische Fahrwasser abdriftende Berner Tagblatt-Chefredaktor Heinrich Wechlin raten zum Rücktritt. Madame Musy glaubt, dass der Rücktritt ihres Mannes auch den Sturz Schulthess nach sich ziehen werde. Wechlin prophezeit Musy für den Fall seiner Demission einen triumphalen Wiederaufstieg. Franz Wäger, Chefredaktor der Schweizerischen Katholischen Korrespondenz, ist gegenteiliger Meinung: «Wenn Sie morgen demissionieren, so wird sich weiter niemand um Sie kümmern und Sie sind übermorgen nichts mehr als ein gewöhnlicher schwarzer Freiburger.» Auch Musys älteste Tochter ist gegen den Rücktritt.
Donnerstag, 22. März 1934
Mit Unterstützung der Bauern und Sozialdemokraten wird Johannes Baumann mit 141 Stimmen zu 73 für Ludwig gewählt. Aus Trotz, weil die katholisch-konservative Fraktion sich für den Liberalen Ludwig ausgesprochen hat, portieren die Freisinnigen für die Ersatzwahl des zurückgetretenen Bundeskanzlers Käslin im letzten Moment Vizekanzler George Bovet, einen ehemaligen Parlamentsberichterstatter der Revue. Dank sozialdemokratischer Hilfe siegt der Freisinnige Bovet über Musys Schützling, den Freiburger katholisch-konservativen Vizekanzler Oskar Leimgruber – «Schleimgruber» wie ihn der verstorbene Bundesrat Scheurer unliebenswürdig zu nennen pflegte. Musys Wunschkandidaten sind von einer freisinnig-sozialistischen Ad-hoc-Koalition zu Fall gebracht worden.
Während in der Vereinigten Bundesversammlung die Wahlen vor sich gehen, tagt im Bundesratszimmer die Regierung und bespricht, wie man die zweite Kleine Anfrage Reinhard «in Sachen Leutnant Musy» beantworten soll. Der sozialdemokratische Vorstoss enthält neuen Zündstoff. So fragt Reinhard, ob Leutnant Musy im Dienst besondere Vergünstigungen erhalten und ob Bundesrat Musy dem Schulkommandanten am Telefon die gröbsten Vorwürfe gemacht habe.
Pilet will vom Bundesrat wissen, ob die Antwort auf Reinhard schon heute (Donnerstag) oder morgen (Freitag) erfolgen solle. Er selber möchte die Angelegenheit sofort erledigen. Minger und Motta ebenfalls. Pilet erläutert in groben Zügen, was er dem Nationalrat sagen will: Die Verfehlungen des Lt Musy seien nur geringfügig gewesen. Angesichts der beunruhigenden Mitteilungen des Hausarztes über den Gesundheitszustand seines Sohns sei die Aufregung von Bundesrat Musy verständlich gewesen. Immerhin bedaure der Bundesrat, dass Kollege Musy sich an die militärischen Vorgesetzten seines Sohnes gewandt habe, statt den Dienstweg einzuschlagen.
Musy gibt zu, dass er tatsächlich sehr aufgebracht gewesen sei, besonders, als er erfahren habe, dass vor einiger Zeit ein Rekrut gestorben sei, weil er nicht die richtige ärztliche Behandlung erhielt. Er habe zwar am Telefon energisch gesprochen, aber das Gespräch sei im Rapport des Schulkommandanten unrichtig wiedergegeben worden. Pilet bittet Musy um Ermächtigung zur Formulierung: «Herr Musy bedauert, dass er in der Aufregung etwas scharf gewesen sei.» Er fügt bei, eine sofortige Antwort auf die Kleine Anfrage würde zur Beruhigung beitragen. Er möchte sie schon am Nachmittag abgeben.
Musy möchte das Wort «scharf» durch «lebhaft» ersetzen. Vor allem will er, dass mit der Antwort zugewartet wird. Er möchte bis am Nachmittag über die Sache nachdenken und dann endgültig sagen, ob er mit der geplanten bundesrätlichen Antwort an Reinhard einverstanden sei. Die der Antwort Pilets zugrunde liegende Dokumentation müsse ergänzt werden. Man solle noch seinen Hausarzt befragen, der beim fraglichen Telefongespräch (in dem Musy die Vorgesetzten seines Sohns beleidigt hatte) zugegen war.
Hätte der Bundesrat Musys Wunsch stattgegeben, wäre in der am Freitag endenden Session nicht mehr Zeit für Pilets Antwort gewesen und sie hätte auf Juni verschoben werden müssen. Bis dann würden sich die Gemüter beruhigt haben. Der Bundesrat ermächtigt jedoch Pilet, dem Nationalratspräsidenten Johannes Huber mitzuteilen, er sei zur Beantwortung der Kleinen Anfrage Reinhard bereit. Um 11.35 Uhr ist die Wahlsitzung der Vereinigten Bundesratssitzung zu Ende. Pilet geht zu Huber und dieser setzt eine sofortige Sitzung des Rats an. Bundespräsident Pilet hat den ausdrücklichen Wunsch Musys auf Verschiebung eigenmächtig übergangen.
Schon um 11.55 Uhr wird die Sitzung eröffnet und Pilet äussert sich in einer fast einstündigen Rede zum Fall Leutnant Musy. Die Geschichte sei «aufgebauscht, übertrieben und verdreht» worden:
Hier nun, was genau passiert ist. Der junge Lt Musy ist als Instruktionsaspirant der Kavallerierekrutenschule in Aarau zugeteilt. Dazwischen absolviert er im September 1933 seinen regulären Wiederholungskurs, wobei er sich stark erkältet. Bei seinem Wochenendurlaub in Bern diagnostiziert Dr. Dardel, der Hausarzt der Musys, eine Bronchitis und verordnet Bettruhe. Nach ein paar Tagen nimmt Lt Musy seinen Dienst bei der Rekrutenschule wieder auf. Er logiert im vornehmen Aarauerhof, weil die junge Madame Musy dort abgestiegen ist. Instruktionsoffiziere sind nicht immer der gleichen Ordnung unterstellt, wie gewöhnliche Offiziere, und der Schulkommandant hat keinen Grund gesehen, die jungen Eheleute zu trennen.
Am 22. September erhielten die Offiziere den Befehl zu einer Nachtpatrouille. Dies ist nichts Ungewöhnliches. Der Sprechende hat viele solche Patrouillen gemacht und sie gehören zu den mühseligen und manchmal glorreichen Erinnerungen seiner Karriere. Nach einem 50-km-Parcours ist Leutnant Musy um 5 Uhr 45 zurück, schreibt seinen Rapport, legt seine Ausrüstung nieder – «seinen Tannenbaum, wie man gemeinhin sagt» –, frühstückt in der Kantine und begibt sich zu seiner Schwadron, deren Arbeit um 6.30 Uhr beginnt. Auf dem Weg begegnet er dem Veterinäroffizier, der sich darüber beklagt, dass die Pferde nicht in einem völlig befriedigenden Zustand zurückkamen. Ich muss nebenbei bemerken, dass ich noch nie von einem Veterinäroffizier gehört habe, dass man ihm die Pferde in gutem Zustand zurückgegeben habe. Er hat immer Kritiken anzubringen.
Im gleichen Ton setzt sich die weitschweifige Erzählung von Bundesrat und Oberstleutnant Pilet fort. Weil Leutnant Musy wegen seines Gesprächs mit dem Pferdearzt zehn Minuten zu spät kommt, erstellt sein Vorgesetzter beim Schulkommandant Rapport. Dieser verknurrt Leutnant Musy fürs Wochenende zum Dienst als Tagesoffizier. Sein Instruktor Hptm Straumann hatte 5 Tage Arrest beantragt.
Die Strafe war nicht besonders streng. Natürlich ist es für einen Offizier nicht angenehm, in der Kaserne zu bleiben, wenn die Truppe im Urlaub ist. Aber man benutzt dies allgemein, um sich auszuruhen und seine Korrespondenz zu erledigen. Alles nicht sehr schlimm. Der Leutnant schlug die Absätze zusammen und gehorchte. Am Dienstag taucht Dr. Dardel, der Hausarzt der Familie Musy, in Aarau auf und untersucht den Leutnant. Diagnose: Bronchitis, die man im Viktoriaspital in Bern kurieren solle, was dann auch geschieht.
Da er den Eindruck habe, die Kleine Anfrage und die Zeitungsartikel richteten sich nicht gegen den Leutnant, sondern gegen Bundesrat Musy, «werde ich Ihnen die Informationen liefern, die ich über die Haltung meines Kollegen M. le conseiller fédéral Musy habe».
Als er von der gesundheitlichen Gefahr hörte, die seinem Sohn drohte, machte er sich grosse Sorgen, wie Sie alle es an seiner Stelle auch getan hätten. Er telefonierte dem Schulkommandanten Oberst de Charrière und drückte sich mit einer Heftigkeit – vivacité – aus, die sich aus seiner Erregung erklärt. Ich bin überzeugt, dass, wenn es sich um jemand anderes als seinen Sohn gehandelt hätte, Herr Bundesrat Musy nicht so geredet hätte, wie er es tat. Er liess sich offensichtlich zu Äusserungen verleiten, die man nicht unter Kontrolle hat, wenn man sich in Furcht, Sorge und Beklommenheit – das Wort ist nicht zu stark – befindet, aber die man, bei mehr Kaltblütigkeit, lieber weggelassen hätte.
Pilet erzählt, wie es weiterging. Schulkommandant de Charrière erinnerte sich in einem Brief an Minger an die telefonischen Beschimpfungen Musys, die er wörtlich so wiedergibt: «Herr Oberst, ich kann nicht verstehen, wieso Sie in Ihrer Schule einen Flegel wie Hauptmann Straumann tolerieren können … Ich habe das Gefühl, dass man sich seit Beginn der Schule systematisch auf meinen Sohn eingeschossen hat, und auf mich, der sich bemüht, die Millionen für die Armee zu finden.» Musy schrieb auch Straumann einen beleidigenden Brief, in dem er es für wünschenswert erklärte, dass man ihn, der eine Gefahr für die Armee darstelle, «aus dem Instruktionsdienst entfernt, für den Sie weder die Qualitäten des Geistes und vor allem nicht die unerlässlichen Qualitäten des Herzens haben».
Zum Autor
Hanspeter Born, geb. 1938, Schulen in Bern, Dr. phil. hist.; Redaktor beim Schweizer Radio, USA-Korrespondent; Auslandchef der Weltwoche (1984–1997); Autor von Sachbüchern, darunter «Mord in Kehrsatz», «Für die Richtigkeit –Kurt Waldheim» sowie (mit Benoit Landais) «Die verschwundene Katze» und «Schuffenecker’s Sunflowers».
Straumann antwortete umgehend:
Als Chef des Eidgenössischen Finanz- und Zolldepartements und vor allem als Nichtmilitär ist es nicht Ihre Sache, meine Eignung als Instruktionsoffizier zu beurteilen. Im Übrigen verbietet mir die Achtung vor dem Amt, das Sie bekleiden, die direkte Aussprache mit Ihnen in der von Ihnen angeschlagenen Tonart fortzusetzen. (Kein Gruss.)
Pilet erzählt in seiner langen Rede weiter, dass Kollege Minger nach einer eingehenden Untersuchung der Sache zum Schluss gekommen sei, dass die von Musy angegriffenen Offizieren keine Schuld treffe. Allerdings müsse er Hptm Straumann wegen des Briefs an Bundesrat Musy bestrafen (Verweis und zeitweise Versetzung).
Als an dieser Stelle in Pilets Rede einzelne Nationalräte ihr Missfallen über die Bestrafung Straumanns mit Gemurmel ausdrücken, verlangt der Bundespräsident Ruhe:
Nur diejenigen, die nie in der Armee gedient haben und nicht wissen, was militärische Disziplin ist, staunen über die Bestrafung. Ein Soldat, der sich ungerecht behandelt fühlt, darf nicht Selbstjustiz üben, sondern muss auf dem Dienstweg Schutz suchen. Wer eine Unkorrektheit begeht, muss die Folgen tragen. Niemand hat das besser begriffen als Hauptmann Straumann, der sich fügte.
Sie werden mir sagen: «Und M. Musy?» Er war natürlich nicht Gegenstand der Untersuchung über die Vorfälle in Aarau. Es stimmt jedoch, dass er sich hat hinreissen lassen. Derjenige, der nie gesündigt hat, werfe den ersten Stein. Ich weiss nicht, was ich tun würde, wenn ich meinen Sohn in Gefahr glaubte. Zweifellos war Leutnant Pierre Musy weniger krank, als er sich einbildete. Aber stellen Sie sich die Besorgnis der Familie, des Vaters vor, Sie, meine Herren, die Sie in Ihrer Mehrzahl auch Familienväter sind! Vielleicht hätten Sie sich auch zu einem Augenblick der Heftigkeit gehen lassen, den sie als Erste später bereut hätten. M. Musy bereut selber seine Heftigkeit.
Pilet verteidigt auch den Gesamtbundesrat, dessen Antwort auf die erste Anfrage Reinhard nichts enthalten habe, «das nicht der Wahrheit entspricht».
Voilà, Messieurs, was ich Ihnen zu sagen hatte. Erlauben Sie mir eine Überlegung hinzuzufügen. Glauben Sie, dass es für Sie, für uns, für den Bundesrat und für das Land gut ist, wenn in den schwierigen Zeiten, die wir durchlaufen,… es angebracht ist, sich mit Fragen zu beschäftigen, von Fragen absorbieren zu lassen, wie die eben aufgeworfenen … Ist es angebracht, die öffentliche Meinung mit einer solchen Agitation zu beunruhigen? Ich für meinen Teil antworte Ihnen: Nein!
Was das Land braucht, sind nicht Fragen dieser Art und auch nicht Antworten wie diejenige, die Sie eben gehört haben, was es braucht, ist Ruhe, Einigkeit, Uneigennützigkeit und Solidarität (Beifall).
Damit ist die Kleine Anfrage erledigt. Schluss der Sitzung: 12.45 Uhr.
Pilet hat die Reifeprüfung als Bundespräsident bestanden. Er hat alle Klippen umschifft. Die Offiziersgesellschaft, die sich bei Minger beschwert hat, Minger selber, das Militärdepartement, der gesamte Bundesrat, die meisten Parlamentarier und die meisten Zeitungen sind von Pilets Rede beeindruckt. Der Obwaldner Ständerat Amstalden schreibt ihm am nächsten Tag und dankt ihm
für die ritterliche Art, wie Sie Herrn Bundesrat Musy im Nationalrat verteidigt haben. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen diese wahrhaft staatsmännische Tat bei dem katholischen Schweizervolk die grössten Sympathien eingebracht hat.
Hat Pilet Musy wirklich ritterlich verteidigt? Oder hat er ihm – bewusst oder unbewusst – den Dolch in den Rücken gestossen?
Musy jedenfalls ist ungehalten. Wie Markus Feldmann später aus zuverlässiger Quelle erfuhr, «besteht bei der Familie Musy eine Bombenwut auf Pilet, weil er überhaupt auf die Affäre Straumann eingetreten ist und die Beantwortung der bezüglichen Anfragen nicht auf die Junisession verschoben habe».
Um 15 Uhr tritt der Bundesrat erneut zusammen, um die Antwort auf drei Interpellationen über die Verhältnisse im Bundesrat zu besprechen. Telefonisch entschuldigt sich Musy. Er sei verspätet, weil er zu Hause Besuch habe. Kurz darauf taucht er im Bundeshaus auf und übergibt dem Ratspräsidenten sein Rücktrittsschreiben:
Während 14 Jahren war ich bestrebt, inmitten grösster Schwierigkeiten, die eidgenössischen Finanzen zu leiten. Da ich das dringende Bedürfnis zu einem längeren Erholungsurlaub empfinde, den ich im Hinblick auf die schwierigen Verhältnisse der Gegenwart nicht rechtfertigen könnte, bitte ich die Bundesversammlung, von meinem Rücktritt Kenntnis nehmen zu wollen.
Motta, gerade im Gespräch mit einigen Parlamentariern und Journalisten, kann sich den plötzlichen Rücktrittsbeschluss nur dadurch erklären, dass Musy am Ende seiner Nervenkraft angelangt ist. Man stehe vor einer bedauerlichen menschlichen Tragödie.
Tragödie? Musy sieht es anders. Freunden erklärt er, er sei überarbeitet gewesen und schalte deshalb auf Anraten seiner Ärzte und seiner Familie eine dreimonatige Ruhepause ein. Er ist überzeugt, dass er, getragen von einer Volkswelle, in naher Zukunft wieder in die Regierung zurückkehren werde.
Am Palmsonntag, 25. März, schreibt Häberlin in seinem Tagebuch von einer «Musy-Tragikomödie»:
Wenn er wirklich so abgehundet ist, wie er sagt, und das seinen Termin-Entscheid herbeigeführt hat, so fehlt ihm mein Mitleid nicht, denn geschuftet hat er wirklich unheimlich und technisch gut. Soweit er aber darauf ausging, auf dem Buckel seiner Kollegen sich einen triumphalen Abgang zu verschaffen – und das hat er vorbereitet –, ist er eben der gleiche unvertraute Kollege geblieben, der er seit etwa acht Jahren war. Ich habe ihm allerdings mit Pilet zusammen diese Versuche, den Gesamtbundesrat auf den Esel zu setzen, jeweils gestoppt.
- Jeweils sonntags wird der Roman «Politiker wider Willen. Schöngeist und Pflichtmensch» auf zeitlupe.ch fortgesetzt.
- Fotos und Dokumente zum Buch
- Diese Kapitel sind bereits erschienen
«Politiker wider Willen»
Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt.
«Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie über Marcel Pilet-Golaz.
Hanspeter Born, Politiker wider Willen. Pilet-Golaz – Schöngeist und Pflichtmensch. Münster Verlag 2020, gebunden, mit Schutzumschlag, 520 Seiten, ca.CHF 32.–. ISBN 978-3-907 301-12-8, www.muensterverlag.ch
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld; Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm; Printed in Germany